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Demokratie: Staatsform oder Lebensform?

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Warum gerät die Demokratie immer wieder ins Schlepptau der Wirtschaft? Meine These: weil wir sie zu klein denken. Wir verstehen sie seit jeher als die beste Staatsform, dabei müssten wir sie als die beste Lebensform begreifen. Solange wir sie auf Prozesse und Strukturen des Staates beschränken, wird sie nur einen kleinen Teil unseres Lebens prägen können. Gerade die Wirtschaft wird dann ausgeklammert und kann sich den Regeln einer fairen Ordnung entziehen. Erst wenn wir Demokratie nicht mehr nur als Verfassung des Staates, sondern als Verfassung unserer Gesellschaft ernst nehmen, kann sie ihr Versprechen, Freiheit und Gleichberechtigung für alle zu schaffen, erfüllen.

Seit der Staatsformenlehre von Aristoteles gilt die Demokratie als eine mögliche Organisation des Staates – neben Monarchie, Aristokratie, Tyrannei und anderen. Dabei soll seit der Neuzeit das Volk den Monarchen als Souverän ablösen: Demokratie ist Volksherrschaft – oder doch die Herrschaft der Vielen. Das liberale Denken der bürgerlichen Revolution hat diesem kollektiven Subjekt den Individualismus gegenüber gestellt und dem Einzelnen den Schutz des Rechtsstaates vor der kollektiven Machtausübung durch den Staat garantiert. Seither gilt die liberale Trennung von Gesellschaft und Staat als moderne Errungenschaft. Unser Leben wird in zwei Bereiche gespalten: den privaten Bereich der Gesellschaft und den öffentlichen Bereich des Staates. Politik ist auf den öffentlichen Raum beschränkt und nur insoweit legitim, als sie subsidiär zum privaten Lebensbereich erforderlich ist, um die Voraussetzungen zu schaffen, welche unser privates Leben nötig hat. Staatliches Handeln muss sich durch ein überwiegendes öffentliches Interesse rechtfertigen und ist nur subsidiär zulässig, d.h. dann, wenn die gesellschaftlichen Kräfte der Selbstregulierung nicht genügen.

Diese Konzeption hat uns grosse Freiheit gebracht und ist Grundlage der Emanzipation des modernen Menschen aus den Zwängen einer feudalistischen Lebensform, in welcher der Einzelne in seiner Entfaltung durch archaische Bindungen gehindert war. Insoweit ist sie ein echter Fortschritt und unverzichtbar. Das liberale Denken hat freilich einen blinden Fleck, der ihm die Sicht auf die Macht der Wirtschaft verdeckt. Es schlägt nämlich die Wirtschaft dem privaten Bereich zu. Deshalb sprechen Liberale stets von „Privatwirtschaft“. Sie sehen nur die private wirtschaftliche Entfaltung des Einzelnen und verkennen die kollektive Machtentwicklung der Marktwirtschaft über uns alle. Im Markt entfaltet sich nicht nur Freiheit, sondern auch Zwang. Schon der Wettbewerb als ideales Prinzip des Wirtschaftens ist eine Zwangsordnung, der jeder nach Möglichkeit zu entgehen sucht, indem er Kartelle und marktmächtige Unternehmungen gründet oder indem er sich sonst wie durch Absprachen oder gute Beziehungen illegitime Vorteile verschafft. Der Wettbewerb produziert aber auch dort, wo er spielt, immer Gewinner und Verlierer zugleich. Er vergrössert damit die strukturell vorhandene Ungleichheit in der Gesellschaft. Insgesamt schafft die Wirtschaft Machtverhältnisse, welche wesentlich ungleicher und ungerechter sind als jene, welche der Staat begründen kann und welche die liberale Idee durch öffentliche Kontrollen des Staates beschränken will. Gäbe es den blinden Fleck nicht, müsste liberales Denken sich gegen die Wirtschaftsmacht ebenso sträuben wie gegen die Staatsmacht.

Der Mangel im liberalen Denken liegt also darin, die Wirtschaft dem privaten Bereich zuzuschlagen statt zum öffentlichen Raum. Damit werden die Grundsätze, welche eine faire Staatsordnung anleiten, im Bereich der Wirtschaft nicht anwendbar. Wirtschaftsmacht kann sich ungehindert entfalten und die Freiheit der Gesellschaft einschränken. Die liberale Trennung von Staat und Gesellschaft führt zu einer Zügellosigkeit im Wirtschaften. Die demokratischen Grundsätze können sich im Wirtschaftsbereich nicht Geltung verschaffen. Demokratie wird zu klein gedacht: Als Staatsform statt als Lebensform unserer Gesellschaft.

Erst wenn dieses Trennungsdenken durch eine integrale Konzeption von Demokratie ersetzt wird, kann sich das, was noch immer den gültigen Kern des Liberalismus bildet, unter modernen Verhältnissen auch durchsetzen: die Selbstbestimmung des Menschen in Freiheit, Gleichberechtigung und Solidarität mit den andern. Diese Maxime der bürgerlichen Revolution wurde im 19. Jahrhundert in richtiger Weise dadurch umgesetzt, dass Rechtsstaat, Demokratie, Föderalismus und Marktwirtschaft zu Grundpfeilern der Rechtsordnung gemacht wurden. Damals wurden die Strukturen und Prozesse geschaffen, die bis heute die zentralen Auseinandersetzungen unserer Gesellschaft prägen. Wir versuchen heute immer noch, eine enorm gewachsene Lebensfülle in die engen Gefässe des vorletzten Jahrhunderts zu zwingen. Wir entscheiden die Fragen unseres Zusammenlebens nach jenen alten Konzepten und Formen. Demokratie bleibt so national begrenzt und auf staatliche Strukturen und Verfahren beschränkt, während die Wirtschaft sich globalisiert und aus den rechtlichen Formen ausbricht. Deshalb kann die Wirtschaft den staatlichen und rechtlichen Rahmen, den der Liberalismus ihr vorgeben wollte, überwuchern. Die Schranken, die das vorletzte Jahrhundert zwischen Wirtschaft und Staat errichtet hat, sind heute verwischt. Wirtschaft und Staat haben sich zu einem Patchwork von Mischformen verknüpft. Auch die Nationen bilden bloss Stücke in einem Flickenteppich wirtschaftlicher Verflechtung. Das liberale Bild vom Staat als Rahmen der (National-) Ökonomie trifft nicht mehr auf die Realität zu. Daher ist der öffentliche Raum, in welchem individuelles Handeln vor der Allgemeinheit verantwortet werden muss, vom Staat auf alle Bereiche der Gesellschaft auszudehnen, in denen Macht über eine unbestimmte Anzahl Menschen ausgeübt werden kann. Dann umfasst er auch die Wirtschaft.

Die liberalen Strukturen waren richtige Antworten zur Überwindung des Feudalismus. Ihre Grundideen sind immer noch wertvoll. Aber sie müssen in neue Prozesse und Strukturen verpackt werden. Sonst verkehren sie ihren Sinn. Wenn die Gefahr, die unsere Vorfahren in der Möglichkeit des Missbrauchs staatlicher Macht erkannt haben, sich auf die Möglichkeit des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht verschiebt, müssen die Institutionen der Machtbeschränkung und -kontrolle, welche für den Staat erfunden worden sind, auf die Wirtschaft ausgeweitet werden.

Dazu muss der liberale Denkzwang, der uns an die kategoriale Trennung von privater Gesellschaft und Wirtschaft einerseits, öffentlichem Staat anderseits bindet, überwunden werden. Die Werte und Grundsätze der Demokratie – wie Gleichberechtigung, allgemeine Mitbestimmung, Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger gegenüber allen Betroffenen, Transparenz der Entscheidungsprozesse sowie Gewaltenteilung und Menschenrechte  – müssen auch in der Wirtschaft gelten, soweit darin Einzelne oder Gruppen Entscheidungen treffen, die für das Leben einer unbestimmten Anzahl von Betroffenen bedeutsam sind.

Demokratie entwickelt sich dann von der Verfassung des Staates zur Verfassung der Gesellschaft. Diese muss zum Schutze der Freiheit ihrer Mitglieder dafür sorgen, dass alle öffentlichen Machtbereiche den demokratischen Prinzipien unterstellt werden. In einer Zeit, in welcher immer mehr Gesellschaftsbereiche einer ökonomischen Rationalität unterstellt werden, bedeutet dies v.a. die Demokratisierung der Wirtschaft. Das ökonomische Denken und Handeln muss demokratischen Grundsätzen unterstellt werden. Auf Unternehmungsebene beispielsweise stellen sich für grössere Firmen etwa folgende Fragen:

  •  Haben die an der Wertschöpfung Beteiligten (insbesondere die Arbeitnehmenden und Zulieferanten) neben den Kapitaleignern gleiche Rechte am Ergebnis?
  •  Sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten im Entscheidungsprozess der Unternehmung proportional zur Betroffenheit verteilt?
  • Ist die Führung allen Stakeholdern (neben den Aktionären also den Arbeitnehmenden, den Zulieferern, den Kunden und der Öffentlichkeit) Rechenschaft schuldig?
  • Sind die Entscheidungsprozesse transparent, so dass alle Betroffenen eine Kontrolle ausüben können?
  • Wie ist die Gewaltenteilung in den Strukturen der Unternehmung verwirklicht: Bildet die Aktionärsversammlung ein echtes Gegengewicht zum Management? Gibt es z.B. ein Vetorecht von Minderheiten in der Aktionärsversammlung – hat die Belegschaft ein solches Recht?
  • Gibt es ein Einspruchsrecht Dritter vor Gericht zur Wahrung der Menschenrechte?

 

Auf der Ebene der Gesamtwirtschaft stellen sich entsprechende Fragen etwa im Verhältnis von Grossunternehmen, Wirtschaftsverbänden und Organisationen der Zivilgesellschaft. Dabei geht es vor allem darum, in politisch bedeutsamen Fragen innerhalb der Wirtschaft einen Diskurs zu institutionalisieren, der den Grundsätzen des politischen Diskurses entspricht:

  • Unterstehen Konzerne in ihren Aussenbeziehungen (national wie international) einer Offenbarungspflicht ihrer Interessenvertretung bei Behörden?
  • Sind Wirtschaftsverbände zu einem fairen internen Diskurs verpflichtet, der nach innen wie nach aussen transparent ist?
  • Haben konkurrierende Verbände und Organisationen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, sich gegen unfaire Entscheidungsprozesse in Konzernen und Verbänden zu Wehr zu setzen?
  • Besteht dafür ein allgemeines Verbandsbeschwerderecht gegen gesetzwidrige Entscheide von Konzernen und Wirtschaftsverbänden?

 

Die Forderung nach einer Verfassung von Gesellschaft und Wirtschaft nach demokratischen Grundsätzen muss dabei nicht gleichbedeutend sein mit jener nach einer Verrechtlichung aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Verfassen heisst nämlich zweierlei: Zunächst geht es darum, eine demokratische Kultur entstehen zu lassen. Demokratie fordert auf dieser Ebene eine Kultur der Gegenseitigkeit und der Anerkennung des Andern. Dies lässt sich durch Anstandspflichten, Rücksichtnahmen und Gemeinwohlorientierungen umsetzen. Erziehung, Bildung und zivilgesellschaftliches Engagement sind hier gefordert. Erst in zweiter Linie bedeutet „verfassen“ das Schaffen einer Rechtsordnung. Wie viele der angestrebten kulturellen Haltungen zu rechtlichen Pflichten verfestigt werden müssen, hängt davon ab, wie viele davon unter den aktuellen gesellschaftlichen Machtverhältnissen auf informellem Weg zur Entfaltung gebracht werden können. Wenn genügend Träger von Wirtschaftsverantwortung davon überzeugt werden können, dass sie demokratische Prinzipien auch für ihr eigenes Verhalten als Wirtschaftende anerkennen sollen, braucht es keine Verrechtlichung dieser Prinzipien. Eine Kultur muss nur soweit zum Recht greifen, als ihre Werte sonst Gefahr laufen, unterzugehen.

Ansätze zur hier geforderten Reform finden sich bereits heute vielerorts, etwa in der Form von CSR (der unternehmerischen Sozialverantwortung), von Corporate Citizenship (dem bürgerschaftlichen Engagement von Unternehmen) oder von Initiativen der Zivilgesellschaft für die Menschenrechte, aber auch von internationalen Organisationen wie der UNO, beispielsweise mit dem Global Compact und seinen zehn Prinzipien, die soziale und ökologischen Mindeststandards festlegen. Alle diese Forderungen würden unter der Wirtschaftsdemokratie zu einem Teil der öffentlichen Wirtschaftsordnung, zu einer demokratischen Verfassung der Wirtschaft.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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