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Thesen zur Entwicklung von Demokratie und Kapitalismus in der Schweiz

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I. Zum faktischen Machtverhältnis von Demokratie und Kapitalismus

1. Demokratie und Kapitalismus entwickeln sich auseinander
Die Analyse von Streeck trifft im Wesentlichen auch auf die Schweiz zu. Die Krisensymptome sind hier zwar weniger sichtbar, aber die ökonomische Rationalität dominiert auch unsere Gesellschaftsentwicklung. An sich ist die Schweiz in ihrer politischen Kultur stark von einem Republikanismus geprägt, der sich bis in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts auch als Konkordanz zwischen Demokratie und Kapitalismus ausgewirkt hat. So haben die bürgerlichen Parteien, die das Kapital vertreten, ihre Macht nie voll ausgenützt, sondern den Interessen der linken Parteien stets eine Stimme gewährt. Erst seither ist die Auseinandersetzung im Zuge der ökonomisch motivierten Deregulierung rücksichtsloser geworden. Demokratie wird seither immer mehr zum öffentlichen Nachvollzug wirtschaftlicher Zwänge. Unser Wohlstand ist ein goldener Käfig, der den Inhalt unserer politischen Freiheit begrenzt. Ausserhalb der KMU entwickelt sich ein internationales Management unserer Firmen, das keinen Bezug zur schweizerischen Politik und Geschichte mehr hat. Die schweizerische politische Kultur wird von diesem Management nur noch als Standortfaktor für die Wirtschaft einkalkuliert, aber nicht mehr mitgetragen. Die Nachkriegskonkordanz zwischen Wirtschaft und Politik erodiert.

2. Finanzkapital und Realwirtschaft entkoppeln sich
Das Finanzkapital hat sich vom Produktionsfaktor der Realwirtschaft zu einem selbständigen Produkt der Finanzmärkte entwickelt. In der Schweiz bildet es einen ausserordentlich grossen Wohlstandsgenerator, aber zugleich schafft es eine Verteilungsschere und ein gefährliches Klumpenrisiko. Die Wirtschaft (als Nutzniesser) ist nicht in der Lage, dieses Risiko zu tragen und verlagert es auf den Staat – die Steuerzahler. Es bildet sich eine Steuerungs- und Machtkaskade mit dem Finanzkapital an der Spitze, der Kapitalwirtschaft in der Mitte und dem Staat zuunterst.

3. Die Demokratie entlässt das Finanzkapital aus ihrem Steuerungsbereich
Seit der Deregulierungswelle (in der Schweiz als „marktwirtschaftliche Erneuerung“ v.a. seit den neunziger Jahren wirksam) betreibt die Schweiz eine Strategie der ökonomisierten Standortpolitik zur Optimierung ihrer Vorteile im Rahmen der Globalisierung. Sie erhöht ihre Wettbewerbsfähigkeit u.a. durch Steuersenkungen im Unternehmensbereich und mit Anreizen zur Wohnsitznahme durch reiche Ausländer. Bis zur Finanzmarktkrise von 2008 dereguliert sie den Finanzmarkt; seither beschränkt sie sich auf Massnahmen, welche keineswegs in der Lage sind, das Klumpenrisiko zu beheben. Das Finanzkapital – der Reichtum, der nicht aus Arbeit, sondern aus Kapitaltransaktionen erwächst – bleibt neben dem Realkapital – dem Reichtum aus Kapitaleinsatz in der Wirtschaft – einer der wichtigsten Faktoren des schweizerischen Wohlstands.

4. Das Finanzkapital steuert die Demokratie
Unternehmer haben mit ihrem Kapital schon immer Einfluss auf demokratische Entscheide in der Schweiz genommen. Sie haben aber auch Verantwortung für einen allseits tragbaren wirtschaftlichen und politischen Ausgleich getragen. Das nun immer mächtiger werdende Finanzkapital hat jedoch keinerlei Bindungen mehr an die Fragen eines gerechten Zusammenlebens im Land. Ein demokratischer Diskurs mit ihm ist nicht möglich. Seine einzige Form von „voice“ in der Demokratie ist die Drohung mit „exit“. Es kennt nur das Diktat von Gewinn und Verlust am Kapitalmarkt. Sein Index wird vom Indikator zum Diktator des Richtigen – auch für die schweizerische Demokratie.

Insgesamt hat sich auch in der Schweiz das Machtverhältnis zulasten der Demokratie und zugunsten des Kapitalismus verschoben.

 

II. Zum normativen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus

5. Der Liberalismus ist Teil des Problems
Das liberale Gesellschaftsbild ist in der Schweiz traditionell mit der überkommenen republikanischen Kultur verknüpft. Deshalb hat es einen Freiheitsbegriff gepflegt, der Raum für Verantwortung und soziale Rücksichtnahme bietet. Dennoch trägt es heute zur Entkoppelung von Demokratie und Kapitalismus bei. Das liberale Denken vertritt in all seinen Varianten eine kategoriale Trennung von Gesellschaft und Staat, wobei es dem Staat eine bloss subsidiäre Rolle zuspricht. Der private Bereich hat Vorrang vor dem öffentlichen Raum, die private Entfaltung ist das Ziel, die öffentliche Regulierung unseres Zusammenlebens ist stets rechtfertigungsbedürftig. Dafür liefert der moderne Individualismus gute Gründe. Problematisch wird diese gedankliche Struktur aber, wenn die Wirtschaft zum privaten Bereich geschlagen wird, wie das im Lichte von Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie meist geschieht. Dann überträgt sich der Vorrang der Gesellschaft auf die Wirtschaft. Diese erlangt so einen Vorrang vor dem Staat. Daraus erwächst unwillkürlich eine Subsidiarität der Demokratie gegenüber dem Kapital. Es entsteht ein Primat der Ökonomie vor der Politik.

Diese Denkstruktur hat auch in der Schweiz zu einer Dominanz der ökonomischen Variante des Liberalismus geführt. Auch hier haben sich die liberalen Kräfte mit einer rein ökonomischen Perspektive identifiziert und die republikanische Perspektive zunehmend verdrängt. Die Anhänger des ökonomisierten Liberalismus verstehen Demokratie nur als Form, politische Entscheide mittels Mehrheitsprinzip zu treffen. An einem solchen minimalistischen Demokratiebegriff gemessen stellt die geschilderte Entwicklung gar keinen Demokratieverlust dar. Das Problem lässt sich aus dieser Warte gar nicht erst erkennen.

6. Demokratie und Kapitalismus sind Lebensformen der Gesellschaft
Diese Sichtweise verdrängt aber bloss den Konflikt. Kapitalismus ist nicht nur eine Form von Marktwirtschaft und Demokratie ist nicht nur eine Form von politischer Herrschaft. Sie sind zwei konfligierende Gesellschaftskonzepte mit gegensätzlichen Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen. Für den Kapitalismus liegen die höchsten Werte in der Garantie des Eigentums und in der Wirtschaftsfreiheit. Er bekennt sich zur Marktgerechtigkeit – also dazu, dass jede Leistung am Markt zu ihrem höchsten Geldwert gehandelt werden soll. Für die Demokratie liegen die höchsten Werte in der individuellen Menschenwürde und in der kollektiven Selbstbestimmung. Sie bekennt sich zur sozialen Gerechtigkeit – also dazu, dass jeder Mensch ungeachtet seiner ökonomischen Leistung als gleichberechtigt anerkannt werden soll. Diese gegensätzlichen Konzepte des richtigen Zusammenlebens durchdringen einander und beanspruchen für ihre Rationalitäten Geltung bis in den Kernbereich der anderen Konzeption hinein. So wie der Kapitalismus in die Entscheidungsprozesse der Demokratie einzudringen sucht (Lobby, Angstpropaganda in Abstimmungsverfahren), will die Demokratie die Entscheidungsprozesse des Kapitals mitbestimmen (Wirtschaftsdemokratie, etwa durch Reform des Aktienrechts).

7. Die demokratische Freiheit hat Vorrang vor der Kapitalakkumulation
Die demokratische Freiheit ist eine Errungenschaft unserer von der Aufklärung geprägten Moderne und fusst auf liberalen Werten. Die Menschenwürde, die Grundidee des gerechten Zusammenlebens sowie die bürgerlichen Maximen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität verleihen ihr einen normativen Vorrang vor dem ökonomischen Anspruch auf Kapitalakkumulation. Der Kapitalismus ist daher demokratisch zu verfassen. Das Eigentumsrecht und die Wirtschaftsfreiheit sind kein Recht auf beliebige ökonomische Machtausübung über andere Menschen. Sie müssen einer sozialen und ökologischen Verantwortung unterstellt werden.

8. Die Schweiz hätte eine Chance, den Kapitalismus demokratisch zu verfassen
Nirgends wie in der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger das Recht, das Machtgefälle zwischen Kapitalismus und Demokratie zu ändern. Dass alle europäischen Regierungen, ungeachtet ihrer politischen Zusammensetzung, dem Finanzkapitalismus gleichermassen hilflos gegenüber stehen, ist kein Beweis dafür, dass dieser nicht demokratisch verfasst werden kann. Während in anderen politischen Systemen die Politiker durch Nichtwiederwahl abgestraft würden, falls sie eine mutige Reform beschliessen sollten, können die Stimmberechtigten in der Schweiz eine Einschränkung der Kapitalfreiheit selber beschliessen, so dass die Verantwortung für unangenehme Folgen des Beschlusses nicht der Politik angelastet werden könnte. In der Schweiz ist der Kampf zwischen Kapitalismus und Demokratie in erster Linie eine Bewusstseinsfrage. Nur so lange wie die Ideologie des unlimitierten Privateigentums nicht als Strategie des Kapitals zu seiner Machterhaltung durchschaut wird, ist kein Wandel möglich.

23. Januar 2014

Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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