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Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik jenseits der Wachstumsideologie

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Eine nachhaltige, mit der beschränkt belastbaren natürlichen Umwelt verträgliche Entwicklung lässt kein endloses Wirtschaftswachstum zu – sie muss folglich von diesem möglichst entkoppelt werden. So viel ist klar. Gleichwohl bemühen sich sämtliche Regierungen der Welt mehr oder weniger strikt um mehr Wirtschaftswachstum. Der Grund dafür ist ebenso klar: Ohne hinreichendes, d.h. den Produktivitätsfortschritt zumindest kompensierendes Wachstum drohen tendenziell katastrophale sozialökonomische Erscheinungen: wachsende (!) Arbeitslosigkeit, sich öffnende soziale Schere und entsprechende sozialstaatliche Folgekosten (Armut, Kriminalität, soziale Unruhen). Vom Wachstum hängt also unter den heute gegebenen Verhältnissen auch gesellschaftlich allzu vieles ab; es herrscht unter diesen Verhältnissen geradezu ein Wachstumszwang: Ohne ein den Produktivitätsfortschritt auffangendes Wachstum ist das historisch eh fortschreitend verblassende Ziel der „Vollbeschäftigung“ vollends illusorisch, doch ohne annähernde Vollbeschäftigung funktioniert die an die Erwerbsarbeit gekoppelte primäre Einkommensverteilung nicht.

Die Postwachstumsökonomie

Es geht daher weniger um die Frage, wie wir Wirtschaftswachstum bremsen können (d.h. welche „Treiber“ sich eliminieren lassen), als vielmehr um die umfassendere Frage, wie die angedeuteten sozioökonomischen Folgen „mangelnden“ Wachstums vermieden werden können. Meine These geht dahin, dass sozial verantwortbare Perspektiven einer Postwachstumsökonomie primär nicht wirtschaftspolitisch, sondern gesellschaftspolitisch, insbesondere einkommens- und eigentumspolitisch zu begründen sind.

Verdeckt wird die Klarsicht auf diesen Sachverhalt durch die realpolitisch noch immer ihr Unwesen treibende Wachstumsideologie. Diese unterstellt, Wirtschaftswachstum (fast) jeder Art sei „letztlich“ – wie angesichts offensichtlicher Verlierer in der marktwirtschaftlichen Dynamik gerne relativiert wird – „zum Vorteil aller“. Diese harmonistische Wachstumsgläubigkeit ist die dynamisierte Version der altliberalen, schöpfungstheologisch verwurzelten Metaphysik des freien Marktes und der ihr korrespondierenden ökonomistischen Gemeinwohlfiktion (vgl. dazu im Einzelnen Kap. 5 meiner „Integrativen Wirtschaftsethik“). Sie erlaubt es vermeintlich der Standardökonomik bis heute, das Problem einer rationalen Wirtschaftspolitik auf die effiziente Allokation (produktive Zuteilung) der wirtschaftlichen Ressourcen zu reduzieren und Fragen der gesellschaftlichen Distribution (Verteilung) auszublenden oder zumindest der effizienten Allokation nachzuordnen (als sozialpolitisch, also ausserökonomisch begründete Umverteilung). Symptomatisch für diese reduktionistische Logik ist das vordergründige Trilemma zwischen drei problematischen Alternativen:

–   entweder muss – auf Kosten der Umwelt – wirtschaftspolitisch voll auf (kaum je) „hinreichendes“ Wirtschaftswachstum gesetzt werden,

–  oder es wird – auf Kosten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit – eine massive sozialstaatliche Umverteilung zur Begrenzung der sozioökonomischen Probleme in Kauf genommen,

–  oder aber die real wieder zunehmende soziale Desintegration der sich „modern“ wähnenden Gesellschaft wird zynischerweise – auf Kosten der sozial Schwächeren – als strukturelle Voraussetzung für die Verteidigung des angeblich kollektiven Wohlstands und als „nötiges“ Opfer der nachteilig Betroffenen im globalen Standortwettbewerb hingenommen (Austeritätspolitik).

Die Gefahr dieser dritten „Lösung“ des Problems nimmt umso mehr zu, je stärker sich aufgrund des technologischen Produktivitätsfortschritts (strukturelle Arbeitslosigkeit) und des internationalen Standortwettbewerbs die Machtverhältnisse zugunsten der Kapitaleigner (Investitions- und Desinvestitionsmacht) verschieben. Die Gefahr ist auch umso grösser, je geringer das real erzielte Wirtschaftswachstum ausfällt, da dann die nötige Umverteilung nicht mehr aus den Zuwächsen finanziert werden kann, so dass diese die Besitzstände der Wohlhabenden in Frage stellt. Es droht somit ein historischer point of no return, wenn nicht rechtzeitig – d.h. bevor die demokratischen Verhältnisse allzu sehr von faktisch ganz anderen Machtverhältnissen verzerrt werden und nur noch „revolutionäre“ Umstürze etwas verändern können – die gesellschaftspolitischen Weichen in Richtung einer hinreichenden Entkoppelung der gesellschaftlichen Einkommensverteilung vom doppelt problematischen Wirtschaftswachstum gestellt werden. Dabei bedeutet „hinreichend“, dass nicht unbedingt eine radikale Lösung gesucht werden muss, die ebenso monistisch ist wie die alte Wachstumsideologie. Gesellschaftspolitisch ausgewogener und pragmatisch eher realisierbar dürfte ein neuer Mix verschiedener Ansätze zur Sicherung der Teilhabe aller am marktwirtschaftlich generierten „Sozialprodukt“ sein:

Bausteine für einen neuen gesellschaftspolitischen Mix

(1) Innovationspolitik: Mit systematisch gefördertem umwelttechnologischem Fortschritt (Effizienzaspekt) sowie der wirksamen Einpreisung ökologischer Knappheiten (Lenkungsaspekt) lässt sich ein moderates Wirtschaftswachstum in den Schranken der damit gesteigerten Umweltverträglichkeit weiterhin vertreten. Das generiert neue Arbeitsplätze in teilweise ganz neuen Branchen und bewirkt so einen ökologisch erwünschten Strukturwandel. Allerdings können sozialökologische Effizienzgewinne ihrerseits Arbeitsplätze und damit Einkommen in konventionellen Branchen gefährden. Zudem bleibt die Idee der vollständigen Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von zunehmender Ressourcenverknappung und Umweltüberlastung höchstwahrscheinlich eine utopische Wunschvorstellung. Somit sind unmittelbar arbeits- und einkommenspolitische Ansätze zur Verringerung des Wachstumszwangs – oder m.a.W.: als Voraussetzung einer Postwachstumsökonomie – unverzichtbar.

(2) Arbeitszeitpolitik: Eine gleichmässigere Verteilung der knappen Erwerbsarbeit und mit ihr der Erwerbseinkommen lässt sich erzielen durch eine fortschreitende Senkung der Normalarbeitszeit nach Massgabe des Produktivitätsfortschritts. Die so bewirkte strukturelle Arbeitsumverteilung galt in den Zeiten vor dem globalisierten Standortwettbewerb als „normaler“ Teil des sozioökonomischen Fortschritts. Je höher der erreichte Lebensstandard ist, umso sinnvoller wird es, die stetig steigende Produktivität (auch) in Form von wachsendem Zeitwohlstand statt (nur) von weiter steigendem Güterwohlstand zu nutzen. Da aber eine generelle Senkung der Normalarbeitszeit auch Wirtschaftsbereiche einschliesst, die mit dem allgemeinen Produktivitätsfortschritt nicht mithalten, werden dort aufgrund höherer Lohnstückkosten tendenziell die Preise steigen oder die Löhne sinken. Arbeitnehmer in Niedriglohnbereichen, die sich Zeitwohlstand eigentlich nicht leisten können, sind daher als Voraussetzung einer sozial verträglichen Verkürzung der Normalarbeitszeit auf einen Lohn- oder Einkommensausgleich angewiesen, was uns zum nächsten Ansatzpunkt führt.

(3) Lohnpolitik: Eine Reduktion der in vielen Firmen absurd hohen Lohnspannen zwischen höchsten und tiefsten Löhnen trägt zu einer gesellschaftlich gleichmässigeren Einkommensverteilung bei und stärkt so die Kaufkraft der breiten Bevölkerung – bei den beruflich Aktiven ebenso wie später bei den Rentnern. Soweit die Tarifpartnerschaft zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden zu einer volkswirtschaftlich tragfähigen Lohnpolitik nicht „freiwillig“ beiträgt, kann und muss diese durch gesetzlich bestimmte Mindestlöhne und maximale in Unternehmen zulässige Lohnspannen gestaltet werden; dies ebenso sehr aus Gründen der volkswirtschaftlichen Stabilität wie um der sozialen Gerechtigkeit willen.

(4) Grundeinkommenspolitik: Über die Reichweite der Lohnpolitik hinaus bietet sich – einkommenspolitisch radikaler – die partielle Entkoppelung der Einkommensverteilung von der Arbeitsplatz- und Lohnverteilung an. Dieser historisch über kurz oder lang anstehende Schritt reduziert den Wachstumszwang an der Wurzel des heutigen sozialen Problems in hochproduktiven Volkswirtschaften: der historisch überholten „industrialistischen“ Organisationsform der Gesellschaft. Ohne dass in der hier vertretenen Perspektive eines ausgewogenen Massnahmenmix sogleich der Schritt zu einem existenzsichernden bedingungslosen Grundeinkommen vollzogen werden müsste, befreit ein marktunabhängig gewährtes allgemeines Sockeleinkommen die Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger – nämlich in demokratisch zu bestimmendem Ausmass – vom existenziellen Zwang, sich permanent um fast jeden Preis am Arbeitsmarkt verkaufen oder aber das entwürdigende Stigma eines „Sozialfalls“ ertragen zu müssen.

Mit den Ansätzen (2), (3) und (4) wird der herkömmliche Sozialstaat, der kompensatorisch den nachweisliche „Bedürftigen“ oder Bezugsberechtigten im weitesten Sinn des Begriffs „Sozialhilfe“ gewährt, ursächlich entlastet. Das Gewicht der Einkommensverteilung zwischen Gewinnern und Verlierern im immer härteren Kampf auf dem Arbeitsmarkt wird generell zugunsten arbeits- und einkommenspolitischer Solidaritätskomponenten reduziert. Wesentlich ist es, alle genannten Ansätze als Formen der primären Einkommensverteilung zu begreifen. Es ist ja nur eine ideologische Vorentscheidung zugunsten einer idealisierten totalen Marktgesellschaft, allein die Verteilung über den Markt als „natürlich“, staatsfrei und damit „primär“ anzuerkennen, während Gestaltungsansätze einer rationalen Gesellschaftspolitik als interventionistische (d.h. nicht marktkonforme) Formen einer „sekundären“ Einkommensverteilung gebrandmarkt werden. Die gesellschaftliche Einkommensverteilung ist in jedem Fall, selbst wenn sie komplett den Marktkräften überlassen würde, insgesamt Ausdruck einer bewusst oder unbewusst gestalteten Einkommenspolitik.

Neben den Erwerbseinkommen und Sozialeinkommen (Transfereinkommen) sind auch die von der „Natur“ der Marktkräfte im Kapitalismus aus immer ungleicher verteilten Kapitaleinkommen in allen Formen (Zinsen, Dividenden, Wertsteigerungen von Anlagen) gesellschaftspolitisch gestaltbar und gestaltungsbedürftig. Die Einkommensverteilung wird hier indirekt auf dem Weg der Vermögensverteilung und des Eigentumsrechts beeinflusst. Dabei bieten sich noch einmal mindestens vier systematisch unterschiedliche Ansatzpunkte an:

(5) Steuerpolitik: Um das Privileg leistungsfreien Kapitaleinkommens im Verhältnis zu leistungsbasiertem Erwerbseinkommen (aus selbständiger ebenso wie aus unselbständiger Arbeit) ein Stück weit auszugleichen und die gesellschaftliche Desintegration in Schranken zu halten, sind Kapitalertrags-, Vermögens- und Erbschaftssteuern unverzichtbar. Der steuerpolitische Ansatz hat jedoch den Nachteil, dass er durch „kreative“ Methoden der Steuervermeidung (angeboten von der Finanz- und Treuhandbranche) gerade von den Wohlhabendsten und von mächtigen Konzernen massiv ausgehebelt werden kann. Zudem treibt im nationalen Alleingang betriebene Steuerpolitik das Kapital, dieses scheue Reh, in die Flucht, ist also auf globalisierten Märkten ohne internationale Steuerharmonisierung nur begrenzt durchsetzbar – die an sich höchst sinnvolle, aber bisher stets gescheiterte Finanztransaktionssteuer lässt grüssen. So ist der klassische Steuerstaat mehr und mehr zum Schuldenstaat geworden (Wolfgang Streeck, „Gekaufte Zeit“).

(6) Vermögensbildungspolitik: Während die Steuerpolitik (neben ihrer fiskalischen Funktion der Staatsfinanzierung) Mittel der sekundären Einkommens- und Vermögensverteilung ist, zielt eine aktive Vermögensbildungspolitik darauf, möglichst vielen Gesellschaftsmitgliedern neben dem Erwerbs- und/oder Transfereinkommen ein primäres Zusatzeinkommen in Form von Kapitalerträgen aus Vermögensanlagen (oder Realerträgen aus selbstbenutztem Wohneigentum) zu verschaffen. Im Gegensatz zum paternalistischen Wohlfahrtsstaat sozialdemokratischer Prägung nord- und mitteleuropäischer Provenienz steht dieser Ansatz eher in der angelsächsischen Tradition eines emanzipatorischen Bürgerliberalismus: Wenn schon Kapitalismus herrscht, dann sollen seine Früchte wenigstens zu einem – wiederum demokratisch zu bestimmenden – Anteil sämtlichen Gesellschaftsmitgliedern zufallen. Das Risiko von Einkommensmangel wird damit für alle Bürger diversifiziert: Wer auf zwei finanziellen Beinen steht, fällt weniger leicht um. Sogar eine Austeritätspolitik, welche die Kapitalerträge mittels Druck auf die Arbeitseinkommen sichert, käme dann wenigstens ein Stück weit allen zugute, soweit sie Kapitaleigner sind.

(7) Eigentumsrecht: Systematisch noch einen Schritt weiter geht die Idee, allen Gesellschaftsmitgliedern ein wirtschaftsbürgerliches Grundrecht auf ein Bürgerkapital zu gewährleisten. Verfassungsrang hätte demnach ein Eigentumsrecht, das nicht nur den mehr oder weniger unantastbaren Schutz des vorhandenen privaten Eigentums, sondern auch das allgemeine Recht auf ein bestimmtes (Sockel-)Eigentum umfasst. Begründen lässt sich diese ebenfalls angelsächsisch-liberale Idee als faire Partizipation aller Bürger an dem von den vorangehenden Generationen kollektiv erarbeiteten Kapitalstock einer Gesellschaft – als  „Sozialerbschaft“, mit der das unverdiente Glück oder Pech, in eine reiche oder aber in eine arme Familie hineingeboren zu sein, wenigstens so weit korrigiert würde, dass von einigermassen fairen Lebenschancen für alle gesprochen werden kann. Nur so kann das marktwirtschaftlich hochgehaltene, „moderne“ Leistungsprinzip zum Tragen kommen; sonst wird es im Kapitalismus zunehmend wieder vom vormodernen, feudalen Herkunftsprinzip verdrängt. Ein bürgergesellschaftlich verallgemeinertes Sockeleigentum wäre die Basis für einen moderaten Kapitalismus, welcher der Verselbständigung des Kapitalverwertungsmotivs mächtiger Wirtschaftsakteure entgegenwirkt, indem dieses Motiv sozial geteilt und je in die mehrdimensionale Lebensführungsaufgabe der Bürger eingebunden wird.

(8) Unternehmensverfassungsrecht: Ein wesentlicher Ansatzpunkt eines moderateren Kapitalismus ist auch das Unternehmensrecht im Bereich der Kapitalgesellschaften. Das monistische Recht der Aktiengesellschaft, das die Unternehmensführung vorrangig auf die Interessen der Kapitaleigner verpflichtet (und damit implizit der anachronistischen Metaphysik des freien Marktes huldigt), muss endlich abgelöst werden durch ein pluralistisches Unternehmensverfassungsrecht, das alle Stakeholder sowohl am Prozess als auch am Ergebnis der unternehmerischen Wertschöpfung fair beteiligt. Erst durch die Allgemeinverbindlichkeit dementsprechender Stakeholder-Rechte können die Unternehmen aus dem Konflikt zwischen Selbstbehauptung im immer härteren Wettbewerb einerseits und human-, sozial- und umweltverträglichem Geschäftsgebaren andererseits befreit werden. Gefördert werden können zudem modernisierte genossenschaftliche Rechtsformen für Firmen. Das alles käme den längst aufblühenden, aber noch zarten „Pflänzchen“ eines neuen Unternehmertums entgegen, das auf rücksichtslose Gewinnmaximierung bewusst verzichtet und neue Synthesen zwischen gradualisiertem Gewinnstreben und sinngebenden lebenspraktischen „Missionen“ verwirklicht.

Ein mittels der Ansätze (5) bis (8) vermögenspolitisch und eigentumsrechtlich „zivilisierter“ Kapitalismus wäre wohl in fast jeder Hinsicht demokratisch besser beherrschbar und könnte besser auf die individuelle und gesellschaftliche Lebensqualität – also auf eine qualitative Entwicklung statt auf quantitatives Wachstum – ausgerichtet werden.

Fazit

Die Quintessenz meiner Überlegungen lässt sich so zusammenfassen: Ohne neue gesellschaftliche Organisationsprinzipien der Arbeits-, Einkommens- und Eigentumsverteilung wird das Problem des Wachstumszwangs nicht zu lösen sein. In keinem der skizzierten Ansatzpunkte allein kann dabei das Generalrezept gesehen werden; vielmehr kommt es wie gesagt auf einen intelligenten Mix sich wechselseitig verstärkender Massnahmen an. Für diesen demokratisch zu bestimmenden Mix sind durchaus verschiedene Ausgestaltungen und die Ergänzung um weitere, hier nicht einbezogene Ansatzpunkte wie die Finanzmarktregulierung und eine grundlegende Reform des Geldsystems (Vollgeldkonzept) vorstellbar. Wieweit aber überhaupt der nötige realpolitische Wille zur Einbindung des Kapitalismus in eine ihn moderierende Gesellschaftspolitik wächst und ob diese als Rahmen für eine nachhaltige Entwicklung tragfähig ausgestaltet werden kann oder dereinst der Kapitalismus historisch prinzipiell überwunden werden muss, wird erst die Zukunft zeigen.

10.12.2015 / 3.04.2016

Dieser Beitrag ist am 1. April 2016 auf der Plattform ÖKONOMENSTIMME publiziert worden: http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2016/04/wirtschafts–und-gesellschaftspolitik-jenseits-der-wachstumsideologie/

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

4 Kommentare zum "Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik jenseits der Wachstumsideologie"

  1. Guido Biland 14. Januar 2016 um 15:33 Uhr ·

    Lieber Herr Ulrich, ich verneige mich vor Ihren klugen Reflexionen. Einige Sätze waren so brillant, dass ich sie sogar zweimal lesen musste …
    Wir leben in einer komplizierten Welt, und da ist die Versuchung gross, auch ihre Verbesserung zu komplizieren. Aber damit tun wir uns keinen Gefallen. Zum Reflektieren im Elfenbeinturm bleibt uns leider keine Zeit mehr. Die Fakten zwingen uns zu einer einfachen und pragmatischen Lösung:
    1. Der Kapitalismus ist das mächtigste Machtsystem der Geschichte.
    2. Die Wirtschaft wird Menschen weiterhin durch Maschinen ersetzen.
    3. Je smarter Maschinen werden, desto leichter sind Menschen ersetzbar.
    4. Wir befinden uns mitten in der digitalen Revolution. Sie wird enorm viele Jobs vernichten.
    Was machen wir mit diesen Fakten? So viel ist klar: Der Sozialstaat ist mit dieser Entwicklung überfordert. Komplizierte Systemreformen dauern viel zu lange. Was wir in den nächsten zehn Jahren brauchen, ist eine demokratische Institution, die den Sozialstaat entlasten und bedürftige Bürger unbürokratisch mit Geld versorgen kann. Ich meine die Nationalbank. Wir müssen ernsthaft über Geldschöpfung ohne Markt-Wertschöpfung nachdenken. Die existenzsichernde Kaufkraft muss von der kapitalistischen Wertschöpfung entkoppelt werden. Laut Verfassung ist die Nationalbank dem Landesinteresse verpflichtet. Wenn die Wirtschaft nicht mehr genug Erwerbseinkommen für alle generieren kann, die Vemögen der Reichen tabu sind und der Sozialstaat verblutet, muss unsere Nationalbank das Mandat haben, Bürgern in Not zu helfen. Unsere Nationalbank hat in den letzten zehn Jahren hunderte von Milliarden Franken geschöpft, um die Exportindustrie zu schützen und eine Grossbank zu retten. Effekt: Wir haben Deflation, Negativzinsen, Deindustrialisierung und dieselben profitsüchtigen Banken wie vor 2008. Wieso setzen wir die Mittel der Nationalbank nicht direkt zum Wohl der Bürger ein?
    Ich schlage darum eine Geldschöpfungsreform vor. Wie ich mir das vorstelle, beschreibe ich in einem Essay, das kostenlos unter folgender Adresse heruntergeladen werden kann:
    https://db.tt/kOUX3yZX
    Die Banken haben mit ihrer Geldschöpfung aus dem Nichts zu viel Macht. Wir müssen die Nationalbank zur Bank für das Gemeinwohl machen. Es ist Zeit, über Hybridökonomie nachzudenken.

  2. Peter Ulrich
    Peter Ulrich 14. Januar 2016 um 17:38 Uhr ·

    Mit dem unter (globalen) Wettbewerbsbedingungen anhaltenden Produktivitätsfortschritt wird die (teilweise) Entkoppelung der gesellschaftlichen Kaufkraftverteilung von der knapper werdenden Erwerbsarbeit – zumindest der anständig bezahlten – über kurz oder lang unverzichtbar. Es drängt sich dann in der Tat der Gedanke eines allen Bürgerinnen und Bürgern bedingungslos gewährten Grundeinkommens oder „Bürgergelds“ auf. Dieses Postulat von Guido Biland in seinem Kommentar zu meinem Text „Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik jenseits der Wachstumsideologie“ ist mir nicht fremd – im Gegenteil habe ich schon in der ersten Auflage meiner „Integrativen Wirtschaftsethik“ (1997, darin Kap. 7.3; 4. Aufl. 2008) daraus die Diskussionswürdigkeit eines dementsprechenden „Wirtschaftsbürgerrechts“ entfaltet – um der realen Freiheit aller willen. In naher Zukunft wird die Computerisierung und Roboterisierung breiter Wirtschaftsbereiche eine zumindest teilweise postkapitalistische Reorganisation der gesellschaftlichen Einkommensverteilung nötig machen, wenn wir den Produktivitätsfortschritt sinnvoll nutzen und schwere Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen vermeiden wollen (vgl. auch https://www.alexandria.unisg.ch/Publikationen/Person/U/Peter_Ulrich/236991).

    Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Vollgeld-Initiative und Mitautor des vorgeschlagenen Verfassungstextes stimme ich auch dem Vorschlag zu, dass die jährliche Geldschöpfung der Zentralbank eines Landes, in der Schweiz also der Nationalbank, ganz oder teilweise direkt an die Bürgerinnen und Bürger ausgeschüttet werden sollte. So würde das geschöpfte Geld wirksam und in fairer Verteilung in den realwirtschaftlichen Kreislauf gelangen, statt vorwiegend die Finanzmärkte aufzublähen. Wir haben die entsprechende Kompetenz der Nationalbank im Initiativtext in Art. 99a, Ziff. 3, aufgenommen (http://www.vollgeld-initiative.ch/initiativtext/). Einzuschränken ist aus geldpolitischer Sicht allerdings, dass das daraus finanzierbare Bürgergeld nur einen sehr bescheidenen Teil des Existenzbedarfs der BürgerInnen decken könnte, da die Nationalbank die Geldmenge nach volkswirtschaftlichen Stabilitätskriterien zu steuern hat. Ein darüber hinausgehendes Bürgergeld, wie es die demnächst zur Abstimmung gelangende Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen vorschlägt, kommt einer tiefgreifenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Einkommensverteilung gleich und erfordert eine umfassende Reorganisation der sozialstaatlichen Systeme. Umso mehr stimme ich mit Guido Biland darin überein, dass eine breite gesellschaftliche Debatte über eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung fällig wird.

  3. Guido Biland 6. Februar 2016 um 17:31 Uhr ·

    Ich denke, wir sind uns einig: Die gleichmässige Verteilung des Wohlstandes beginnt mit der gleichmässigen Verteilung der Freiheit. Wer in einer hochproduktiven und hochtechnisierten Gesellschaft Wohlstand mit Zwang zur Erwerbsarbeit gleichsetzt, verteidigt nur die Freiheit des Kapitals.
    Welche Chancen bietet die digitale Revolution? Ich glaube, wir stehen vor einer Zeitenwende. Hinter uns liegen Mangelzeiten. In Zeiten des Mangels ist diejenige Gesellschaft am erfolgreichsten, die am besten mit Technik umgeht. Vor uns liegen Überflusszeiten. In Zeiten des Überflusses ist diejenige Gesellschaft am erfolgreichsten, die am besten mit Menschen umgeht.
    Wenn Roboter einen Zweck erfüllen, dann diesen: uns langweilige und selbstentfremdende Zwangsarbeit zu ersparen. Wünschen wir uns eine Weltgemeinschaft, die schnell lernt, mit neu gewonnenen Freiheiten umzugehen. Die Französische Revolution hat erst angefangen!

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