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Freiheit, Gleichheit und Eigentum

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 11. September 2013

Der Begriff der Freiheit ist in aller Munde. Mit der Eigentumsfreiheit wird er eher selten in Zusammenhang gebracht, es sei denn wie Anfang 2012, als Hedgefonds ankündigten, sie würden im Falle eines Schuldenschnittes in Griechenland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenreche in Strassburg die vollständige Rückzahlung ihrer Anleihen verlangen – unter Berufung auf die Eigentumsgarantie, wie sie im Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist.

Freiheit kann unterschiedlich definiert werden, wobei es immer um normative Vorstellungen geht. Eine normative Vorstellung sagt etwas darüber aus, wie die Dinge sein sollen – es steckt also eine Wertung oder ein Wille darin – im Gegensatz zur empirischen Feststellung, die auf der reinen Beobachtung beruht und keine Wertung oder keinen Willen beinhaltet, oder dies jedenfalls nicht tun sollte. Tut sie es trotzdem, so verbirgt sich hinter der vorgeblich objektiven Umschreibung eben doch eine normative Absicht.

Vorstellungen von Freiheit
Die normativen Vorstellungen von Freiheit gehen weit auseinander. Am einen Ende der Skala findet sich die Überzeugung, Freiheit lasse sich am besten verwirklichen, wenn sich jeder Mensch so viel davon herausnehme, wie es ihm aufgrund der ihm eigenen Kräfte gelinge. Damit verfügt vor allem der Mächtige über Freiheit. Am anderen Ende lässt der Versuch, Macht mittels einer Tugenddiktatur oder mit autoritärem Zwang gleichmäßiger zu verteilen, Freiheit ebenfalls zur Illusion werden. Zwischen diesen Extremen liegen jene Vorstellungen von Freiheit, die sich mit der Idee der Demokratie verbinden. Allerdings decken auch diese Vorstellungen auf der normativen Skala ein relativ breites Spektrum ab. Auch demokratische Abläufe können so konzipiert sein, dass sie das Staatswesen möglichst daran hindern sollen, in die Verteilung der Freiheit einzugreifen. Wenn dies bewusst gewollt ist, soll der Stärkere in seiner Freiheit durch den Schwächeren möglichst wenig beeinträchtigt werden. Auch so verstandene Freiheit kann sich demokratisch legitimieren.

Hier soll eine normative Vorstellung demokratischer Freiheit beschrieben werden, welche auch die Machtunterschiede selber thematisiert. Die Umsetzung dieser Vorstellung institutionalisiert Freiheit demokratisch, verbindet den Begriff der Freiheit aber mit jenem der Gleichheit. So verstandene Freiheit ist dann legitim, wenn Gleichberechtigte – direkt oder über ihre Vertreter – miteinander aushandeln, worin sie konkret bestehen soll. Dabei findet die Freiheit des Einen ihre Grenzen an der gleichen Freiheit des Anderen. Gleichheit ist also von Anfang an ein Teil der Freiheit, oder anders gesagt bildet die Gleichheit geradezu ein konstituierendes Element der Freiheit.

Gleichheit erfüllt in der Demokratie verschiedene Funktionen. Wenn sich in einem bestimmten geografischen Raum die Menschen ein demokratisches Gemeinwesen erschaffen und sich deshalb eine Verfassung geben, müssen sie sich vor allen anderen Schritten gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen. Heute kommt diese Funktion der Gleichheit im Grundsatz zum Ausdruck, dass jede Person eine Stimme haben soll, die Wahlberechtigung also für alle die gleiche ist. Demokratie kann sich auf diese Funktion der Freiheit beschränken, wenn dies die Beteiligten so wollen. Dann kann es durchaus sein, dass Gleichheit bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Freiheitsrechte keine grosse Rolle mehr spielt. Die hier vertretene normative Vorstellung der Freiheit geht hingegen davon aus, dass die Gleichheit auch danach von Bedeutung ist.

Das zweite Ende des Kalten Krieges
Diese Form der Institutionalisierung fand die Freiheit erstmals in der Französischen Revolution, konkret in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Seit 1948 werden Freiheitsrechte durch völkerrechtliche Verträge auch international institutionalisiert. Allerdings wurden sie schon bald zum Gegenstand einer grundsätzlichen Konfrontation im Rahmen des Kalten Krieges. Insbesondere das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit war sehr umstritten. Der Westen betonte vor allem jene Rechte, die den Einzelnen vor Übergriffen des Staates schützen. Der Osten stellte die Sozialrechte in den Vordergrund. „Keine Freiheit ohne Gleichheit“ hiess es im Osten. Dem stellte der Westen „Keine Gleichheit ohne Freiheit“ gegenüber. Gleichheit und Freiheit wurden fortschreitend als potentielle Alternativen stilisiert.

Dennoch erfuhren die Sozialrechte in Westeuropa einen beispiellosen Aufschwung. Im Schatten der beiden grossen Akteure des Kalten Krieges entwickelten alle westeuropäischen Länder Komponenten der Sozialstaatlichkeit, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität. Sie führten gleichsam den Tatbeweis des Westens gegen die Reden aus dem Osten. Dies war umso notwendiger, als diese Reden in der Praxis der Oststaaten Lügen gestraft wurden, lebten die Menschen doch vielerorts in bitterem Gegensatz dazu.

In der Schlussphase des Kalten Krieges verstärkten sich im Westen neoliberale Strömungen, die dem westlichen „Keine Gleichheit ohne Freiheit“ eine neue Färbung gaben. Hatte der Osten sein „Keine Freiheit ohne Gleichheit“ schon immer so interpretiert, dass die Freiheit ignoriert wurde, verschwand in der neoliberalen Zuspitzung umgekehrt die Gleichheit. Nun wurden die dem Westen zugeordnete Freiheit und die dem Osten zugeordnete Gleichheit als unüberwindbarer Gegensatz dargestellt. Das Eine sei nur auf Kosten des Anderen zu haben, kamen West und Ost unabgesprochen überein. Der Kalte Krieg hat in seiner Endphase einen klaren Blick auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit verunmöglicht. Nach 1990 haben einige die Implosion der Sowjetunion sogar gleichgesetzt mit der Implosion der Gleichheit als solcher.

Diese Sicht hat die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg immer noch geprägt. Heute wird der Blick auf das gesamte Spektrum der normativen Vorstellungen langsam wieder möglich. Deshalb ist es auch wieder möglich, von jenem normativen Freiheitsverständnis zu sprechen, welches die Gleichheit als ein konstituierendes Element der Freiheit betrachtet. In Europa erlebt man gleichsam ein zweites Ende des Kalten Krieges.

Gleichheit macht Freiheit zum Prozessgeschehen
Demokratisch verstandene Freiheit macht es sich zur Aufgabe, jedem Bürger und jeder Bürgerin die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung in der Realität zu ermöglichen. Zunächst muss sichergestellt werden, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen an der öffentlichen Meinungsbildung beteiligen können. Dazu braucht es ein öffentliches Schulwesen, das sich an republikanischen Bildungsidealen orientiert, Medienfreiheit sowie freien Informationszugang. Auch minimale Subsistenzmittel sind Vorbedingung für die demokratische Beteiligung. Über diesen „republikanischen“ Aspekt der Gleichheit hinaus ist jedoch auch ihre inhaltliche Wirkung von Bedeutung. Dabei geht es um Fragen von Einbezug und Ausschluss, und dies in zweierlei Hinsicht.

Zum einen haben Menschen immer ungleiche Möglichkeiten, von der Freiheit Gebrauch zu machen, selbst dann, wenn die Bedingungen von außen betrachtet als ähnlich erscheinen. Ererbte ökonomische und bildungsmäßige Ungleichheiten, Randbedingungen des Erziehungswesens, des Wirtschaftslebens und unterschiedlicher familiärer Lebensbedingungen können als Ursachen genannt werden. Jedes demokratische Gemeinwesen muss sich darauf einigen, wie stark es den ungleichen Möglichkeiten des Freiheitsgebrauches entgegenwirken will, zum Beispiel durch Einschränkungen einer übermäßigen Freiheitsausübung durch besonders mächtige Personen oder durch das Aufspannen von Sicherungsnetzen durch die Sozialgesetzgebung. Aber auch wenn ein Gemeinwesen hier relativ weit geht, entstehen in der Lebenspraxis doch immer wieder neue Ungleichheiten, wenn zum Beispiel Personen zwar im Aushandlungsprozess vertreten waren, nachträglich aber durch die sozialen Netze fallen. Es entstehen neue Kategorien von Ausgeschlossenen, und dieser Ausschluss ist einer nach innen.

Zum anderen gibt es den Ausschluss nach außen. Die Gleichheit kann bereits im ursprünglichen Aushandlungsprozess missachtet worden sein. So hat die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte den Frauen die politischen Rechte noch nicht gewährt. Ein anderes historisches Beispiel ist der Ausschluss der Sklaven und der Schwarzen in den Vereinigten Staaten. Ausgeschlossene Gruppen verlangen früher oder später ihren Einbezug nicht nur in die Freiheitsrechte, sondern auch in den Aushandlungsprozess für diese Rechte. Dieser Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen.

Freiheit grenzt immer wieder aus, wobei die Ausgrenzungen neu sein oder seit Beginn bestanden haben können. Sobald sie sichtbar oder bewusst werden, setzt im Bewusstsein die Infragestellung dieser Grenzen ein. Ihr Abbau wird nicht nur möglich, sondern das neue Bewusstsein macht diesen Abbau auf längere Sicht sogar unumgänglich, wenn nicht die mit der Gleichheit verbundene Freiheit selbst zum Einstürzen kommen soll. So gesehen ist Freiheit ein nie endender Prozess, bei dem Gleichheit immer wieder angestrebt, aber nie erreicht wird. Motor dieses Prozesses ist ein Übermass an Ungleichheit. Jede Neuaushandlung der Freiheit muss die Frage beantworten, wie viel Gleichheit notwendig sei. Vor allem aber geht dieses normative Verständnis demokratischer Freiheit davon aus, dass Freiheit immer wieder neu ausgehandelt werden kann. Es ist kein statisches, sondern ein prozessuales Verständnis von Freiheit, welches den gesellschaftlichen Zuständen Rechnung trägt, die sich selber stetig verändern.

Die grösste Anforderung an die Beteiligten besteht darin, den Prozess in gewaltfreie Bahnen zu lenken. Und unter „Beteiligten“ werden hier alle verstanden, die Nicht-Ausgeschlossenen wie auch die zunächst noch Ausgeschlossenen. Für die Nicht-Ausgeschlossenen besteht verständlicherweise eine gewisse Verlockung, den Prozess zum Erliegen zu bringen, notfalls unter Gewaltanwendung. Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, dass Bestrebungen zur Überwindung von Ungleichheit für Jahrzehnte zum Schweigen gebracht worden sind. Aus der Geschichte hat man aber auch die Lehre ziehen können, dass dies unausweichlich zu Revolutionen führt, Gewaltanwendung also von der unterdrückten Seite. Letztlich ist der Prozess eben nicht aufzuhalten.

Der Prozess ist ein politischer
Die Neuaushandlung der Freiheit betrifft immer die Grenzen, die der Freiheitsausübung durch den Einzelnen gesetzt werden sollen. Denn es sind ihre Grenzen, welche die Freiheit des einen mit der Freiheit aller anderen kompatibel machen. Grenzen der Freiheitsrechte finden sich in der gesamten Rechtsordnung, zum Teil bereits in den Grundrechtskatalogen der Verfassungen oder internationaler Menschenrechtsdokumente selber. Vor allem aber sind sie in einer Vielzahl von Gesetzen niedergelegt. Sie machen den Rahmen aus, in welchem sich unser Leben abspielt. Sie ermöglichen unsere Freiräume, indem sie unsere eigenen und die Freiräume der anderen begrenzen, und zwar in gleicher Weise.

Gesetze werden in einem demokratischen Prozess vom Gesetzgeber erlassen, also von einem Parlament. Parlamente sind demokratisch gewählt, also nach dem Prinzip „Eine Person hat eine Stimme“. Völkerrechtliche Verträge werden von den nationalen Parlamenten immerhin genehmigt, EU-Recht wird teilweise sogar vom direkt gewählten Parlament mitgestaltet. Auch der Freiheitsprozess ist deshalb immer ein politischer Prozess, der durch politische Wahrnehmungen und Stellungnahmen vorangetrieben wird. Dies gilt sowohl für die Ausgrenzungen nach außen, als auch für die Ausgrenzungen nach innen. Werden ganze Gruppen vom Aushandlungsprozess ausgeschlossen, manifestieren sie sich politisch und verlangen zunächst gehört und schließlich als gleiche anerkannt zu werden. Dasselbe gilt für Ausgrenzungen nach innen, wenn also für einzelne Gruppen unversehens die tatsächlichen Voraussetzungen für den Freiheitsgebrauch nicht mehr erfüllt sind.

Dieser politische Freiheitsprozess kann nicht an Gerichte delegiert werden. Zwar hat die Justiz zur Wahrung der Freiheit eine wichtige Funktion, indem auch sie die Grenzen von Freiheitsrechten näher bestimmt. Insbesondere kann es Fälle geben, in welchen die Ausübung eines Freiheitsrechtes die Ausübung eines anderen Freiheitsrechtes in Frage stellt, so dass zwischen konkurrierenden Ansprüchen entschieden werden muss. Aber Gerichte handeln nur im Einzelfall, sie können den politischen Aushandlungsprozess nicht ersetzen. Sie können bereits geschehene Rechtsakte darauf hin überprüfen, ob sie festgeschrieben Grund- oder Menschenrechten widersprechen. Aber sie können aus Verfassungs- und Gesetzestexten nicht etwas herauslesen, das nicht drinsteht. Gesetzgebung und erst recht Verfassungsgebung müssen aus dem politischen Prozess hervorgehen.

Noch weniger kann der Freiheitsprozess an Experten delegiert werden. Experten stellen dem politischen Prozess zwar ihre Erkenntnisse zur Verfügung. Diese müssen aber immer politisch hinterfragt und gewertet werden. Expertenwissen zeichnet sich dadurch aus, dass es auf einen Wissensstand abstellt, der dem Normalbürger und der Normalbürgerin nicht zugänglich ist. Wenn die demokratische Meinungsbildung durch Expertenwissen ersetzt wird, geht man – was die Freiheit anbelangt – von der Vorstellung aus, die Freiheit sei ein für alle mal erkannt und festgeschrieben. Nur besonders ausgebildete Personen seien in der Lage, sich dieses Wissen anzueignen und es für andere gleichsam zu „übersetzen“. Das sind statische Freiheitsvorstellungen, die sich genau jenem Freiheitsprozess entgegenstellen, der hier beschrieben wird. Im übrigen sind solche statischen Freiheitsvorstellungen auch bewusst so gedacht und konzipiert worden, in vergangenen Jahrhunderten ebenso wie noch heute. Heute schreiben solche Vorstellungen durch ihre Statik in einer sich wandelnden Gesellschaft einen ungerecht werdenden status quo fest.

Vermehrbare und nicht vermehrbare Güter
Ein Nullsummenspiel ist das Neuaushandeln von Freiheit unter dem Aspekt der Gleichheit im Grundsatz jedoch keineswegs. So verstandene Gleichheit geht nicht auf Kosten der Freiheit, wie man es Ende des Kalten Krieges hat glauben machen wollen, im Gegenteil. Die Neuaushandlung setzt voraus, dass sich die Beteiligten als Freie und Gleiche gegenseitig anerkennen. In der Aushandlung repräsentieren deren Vertreterinnen und Vertreter nicht nur den Anspruch auf Gleichheit, sondern auch einen ungeheuren Zuwachs an Bewusstsein von Freiheit. Diskussion und Verständigung über Freiheit fördern schon an sich die Fähigkeit, frei zu sein. Dies ist gleichsam der republikanische Aspekt der Freiheit, bei dem es sich um ein vermehrbares Gut handelt. Auch wenn der Ausgang des „arabischen Frühlings“ noch sehr ungewiss ist, so haben doch gewisse Momente in diesem Geschehen eindrücklich aufgezeigt, wie die Vermehrung dieses Gutes konkret vor sich gehen kann.

Nun gibt es aber auch nicht vermehrbare Güter, und für diese stellt sich die Frage anders. Die Differenzierung der drei Generationen von Grund- und Menschenrechten kann die Unterscheidung zwischen vermehrbaren und nicht vermehrbaren Gütern deutlich machen. Die Freiheit vom Staat, wie sie zum Beispiel in der Gewissens-, Versammlungs- oder der Pressefreiheit zum Ausdruck kommt, ist vermehrbar. Die Freiheit im Staat, welche sich in den politischen Mitwirkungsrechten manifestiert, nimmt eine Mittelstellung ein: Sie ist zwar vermehrbar, aber der Einbezug bisher Ausgeschlossener vermindert den Einfluss bisher Privilegierter, wie man es vor einigen Jahrzehnten durch den Einbezug der Frauen hat erleben können. Hinsichtlich der sozialen Rechte schliesslich, welche sich mit der Freiheit durch oder mithilfe des Staates befassen, bricht die alte Streitfrage auf, ob man einen „nicht wachsenden Kuchen“ in kleinere Stücke schneiden und diese breiter verteilen soll, oder ob eine breitere Verteilung nur dann möglich sei, wenn der Kuchen „wachse“ und sich die breitere Verteilung auf den hinzugewachsenen Teil beschränke. Auch jenseits dieser Streitfrage kann jedenfalls nicht bestritten werden, dass gewisse Güter unvermehrbar sind, weil es die Natur so vorgibt oder weil Wachstumsprozesse in einem bestimmten Zeitpunkt an ein natürliches Ende gelangen können. Auch im Zusammenhang mit dem Eigentum steht die nichtvermehrbare Freiheit im Vordergrund, illustriert eindrücklich durch die berühmte Äusserung Rousseaus über den ersten Menschen, der „ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: Dies ist mein“ (in „Discours sur l’inégalité“, 1755).

Dennoch hat die Eigentumsfreiheit auch einen republikanischen Aspekt vermehrbarer Freiheit, und dies vor allem im Bereich des politischen Bewusstseins. Hätte man während des Kalten Krieges im Westen die mit der Gleichheit verbundene normative Freiheitsvorstellung thematisiert und sie insbesondere auch auf die Eigentumsfreiheit bezogen, wäre mit grosser Wahrscheinlichkeit lediglich ein Streit über das Begriffspaar Staatswirtschaft-Privatwirtschaft entstanden. Die Machtfrage wurde vorwiegend in militärischen Kategorien erörtert, und die zwischen den Blöcken in Stellung gebrachten Wirtschaftssysteme reduzierten sich in der beschriebenen Weise auf den unvereinbaren Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit. Wie bereits erwähnt verschärfte sich diese Sicht der Dinge nach dem Ende des Kalten Krieges sogar noch, dies infolge der Gleichsetzung der Implosion des Ostblockes mit der Implosion der Gleichheit durch einen Teil der neoliberalen Kommentatoren. Schon das Bewusstsein, dass nach dem zweiten Ende des Kalten Krieges in Europa auch die Eigentumsfreiheit zu jenen Bereichen gehört, welche in den Freiheitsprozess mit seiner immer wieder Neujustierung von Freiheit und Gleichheit einbezogen werden können, ist ein politisch wichtiges Basisgut, und dieses ist durchaus vermehrbar.

Konsequenzen für die Eigentumsfreiheit
Die normative Vorstellung, welche die Gleichheit als konstituierendes Element der Freiheit miteinbezieht, führt im Zusammenhang mit der Eigentumsfreiheit zu brisanten Fragen. Die Aktualität der Neubegrenzung und damit einer Neuaushandlung liegt auf der Hand. Auf den Finanzmärkten haben einige die Eigentumsfreiheit in einer Weise in Anspruch genommen, die zu Erschütterungen ganzer Volkswirtschaften geführt hat. Banken und Finanzmärkten werden nun durch die Gesetzgebung auf verschiedenen Ebenen neue Grenzen gesetzt. Dadurch wird die ungleiche Beanspruchung der Eigentumsfreiheit etwas eingedämmt – eine sehr bescheidene Neujustierung der Freiheit aufgrund ihrer Gleichheitskomponente.

Die aktuelle Herausforderung ist umfassender und besteht darin, dass sich alle Volkswirtschaften mit dem Auseinanderklaffen in der Verteilung von Einkommen und Vermögen auseinandersetzen müssen, wenn auch unter unterschiedlichen Voraussetzungen. In der Schlussphase des Kalten Krieges wurde im Westen ein „Gleichheits-Bashing“ betrieben, welches noch zwei Jahrzehnte nachwirkte. Es hat in allen Volkswirtschaften zu einer zunehmenden Entsolidarisierung geführt. Dass es unterschiedliche Modelle der gesellschaftlichen Organisation von Solidarität gibt, kann nicht bestritten werden. Auch ist ein Übergang von weniger effizienten zu effizienteren Modellen sinnvoll.

Dessen ungeachtet sind aber flächendeckend vergleichbare Phänomene zu beobachten. So zum Beispiel die Renaissance eines ideologisierten Begriffes der „Eigenverantwortung“, welcher den gezielten Ausschluss bestimmter als „Risiko“ veranschlagter Lebenssituationen aus den sozialen Absicherung verbrämen soll. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verherrlichung des sogenannten „Allein-Unternehmertums“, ein Modell der Beschäftigung Arbeitsloser unter Umgehung des Arbeitnehmerschutzes.

Ein weiterer Faktor, der die Frage nach der Verteilung der Eigentumsfreiheit in den kommenden Jahrzehnten brisanter werden lässt, liegt in der weltweiten Verknappung von Ressourcen begründet. Zuvor Ausgeschlossene werden verlangen, in die globalen Aushandlungen einbezogen zu werden. Die Einsicht, dass sich dies in einen Prozess der Freiheit einordnet, der – in einem normativ mit der Gleichheit verbundenen Freiheitsverständnis – seit der Französischen Revolution ununterbrochen im Gange ist, könnte zu einem weniger verkrampften Umgang mit solchen Forderungen beitragen.

Rückwirkungen auf die Demokratie
Mit der Französischen Revolution wurde Gleichheit zu einem konstituierenden Element der Demokratie, im Unterschied zum antiken Demokratieverständnis, welches die demokratische Meinungsbildung einer Gruppe von Privilegierten vorbehalten hatte. Im beschriebenen Prozess wurden die zunächst noch Ausgeschlossenen in die demokratische Meinungsbildung einbezogen, und auf verschiedenen Ebenen ist der Prozess nach wie vor im Gange.

Wie eingangs erwähnt umfasst das heutige Demokratieverständnis aber ein breites Spektrum. Zwar basieren alle Demokratievorstellungen auf dem Prinzip „eine Person eine Stimme“. Unterschiedlich sind jedoch die Vorstellungen darüber, welche Bereiche überhaupt Gegenstand der demokratischen Einflussnahme sein und welche demgegenüber der Regelung durch Marktmechanismen überlassen werden sollen. Darin kommen unterschiedliche normative Konzepte der Verteilung von Freiheit zum Ausdruck. Die möglichst uneingeschränkten Freiheit der Stärkeren steht dem Konzept gegenüber, welches Gleichheit als konstituierendes Element der Freiheit versteht.

Im politischen Alltag äussern sich diese Gegensätze oft unter dem Stichwort „Umverteilung“, worunter die nachträgliche Korrektur von Ungleichheiten verstanden wird, wie sie sich aufgrund der markt- oder machtgesteuerten Verteilung von Einkommen und Vermögen ergeben haben. Ohne die Notwendigkeit dieser Diskussion und entsprechender Forderungen in Frage stellen zu wollen, geht der hier vertretene Denkansatz eine Stufe tiefer und seine Implikationen sind langfristiger. Bestimmt sich die Verteilung von Besitz und Eigentum ausschliesslich oder weitestgehend durch Marktmechanismen, kommt es zu einer zunehmend ungleichen Verteilung und bietet sich der Umverteilungsansatz als einzige Möglichkeit an, die Ungleichheit etwas abzumildern.

Anders sind die Voraussetzungen, wenn die Eigentumsfreiheit als solche bereits in einem demokratischen Prozess definiert wird, und zwar aufgrund eines normativen Freiheitsverständnisses, welches die Gleichheit miteinbezieht. Damit setzt die Diskussion nicht nur über dieser Freiheit, sondern auch über deren Grenzen in einem früheren Zeitpunkt ein. Dem Einbezug der Eigentumsfreiheit in diese politische Auseinandersetzung kommt ein grosser Stellenwert zu. Wird die Verteilung von Einkommen und Vermögen allein den Marktkräften überlassen, ergibt sich ein Auseinanderklaffen von Arm und Reich, das sich dem Umverteilungsansatz leicht entziehen kann.

Die Ausklammerung des Gleichheitsaspektes im ökonomischen Bereich tangiert auch die Gleichheit in den demokratischen Abläufen und zieht die Demokratie in Mitleidenschaft. In einer etwas anderen Konstellation erhellt dies zur Zeit aus der besonderen Situation, welche sich in der Europäischen Union ergeben hat. Deren Ziel war und ist die Friedenssicherung durch wirtschaftliche Beziehungen, eingebunden in eine sich langsam entwickelnde politische, und damit demokratische Union. Nachdem dies über Jahrzehnte jedenfalls im Grundsatz funktioniert hat, droht sich der als Integrationsfaktor konzipierte ursprüngliche Primat der ökonomischen Beziehungen in sein desintegrierendes Gegenteil zu verkehren, weil die Marktkräfte im Rahmen der Globalisierung zu einem alles dominierenden Faktor geworden sind. Das ökonomische Nord-Süd-Gefälle hat bereits dazu geführt, dass Bewegungen der artikulierten Politikverdrossenheit grossen Zulauf haben, deren nationalistische Ausrichtung kaum zu übersehen ist. Die Politik ist deshalb gefordert, nicht nur wirtschaftlich neue Antworten zu geben, sondern vor allem auch der demokratischen Meinungsbildung einen grösseren Stellenwert einzuräumen, und dies gerade im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Fragestellungen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Universität der italienischen Schweiz; Prof. em. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. em. Dr. Dr. h.c. Beat Sitter-Liver, Philisophischer Ethiker, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

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