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Sind wir Egoisten?

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Ökonomen sagen, wir seien Egoisten und das sei gut so. Denn der Markt sorge dafür, dass dann, wenn jeder nur nach seinem eigenen Vorteil strebe, aus dem Tausch unserer Leistungen das allgemeine Wohl entstehe. Also: weil ich viel Geld verdienen will, arbeite ich gut und gebe mein Bestes – weil sonst ein anderer kommt, der es besser macht und mich von meinem Platz verdrängt. Menschen lassen sich durch Anreize steuern. Sie leisten mehr, wenn man ihnen verspricht, ihre Bedürfnisse besser zu befriedigen. Mehr Lohn, zusätzliche Boni, mehr Ferien oder persönliche Anerkennung – alles kann als Anreiz dienen, um den Einzelnen zu grösserer Leistung am Markt anzuspornen.

Der Markt wird so als ein Mittel zur individuellen Vorteilsmehrung begriffen. Der Markt ist mein Freiraum, in dem ich meine Interessen maximal verwirklichen kann. Hier zählen nur mein eigener Wille und mein eigenes Können. Hier darf ich mich in die Mitte stellen. Die andern sind entweder Mittel für meine Zielverwirklichung oder Gegner, die ich übertrumpfen muss, um zu gewinnen. Mittel sind sie, wenn ich sie anstelle oder ihnen etwas verkaufe, Gegner, wenn sie meine Konkurrenten sind. Erfolgreich bin ich, wenn ich die andern richtig einschätze und ihnen jene Rolle zuzuweisen vermag, die ihnen nach meinem Plan zusteht. Alles ist Strategie.

Der Markt wird so allerdings nur aus der Froschperspektive eines egoistischen Individuums betrachtet. Wissenschaftlich wird diese Perspektive zwar als „methodologischer Individualismus“ verbrämt, aber das ändert nichts an ihrer Einseitigkeit. Schon das einzelne Tauschgeschäft, mehr noch der gesamte Markt kann nie nur vom einzelnen Subjekt her begriffen werden, sondern ist immer als Austausch, also als zwischenmenschliche Beziehung anzusehen. Dann wird die individuelle Vorteilsmehrung zu einem blossen Aspekt dieser Beziehung, der Markt aber zu einer Institution der wechselseitigen Interessenbefriedigung. Er bleibt zwar ein Freiraum, aber ein kollektiver. Er ist ein Ort gegenseitiger Verpflichtung. Erst aus dieser Verpflichtung dem anderen gegenüber entsteht meine Freiheit. Denn mein eigenes Interesse kann ich nur dadurch verfolgen, dass ich mich mit dem anderen zusammenschliesse: zum Austausch unserer gegenseitigen Interessen. Dabei geht es nur sekundär  um die Nutzenmaximierung eines jeden. Primär ist das Komplementärverhältnis, in dem zwei Partner gegenseitig zur Realisierung der legitimen Interessen der jeweiligen anderen Seite beitragen (so der Frankfurter Philosoph und Sozialforscher Axel Honneth).

Auch im Markt ist der andere also nicht Begrenzung, sondern Bedingung meiner Freiheit: Nur dank ihm und seiner Bereitschaft, sich mir gegenüber zu verpflichten, kann ich meine Freiheit ausüben. Der Tausch – der Kern jedes Marktgeschäftes – ist sogar der Inbegriff der Gegenseitigkeit. Auch im Markt sind wir einander primär Partner, nicht Mittel oder Gegner. Wer uns also auf reine Nutzenmaximierer reduziert, unterschlägt die Kooperation und damit die Solidarität, die Voraussetzung jedes Wettbewerbs darstellt.

Freiheit ist nur als Ganze zu haben, mitsamt ihren Verpflichtungen. Sie lässt sich auch nicht so aufspalten, dass sie nur für einen Teilbereich unseres Zusammenlebens gilt, während andere Lebensbereiche der Macht von Menschen über Menschen überlassen würden. Freiheit ist ein integrales Verhältnis gegenseitiger Anerkennung aller, kein Rosinenpicken verwöhnter Kinder.

Was der Ökonomismus hingegen unter Freiheit versteht, ist Rosinenpicken. Er beansprucht für den Markt eine Machtsphäre, keine Freiheit. Der Spielraum, den der Markt uns allen geben soll, wird zu einem Systemzwang, wenn wir die Doppelnatur jeder Freiheit nicht beachten: Freiheit ist immer zugleich Recht und Pflicht – Pflicht zur Anerkennung des anderen in seiner Freiheit. Ein Spielraum wird erst zum Freiraum, wenn wir das Spiel als gegenseitige Anerkennung von Pflichten regeln. Sonst wird das Spiel zum Machtspiel, in dem das Faustrecht gilt. Dann wird der Markt zum Krieg – ein Machtspiel, in dem nur wenige gewinnen, die meisten aber verlieren.

Die reine Nutzenperspektive des Individuums ist keine nachhaltige Grundlage für unsere Marktwirtschaft. Sie verletzt die Grundlage der Freiheit, die das Recht zur Maximierung meines Nutzens nur aus meiner Verpflichtung gegenüber den andern begründen kann. Ich muss meinen Freiheitsgebrauch immer vor den andern legitimieren. Mein Nutzenstreben ist nur möglich, solange die andern es anerkennen. Sie werden es nur so lange anerkennen, als sie darin ihren eigenen Anspruch auf Anerkennung nicht verletzt sehen. Und das ist eine Gerechtigkeitsfrage. In der offenen Gesellschaft gibt es keinen Nutzen ohne Gerechtigkeit.

Literaturhinweis: Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2011(insb. S. 317 ff.)

Dieser Text ist erstmals erschienen als Kolumne am 2. 6. 2012 in der Neuen Luzerner Zeitung.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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