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Wozu brauchen wir eine „demokratische Kultur“?

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Im letzten Beitrag („Demokratie: Staatsform oder Lebensform?“) habe ich am Schluss die These aufgestellt, die Forderung nach einer Verfassung von Gesellschaft und Wirtschaft ziele primär auf die Pflege einer demokratischen Kultur. Es gehe um eine Kultur der Gegenseitigkeit und der Anerkennung des Andern. Was ist darunter eigentlich zu verstehen? Wozu braucht Demokratie Kultur? Welche Inhalte kennzeichnen eine Kultur als demokratisch?

Eine demokratische Kultur pflegt die Offenheit für unterschiedliche Konzepte des Zusammenlebens unter den Menschen. Während Kulturen meist Träger von bestimmten Menschenbildern und Traditionen sind, die ausschliessenden Charakter haben, zeichnet sich eine demokratische Kultur gerade durch das Fehlen eines bestimmten, vorgegebenen Inhalts aus. Ihr Merkmal ist die inhaltliche Offenheit und Inklusion aller möglichen Welt- und Menschenbilder oder Traditionen – soweit diese den Rahmen der rechtsstaatlichen Demokratie nicht verletzen. Alle Glaubenshaltungen, Meinungen und Interessen verdienen in dieser Kultur Anerkennung, soweit sie sich an den Rahmen der grundlegenden Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates halten: Gleichberechtigung, Menschenrechte, Mitbestimmung, Verantwortlichkeit, Transparenz und Gewaltenteilung bilden die Verfassung der demokratischen Kultur. Innerhalb dieses Rahmens ist diese Kultur pluralistisch. Sie ist sogar offen für divergierende Demokratieverständnisse: Auch der demokratische Rahmen selbst ist nur kontingent, d.h. für den jeweiligen Augenblick vorgegeben. Er kann jederzeit in einem offenen Diskurs infrage gestellt und geändert werden. Der Pluralismus gilt somit nicht nur für Sachfragen, sondern auch für institutionelle Fragen und für das Demokratieverständnis  insgesamt. Der Pluralismus einer demokratischen Kultur schliesst damit die Revidierbarkeit all ihrer Werte und Prinzipien ein – solange der Wandlungsprozess den aktuellen Stand des Kulturschatzes als Ausgangslage anerkennt und ihn zum Gegenstand seines Diskurses macht.

Was ist daran gegenüber dem herkömmlichen liberalen Gesellschaftsbild neu? Vieles ist gewiss daran anschlussfähig. Das radikal Neue liegt denn auch nicht in den Inhalten, sondern im Geltungsbereich dieser Kultur. Während liberales Denken die demokratische Verfassung auf den Bereich des Staates beschränkt hat, weitet das Konzept der demokratischen Kultur die Geltung der demokratischen Prinzipien auf die gesamte Gesellschaft aus – einschliesslich der Wirtschaft und des privaten Bereichs. Demokratie wird unteilbar. Sie gilt für alle Lebensbereiche. Der Mensch ist immer Citoyen, nie nur Bourgeois.

 

Postulate einer demokratischen Kultur

Eine demokratische Kultur muss zunächst in ihrem angestammten Bereich, der Politik, gelebt werden. In der Schweiz ist die Demokratie zwar gut in festen Institutionen verankert. Reformbedürftig sind weniger diese Formen als der Umgang mit ihnen. Die Praxis leidet unter einer nachlassenden Kooperationsbereitschaft der politischen Eliten und unter einer mangelhaften Qualität des politischen Diskurses insgesamt. Besser zu pflegen sind insbesondere die Gewaltenteilung als Diskursinstitution zwischen den Machtträgern im Staat, ebenso das Öffentlichkeitsprinzip und die Unabhängigkeit der Gerichte als Garantie des Rechtsstaates.

Für den Bereich der Wirtschaft ist die Forderung nach einer demokratischen Kultur eine Neuerung. Da sich die Demokratie aber unter dem Konzept einer demokratischen Kultur von der Verfassung des Staates zur Verfassung der Gesellschaft entwickelt, wird die Forderung zwingend. Die Gesellschaft muss zum Schutze der Freiheit ihrer Mitglieder dafür sorgen, dass alle öffentlichen Machtbereiche den demokratischen Prinzipien unterstellt werden. In einer Zeit, in welcher immer mehr Gesellschaftsbereiche einer ökonomischen Rationalität verfallen, bedeutet dies v.a. die Demokratisierung der Wirtschaft. Das ökonomische Denken und Handeln muss demokratischen Grundsätzen unterstellt werden. Wirtschaftsfreiheit muss auch Wirtschaftsverantwortung für die Folgen des Gewinnstrebens bei Partnern und Dritten bedeuten. Die von einer Unternehmung Betroffenen müssen zu Beteiligten werden. Die Verlierer des Marktprozesses müssen zu Anspruchsberechtigten werden – sowohl im Prozess des Wirtschaftens wie an dessen Ergebnis.

Als Mittler zwischen Politik und Wirtschaft erweist sich zunehmend die Zivilgesellschaft als bedeutsam. Als jener Teil der Gesellschaft, der bürgerschaftliche Verantwortung für das öffentliche Wohl wahrnehmen will, wird sie auch als Bürgergesellschaft bezeichnet. Unter dem Konzept der demokratischen Kultur trägt sie die Last der Demokratisierung der Wirtschaft auf informalen Wegen, d.h. ohne die formellen Mittel von Rechtspflicht und Staatszwang.

Die Zivilgesellschaft nährt sich wesentlich vom Wert sozialer Beziehungen. Die soziale Einbindung des Menschen ist in der Schweiz zwar immer noch gross, auch wenn die Risse im sozialen Kitt der Schweiz zunehmen. Allgemein leidet der soziale Kitt jedoch unter veränderten Lebenshaltungen: Entsolidarisierung, Selbstoptimierung und radikales Konkurrenzverhalten auch ausserhalb des Erwerbslebens. Diese Entwicklung erschwert die Erfüllung der bürgerlichen Aufgabe der Gesellschaft.

Ihre wichtigste Rolle für eine demokratische Kultur spielt die Zivilgesellschaft im Konzept der Wirtschaftsdemokratie. Diese erweitert die ökonomische Wohlfahrtsdefinition um soziale, ökologische und ethische Gesichtspunkte. Was Wohlfahrt ist, soll demokratisch definiert werden. Da Unternehmen gemeinwohlrelevante Entscheidungen treffen, muss die interne und externe Mitbestimmung gestärkt werden. Der Staat muss dafür ordnungspolitische Vorgaben machen.

Im Konzept der demokratischen Kultur wird der Zivilgesellschaft ein wesentlicher Teil der Verantwortung für die Öffnung der Wirtschaft für demokratische Werte und Prozesse aufgebürdet. Diese Aufgabe kann sie aber nur unter günstigen Voraussetzungen erfüllen. Zwei solche Voraussetzungen sind Bildung und Medien. Beide müssen auf das Ziel ausgerichtet werden, die Demokratie zu stärken. Sie sind zwei zentrale Voraussetzungen einer demokratisch wirksamen Zivilgesellschaft und daher wichtige Stützen im Beziehungsdreieck von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

 

Gesellschaftliche Gewaltenteilung

Eine ausgewogene Verfassung der Gesellschaft muss diese drei Partner einer demokratischen Kultur gleichermassen erfassen. Normativ besteht zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (als Bürgergesellschaft) eine Gewaltenteilung, welche das Verhältnis unter den drei Gewalten nach dem Leitprinzip der gegenseitigen Verantwortung ordnet. Alle diese drei Gewalten haben in der heutigen Wirklichkeit sowohl Qualitäten wie Mängel. Je einzeln bleiben sie partikulär und müssen versagen, wenn es um eine integrative Gesamtordnung geht. Die Gesellschaft kann aber die Bürgergesellschaft so verfassen, dass sie den Anforderungen einer demokratischen Kultur entspricht. Durch innere und äussere Demokratisierung – insbesondere durch Repräsentations- und Rechenschaftsverfahren – kann die Bürgergesellschaft zum legitimen Wächter über Staat und Wirtschaft werden. Damit lässt sich ein System der Gewaltenteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft herstellen, das die normativen Anforderungen einer demokratischen Kultur erfüllt.

Wie kommen wir dahin? Kultur lässt sich nicht verordnen. Sie kann nur dadurch wachsen, dass wir sie für sinnvoll erachten und im täglichen Handeln anstreben. Sie lebt vom Bewusstsein ihres Werts, vom Willen, sie zu fördern, und vom Mut, sie zu verwirklichen. Wenn diese drei fehlen, zerfällt sie. Demokratische Kultur können wir niemandem delegieren.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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