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Zivilisierte Marktwirtschaft

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Ein wirtschaftsbürgerliches Leitbild

Zuerst erschienen in: der blaue Reiter – Journal für Philosophie, Nr. 30 („Philosophie & Wirtschaft“), Februar 2011, S. 46-51.

Die Finanz-, Wirtschafts-, Schulden- und Sozialkrise hat eine tiefer liegende Orientierungslosigkeit offengelegt. Der alte realpolitische Streit über „mehr Markt“ oder „mehr Staat“ verfehlt die entscheidende wirtschaftsethische Frage: Worauf kommt es an, damit die Wirtschaft im Dienste der Gesellschaft steht, in der wir leben möchten, und nicht umgekehrt?

Am Anfang der Moderne stand ein zivilisatorischer Traum. Es war die aufklärerische Vision einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und mündiger Bürger, die sich prinzipiell als fähig verstehen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und gleichberechtigt an der Gestaltung der „res publica“, der öffentlichen Sache des Gemeinwesens, mitzuwirken. Den lebenspraktischen Erfahrungshintergrund dieses freiheitlich-demokratischen Ideals bildete die fortschreitende wirtschaftliche und politische Emanzipation des Mittelstands aus alten feudalgesellschaftlichen Abhängigkeiten. Zwischen dem Streben des Bourgeois nach wirtschaftlicher Selbständigkeit und dem Anspruch des Citoyen auf politische Freiheit und Mitsprache besteht ein innerer Entstehungszusammenhang: Wer existenziell von anderen abhängig ist, kann sich öffentlich nicht wirklich frei äußern und nicht auf Augenhöhe mit anderen Bürgern am „öffentlichen Vernunftgebrauch“ (Immanuel Kant) teilnehmen. Und wer keine rechtsstaatlich geschützten Bürgerrechte genießt, kann weder sein Vermögen jeder Art (Finanz-, Real- und Humanvermögen) in verlässlicher Weise produktiv einsetzen und die Früchte seiner Anstrengungen ernten noch sich wehren gegen Übergriffe anderer, die allzu rücksichtslos nach ihrem Vorteil streben. Den Orientierungshorizont einer modernen Gesellschaft bildet deshalb die Leitidee der realen Freiheit aller in bürgerlicher Gleichheit.

Die verlorene Vision der bürgerlichen Gesellschaft

Doch das bürgergesellschaftliche Projekt ist bis heute unvollendet geblieben. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt es zunehmend Schlagseite. Mit dem „großen Boom“ (Eric Hobsbawm) des entfesselten Laisser-faire-Kapitalismus errang das unternehmerisch aktive Bürgertum – die Bourgeoisie – sehr rasch materielle und machtpolitische Privilegien gegenüber dem eigentumslosen und deshalb lohnabhängigen Fußvolk, das von den aufkommenden sozialistischen Kritikern als industrielles Proletariat bezeichnet wurde (lateinisch: industria = Fleiß). Im wachsenden Dilemma zwischen dem unteilbaren Anspruch auf die reale Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder und den eigenen wirtschaftlichen Interessen entschied sich das Bürgertum – wen wundert’s – realpolitisch zunehmend für Letztere. Ein verkürzter ökonomischer Liberalismus, der nur mehr den „freien Markt“ glorifizierte, schluckte gleichsam den politischen Liberalismus. So wurde das Bürgertum von einer gesellschaftlich progressiven und emanzipatorischen zu einer konservativen und elitären Kraft. Das aufklärerische Ideal einer voll entfalteten Bürgergesellschaft wich einem politischen Ökonomismus (s. Kasten), der zu seiner ideologischen Rechtfertigung auf vormoderne, die Dinge verklärende Denkmuster zurückgriff.

Ökonomismus meint die Verselbständigung des ökonomischen Rationalitätsaspekts (Effizienz des Mitteleinsatzes für beliebige Zwecke) gegenüber allen ethisch-praktischen Gesichtspunkten und seine Verabsolutierung zur ganzen Vernunft des Wirtschaftens. Da als Inbegriff effizienten Wirtschaftens die Marktkoordination gilt, dient der politische Ökonomismus dem ideologischen Zweck, das „Marktprinzip“ zum hinreichenden und alternativlosen gesellschaftlichen Organisationsprinzip schlechthin zu überhöhen und die Wirtschaftssubjekte von allen Zumutungen der moralischen Selbstbeschränkung in ihrem Vorteilsstreben zu entlasten. (P.U.)

 

Die Metaphysik des Marktes

Den Kern der neu-alten Doktrin bildete jene Metaphysik des Marktes, die sich in christlich-naturrechtlicher Tradition auf das segensreiche Wirken göttlicher Vorsehung auch im Wirtschaftsleben berief: auf die berühmte „unsichtbare Hand“ (Adam Smith) des Marktes. Am deutlichsten hat diesen metaphysischen Hintergrund des marktgläu­bigen Wirtschaftsliberalismus wohl der französische Ökonom (!) Frédéric Bastiat in seinem damals viel verwendeten Lehrbuch Harmonies économiques ausformuliert:

„Ich glaube, dass Er, der die materielle Welt geordnet hat, auch die Ordnung der sozialen Welt nicht auslassen wollte. Ich glaube, dass Er die frei Agierenden ebenso zu kombinieren und in harmonische Bewegung zu setzen wusste wie die leblosen Moleküle. (…) Ich glaube, dass die unbesiegbare soziale Tendenz die einer konstanten Annäherung der Menschen an ein gemeinsames physisches, intellektuelles und moralisches Niveau ist, wobei dieses Niveau fortschreitend und unbegrenzt ansteigt. Ich glaube, es ist für die allmähliche und friedliche Entwicklung der Menschheit ausreichend, wenn diese Tendenzen ungestörte Bewegungsfreiheit erlangen.” (S. 19; Übers. P.U.)

Die Botschaft ist klar: Das freie Wirken wirtschaftlicher Interessen sorgt von selbst dafür, dass es am Ende allen gut geht. Wer gestaltend oder regulierend in den Markt eingreift, der stört bloß die von höherer Hand in den freien Markt eingebaute Harmonie und Fortschrittstendenz. Gewollt oder ungewollt arbeitete diese gegenaufklärerische Metaphysik des Marktes der Vorstellung eines sich selbst regulierenden und daher aus der politischen Kontrolle zu entlassenden Wirtschaftssystems zu. Als System des vermeintlich perfekt geordneten Egoismus entlastet es die Bürger in ihrem Wirtschaftsleben von nahezu jeglicher Moralzumutung. So wurde das privatwirtschaftliche Profitstreben als angeblich hinreichendes Handlungsmotiv enthemmt. Der eintreffende Geldsegen dient dem fundamental Marktgläubigen als Zeichen dafür, dass er nicht nur kaufmännisch, sondern auch moralisch auf gutem Weg ist. In den berühmten Worten von Max Weber:

„Denn wenn jener Gott, den der Puritaner [d.h. der amerikanische Calvinist] in allen Fügungen des Lebens wirksam sieht, einem der Seinigen ein Gewinnchance zeigt, so hat er seine Absichten dabei. Und mithin hat der gläubige Christ diesem Ruf zu folgen, indem er sie sich zunutze macht.“ (S. 175f.)

Damit war das religiös unterfütterte „Leitmotiv des Kapitalismus“ (Weber S. 36) geboren. Mit seinem Siegeszug verengte sich der Traum einer freiheitlich-demokratischen Bürgergesellschaft fortschreitend auf die Doktrin einer totalen Marktgesellschaft, in der tendenziell die gesamte gesellschaftliche Ordnung dem „Marktprinzip“ unterworfen wird. Unter diesem ökonomistischen Horizont schrumpft das Leitbild des zum öffentlichen Vernunftgebrauch fähigen Bildungs-, Staats- und Wirtschaftsbürgers auf den mehr oder weniger strikt nach privater Nutzen- oder Gewinnmaximierung strebenden Besitzbürger nach dem Muster eines homo oeconomicus. Diesen idealtypisch zu Ende zu modellieren und seine Logik für die Rationalisierung der Welt geltend zu machen, wurde zur Aufgabe der „modernen“ Wirtschaftswissenschaft.

Wirtschaftsethik als nachholende Aufklärung

Der diskrete Charme der Bourgeoisie bezirzte denn auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, mit dem „Boom“ des Wirtschaftsliberalismus, die akademischen Fakultäten. Bis dahin hatten die Klassiker der Politischen Ökonomie von Adam Smith bis John Stuart Mill (bezeichnenderweise zugleich führende Moralphilosophen ihrer Zeit) noch den Blick aufs Ganze der Zusammenhänge zwischen Ethik, Politik und Ökonomie gepflegt. Nun wichen sie ab 1870 der neoklassischen Ökonomik, die sich nach naturwissenschaftlichem Vorbild als wertfreie und autonome Wirtschaftstheorie (miss‑)verstand. Bis heute will die neoklassische Standardökonomik – andere Ansätze werden in den Wirtschaftsfakultäten kaum mehr gelehrt –  nichts wissen von ihren ethischen und politischen Voraussetzungen. Mit diesem Reflexionsstopp verzichtet sie allerdings auch auf einen methodisch kontrollierten Umgang mit ihren normativen Hintergrundannahmen und Geltungsgrenzen.

Und so wird wirtschafts- und sozialpolitisch oft unmittelbar zur Umsetzung empfohlen, was Fachökonomen im sozialen Vakuum des „freien“ Marktes als ökonomisch rational oder „effizient“ modellieren, obschon es im gesellschaftlichen Kontext bei weitem nicht die ganze Vernunft des kollektiv-arbeitsteiligen Wirtschaftens ausmacht. Um diesen kleinen Unterschied und seine großen lebenspraktischen Folgen überhaupt zur Sprache zu bringen und die argumentative Ohnmacht der Laien vor dem Expertenjargon des politischen Ökonomismus zu überwinden, tut nachholende Aufklärung not. Es gilt die alte Metaphysik des Marktes durch all ihre formalen Teil- oder Scheinmodernisierungen in der neoklassischen Wirtschaftstheorie hindurch kritisch nachzuzeichnen und sie bis in ihre gegenwärtigen Erscheinungsformen argumentationszugänglich zu machen, wenn die aktuelle Orientierungskrise der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik von Grund auf überwunden werden soll. In dieser Aufgabe ist das brandaktuelle Kerngeschäft einer jungen Interdisziplin zu erblicken: der Wirtschafts­ethik. Der problematischen impliziten Normativität des „normalen“ ökonomischen Denkens kommt allerdings auch sie nur auf die Spur, wenn sie als integrative Wirtschaftsethik (P. Ulrich) ansetzt. Und das meint: Statt ethische Postulate nur als äußeres Gegengift unvermittelt der Binnenmoral des Marktes entgegenzusetzen, kommt es darauf an, die implizite Normativität, die unter der Flagge sich wertfrei wähnender Wirtschaftswissenschaft vertreten wird, ethisch-kritisch auszuleuchten. Nur so kann geklärt werden, weshalb vernünftiges Wirtschaften in der sozialen Welt von Grund auf der ethischen Orientierung und Einbindung bedarf.

Marktprinzip und Moralprinzip

Der Versuch, alle Moralzumutungen an die Wirtschaftsakteure durch ein System des geordneten Egoismus überflüssig zu machen, kommt einer ökonomischen Quadratur des ethischen (Reflexions-)Kreises gleich. Erschlichen wird sie, indem die grundlegende Differenz zwischen dem Marktprinzip und dem Moralprinzip verwischt und der ideale Markt selbst schon zur Gewährsinstanz der Moral verklärt wird.

Das Prinzip der Marktkoordination ist das des wechselseitigen Vorteilstausches zwischen Personen, die wie homines oeconomici je ihren privaten Nutzen zu maximieren trachten und sich im Übrigen wechselseitig gleichgültig sind. Unterschreiben die Wirtschaftssubjekte freiwillig Tauschverträge, so liegt – neudeutsch formuliert –eine win-win-Situation vor. Damit scheint das Koordinationsprinzip des Marktes nicht nur „effizient“, sondern zugleich auch (tausch‑)gerecht und außerdem Garant der individuellen Freiheit zu sein. Wo genau steckt das Problem?

Die wirtschaftsethische Kurzantwort lautet: Die ökonomische Logik des Vorteilstausches (Marktlogik) ist nicht identisch mit der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit, wie sie die moderne philosophische Ethik als Inbegriff des moral point of view oder eben des Moralprinzips begreift. Dieses steht für die humanistische Grundidee, dass sich alle Menschen bedingungslos – oder mit Kants Imperativ formuliert: kategorisch – als Personen gleicher Würde wechselseitig achten und in ihren gleichen Grundrechten anerkennen sollen. Dahinter kann eine zivilisierte Gesellschaft und Weltgemeinschaft nicht zurück. Es ist nämlich gerade die Voraussetzung dafür, dass die Menschen so unterschiedlich denken und leben können, wie sie mögen, solange sie aufeinander in fairer und anständiger Weise Rücksicht nehmen. Den nötigen Rahmen bildet eine unparteiliche, gegenüber den unterschiedlichen privaten Lebensentwürfen der Bürger neutrale öffentliche Grundordnung, die rechtsstaatlich durchzusetzen ist als Ermöglichungsbedingung des fairen Pluralismus einer offenen Gesellschaft. Diese strukturelle Zweistufigkeit ist das Schlüsselkriterium eines wohlverstandenen politischen Liberalismus (im Sinne von John Rawls).

Der nach dem Marktmodell gedachte ökonomische (Neo-)Liberalismus bietet demgegenüber kein zureichendes Prinzip einer wohlgeordneten Gesellschaft Freier und Gleicher an. Denn im „freien“ Markt lassen sich die Individuen nur bedingt aufeinander ein, nämlich gemäß ihrem privaten Vorteilskalkül und ihrer Macht, die eigenen Interessen durchzusetzen. Das ethische Prinzip der unbedingten wechselseitigen Anerkennung der Individuen in ihrer unantastbaren Würde und ihrem gleichberechtigten Bürgerstatus ist damit nicht erfüllt. Ist die gesellschaftliche oder internationale Ausgangslage unfair, so kann auch das Tausch- oder Handelsergebnis in einem noch so effizient funktionierenden Markt niemals gerecht sein. Diese strukturelle Parteilichkeit des marktwirtschaftlichen Systems verletzt das Erfordernis einer unparteilichen, neutralen Grundordnung. Das „Marktprinzip“ kann deshalb nicht das oberste Koordinationsprinzip einer Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger sein.

„Zivilisierung“ der Marktwirtschaft – wörtlich verstanden

Die Konsequenz ist einfach, aber folgenreich: Wir müssen lernen, zwischen Wirtschaft und Gesellschaft genau zu unterscheiden und ihr Verhältnis vernünftig zu ordnen. Die sach­zwang­hafte Eigenlogik des Marktes ist kein guter Grund, um die reale Freiheit und Chancen­gleichheit der Bürger und die Gerechtigkeit ihres Zusam­men­lebens ein­zuschränken – vielmehr gilt in einer wahren Bürger­gesellschaft der freie Bürger mehr als der „freie“ Markt. Dementsprechend sind die Marktkräfte konsequent in die Grund­sätze und Spielregeln einer voll entfalteten Bürgergesellschaft oder civil society einzubinden. Eine in diesem Sinn buchstäblich zivilisierte Marktwirtschaft ist etwas prinzipiell anderes als eine totale Marktgesellschaft, in der tendenziell das ganze Leben und Zusammenleben der Menschen den „Sachzwängen“ entgrenzter Märkte unterworfen wird. Nicht Wohlfahrtsziele, sondern gleiche Rechte und Pflichten aller Bürger bilden ihre konstitutive Qualität. In den prägnanten Worten von Ralf Dahrendorf:

„Die Rechte der Bürger sind jene unbedingten Anrechte, die die Kräfte des Marktes zugleich überschreiten und in ihre Schranken verweisen.“ (S. 567f.)

Real frei zu sein heißt, auf der Basis konkreter Wahlmöglichkeiten oder Optionen ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. In einer zunehmend durchökonomisierten Gesellschaft hängt die reale Freiheit nicht zuletzt von der verfüg­baren Kaufkraft ab. An diesem Punkt ist der sozialstaatliche Selbst­anspruch der Bürgergesellschaft festzumachen. Die republikanische Gleichheit freier Bürger­innen und Bürger setzt unverzichtbar die Gewährleistung „anständiger“ sozioökonomischer Lebens­bedingungen für alle voraus, und zwar aus politisch-liberaler Sicht so weit (und nur so weit), wie dies die Voraussetzung dafür ist, dass der Status und die Selbstachtung jedes Bürgers und jeder Bürgerin als real freie und vollwertige Person nicht verletzt wird.

Sozialer Fortschritt – bürgerliberal gedacht

Was folgt daraus als springender Punkt? Ein unverkürzt verstandener sozialer Fort­schritt zeigt sich nicht einfach in zunehmender materieller Umverteilung, sondern in der Ausweitung der realen Bürgerfreiheit aller, ein selbstbestimmtes und „anständiges“ Leben führen zu können – und als Folge gerade im Rückgang des Bedarfs nach sozialstaatlichen Transfers für „bedürftige“ Menschen. Wer real frei ist, kann sich selbst helfen und benötigt, von Schicksalsschlägen abgesehen, keine „Sozialhilfe“. Wohlgemerkt: Damit wird damit keineswegs in den libertären Ruf nach mehr individueller „Eigenverantwortung“ eingestimmt, der die Voraussetzungen zumutbarer existenzieller Selbstbe­haup­tung und Selbstverant­wortung der Bürger in tendenziell zynischer Weise ausblendet. Plädiert wird vielmehr für die schritt­weise Umorientie­rung der Sozialpolitik von der nachträglichen materiellen Symptom­­linderung auf die Bekämpfung der ursäch­lichen strukturellen Ohnmacht der schwächeren Gesellschaftsmitglieder. Es geht darum, diese von vornherein zu berechtigen und zu befähigen, sich im Existenz­kampf möglichst aus eigener Kraft behaupten zu können. Auf eine programmatische Kurzformel gebracht: mehr emanzipatorische Gesellschafts­politik – weniger kompensatorische Sozial­politik!

Hier trennen sich die Wege eines wohlverstandenen Bürgerliberalismus von jenen eines ökonomistisch verkürzten Neoliberalismus, der allein auf Marktöffnung, Wettbewerbs­intensivierung und Wirtschaftswachstum setzt und uns weismachen will, die marktwirt­schaft­lichen Sachzwänge (!) dienten der Freiheit und Lebensqualität aller. Wer dieser wettbewerbs­konditionierten Mentalität nicht restlos erlegen ist, stimmt vielmehr folgendem Postulat zu: Je härter der Wettbewerb wird, um so wichtiger werden zeitgemäß entwickelte Bürgerrechte auch in Bezug auf unser „Wirtschaftsleben“ – in einem Wort: Wirtschaftsbürgerrechte. Deren Konkretisierung in den verschie­denen Dimensionen eines „zivili­sier­ten“ Wirtschafts­lebens stellt ein epochales Projekt dar, das unter mündigen Bürgern demokratisch anzugehen ist.

Zwei Dimensionen von Wirtschaftsbürgerrechten

Wirtschaftsbürgerrechte erweitern zum einen die Optionen wirtschaftlicherBetätigung in der arbeitsteiligen Volkswirtschaft, beispielsweise den Zugang zu Bildung und Knowhow, zu Kapital und Kredit als Voraus­setzungen des freien Unter­nehmertums für jedermann. Zum andern gewähren sie allen faire Chancen der partiellen Emanzipation aus dem Zwang, sich um fast jeden Preis im marktwirt­schaftlichen Wettbewerb als „Unternehmer“ der eigenen Arbeitskraft behaupten zu müssen. Das ist kein Gegensatz: Das doppelte Ziel der Integration in das Erwerbsleben („einsteigen können“) und der wenigstens teilweisen Emanzipation aus dem marktwirtschaftlichen Zwangszusammenhang („aussteigen können“) entspricht der ganz normalen Balance, die freie Bürger zwischen Autonomie (im Sinne einer unantastbaren Privatsphäre) und Sozialintegration (im Sinne der vollwertigen gesellschaftlichen Partizipation) suchen. Das gilt auch für ein real freies Wirtschaftsleben. Um dieser Balance willen sind soziale Schutz- und Teilhabe­rechte nötig, welche die Menschen ein Stück weit aus der „gnadenlosen“ Abhängigkeit von ihrer Selbstbehauptung im Markt befreien und ihnen nicht-demüti­gen­de Existenzformen außerhalb des (heute noch) als normal geltenden Erwerbs­lebens ermöglichen. „Nicht demütigend“ heißt hier, dass ihnen die Stigmatisierung als Versager und „Sozialfälle“ erspart wird. Statt eine Sonder­behandlung als gesellschaft­liche Problemgruppe zu erfahren, sollten sie daher ohne Bedürftigkeitsnachweis ein allgemeines, ganz normales Bürgerrecht in Anspruch nehmen können. Dieser universalisti­sche Charakter von Wirtschaftsbürgerrechten ist in Absicht auf die reale Bürgerfreiheit wesentlich.

Davon ist die heutzutage betriebene „aktivierende Sozialpolitik“ weit entfernt. Trotz aller „gezielten“ Bemühungen erfüllt der Arbeitsmarkt die Aufgabe der sozialen Integration, d.h. des Einbezugs aller Bürger in den volkswirtschaftlichen Produktions- und Konsumtions­prozess, offenkundig nicht mehr. Da aber die Einkommensverteilung allzu sehr an die Verteilung der knappen und nur noch teilweise anständig bezahlten Arbeitsplätze gekoppelt ist, öffnet sich die soziale Schere seit etwa 20 Jahren immer ex­tremer. Vernünftigerweise werden wir schon in naher Zukunft das an sich reichliche Sozialprodukt nach teilweise neuen gesellschaftspolitischen Prinzipien unter den Bürgern verteilen müssen – um deren realer Freiheit willen. Eine Perspektive bietet hier möglicherweise das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle Bürgerinnen und Bürger, wie es am prominentesten der belgische Sozialphilosoph Philippe Van Parijs und der deutsche Unternehmer Götz Werner als Ausdruck eines zu Ende gedachten Bürgerliberalismus dargelegt haben.

Als Variante zum Bürgerrecht auf ein Grundeinkommen ist das Recht auf ein allgemeines Startkapital vorstellbar, das allen Bürgern einen bescheidenen Anteil an dem von den früheren Generationen erarbeiteten volkswirtschaftlichen Kapital zukommen lässt (und sinnvollerweise aus einer Erbschaftssteuer mit hohem Freibetrag finanziert wird). Warum sollte nur gerade die Familie, in die wir hineingeboren werden, über unsere Vermögensausstattung entscheiden? Das entspricht dem (neo-)feudalen Erbprinzip, nicht dem liberalen Leistungsprinzip. Ein verallgemeinertes Bürgerkapital könnte als „Sozialerbschaft“ (Gerd Grözinger u.a., S. 12, im Anschluss an Bruce Ackerman & Anne Alstott) verstanden werden. Es würde dazu beitragen, das im Kapitalismus dominante Wirtschaftsbürgerrecht, das fast uneingeschränkt garantierte Recht auf Privateigentum, gesellschaftlich zu verallgemeinern. So könnten auch alle an den Früchten eines zivilisierten Kapitalismus teilhaben – etwa nach dem Motto: Wenn schon Kapitalismus, dann bitte gleich richtig, nämlich für alle!

Solche Ideen zeigen zumindest auf, wie viel sozio­ökono­mischer Fortschritt in unserer so sehr auf Produktivitäts- und Wachstumssteigerung versessenen, aber in Bezug auf den lebensprakti­schen Sinn des Ganzen orientierungslos gewordenen spät­industriellen Gesellschaft noch denkbar ist. Zu begreifen gilt es vor allem, dass die heutigen sozialen Probleme (hohe Arbeitslosigkeit, teilweise prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Desintegration und die symptomatischen Sozialstaatslasten) kaum mehr mit den herkömmlichen wirtschafts­politischen Rezepten, sondern nur mehr mit neuen gesellschafts­politischen Ansätzen zu lösen sind. Denn das Problem ist nicht etwa eine zu wenig effiziente und wettbewerbsfähige Volkswirtschaft, sondern der unzureichende Umgang mit den gesellschaftlichen Konsequenzen einer hochproduktiven Volkswirt­schaft.

Unverzichtbares Wirtschaftsbürgerethos

Ganz bewusst wurde hier zunächst auf die bürgerrechtlichen Voraussetzungen einer zivilisierten Marktwirtschaft hingewiesen. Noch oft wird ja mit Ethik nur Individualethik assoziiert und kaum Institutionenethik. Gerade in wirtschaftsethischen Problemzusammenhängen ist das jedoch keine sinnvolle Alternative, vielmehr geht es immer um die Wechselwirkungen zwischen individuellen Haltungen (persönlichem Ethos) und institutionellen Rahmenbedingungen (rechtsstaatlicher Ordnung): Einerseits muss es innerhalb der institutionalisierten Bedingungen der existenziellen Selbstbehauptung zumutbar sein, sich im Wirtschaftsleben verantwortungs- und rücksichtsvoll zu verhalten. Andererseits muss solches Verhalten individuell auch gewollt sein. Dem stehen oft weniger reale Sachzwänge als mentale „Denkzwänge“ im Weg.

Das allzu sehr aus lebensweltlichen Sinn- und Legitimationszusammenhängen herausgelöste, eigensinnig gewordene marktwirtschaftliche System spiegelt sich in einer verbreiteten Mentalität, die das wirtschaftliche Handeln von den ethischen Grundsätzen, die man sonst im Leben für normal hält, abspaltet. Damit wird allerdings gerade das wichtigste individualethische Prinzip preisgegeben: die persönliche Integrität. Integer denkt und handelt, wer als Person ganz bleibt, also auch im Wirtschaftsleben den Kriterien eines „zivilisierten“ Umgangs mit anderen treu bleibt. Wer integer ist, strebt von vornherein gar keinen anderen Erfolg an als jenen, den man als guter Bürger in Rücksicht auf alle Betroffenen und im Bewusstsein der eigenen Mitverantwortung für die gute öffentliche Ordnung (res publica) vernünftigerweise gutheißen kann. Ein solches republikanisches Wirtschaftsbürgerethos hat wenig zu tun mit selbstlosem Altruismus. Es motiviert sich vielmehr aus dem Selbstverständnis und der Lebensklugheit von wirtschaftsethisch aufgeklärten Bürgern, die ihr wirtschaftliches Handeln im Lichte der Gesellschaft, in der sie leben möchten, reflektieren.

Übertragen auf Unternehmen entspricht dem ein prinzipiengeleitetes Unternehmertum, das die alte marktmetaphysische Doktrin der Gewinnmaximierung hinter sich lässt und sich dem Grundsatz der Geschäftsintegrität verpflichtet, also auf ein nach Legitimitäts- und Verantwortungsgesichtspunkten gemäßigtes Gewinnstreben. Dabei ist auch Unternehmensethik unteilbar. Statt politischen Lobbyismus als Fortsetzung des Geschäfts mit andern Mitteln zu betreiben, übernehmen good corporate citizens (gute „Unternehmensbürger“) angemessene ordnungspolitische Mitverantwortung für eine gemeinwohldienliche Rahmenordnung des Wettbewerbs. Angesichts der realpolitischen Macht der (nicht wirklich privaten) „Privatwirtschaft“ und ihrer Verbände kann erst dann die Politik ihrerseits ihre Gestaltungsverantwortung wahrnehmen und das unvollendete Projekt einer zivilisierten Marktwirtschaft voranbringen.

Literatur

Ackermann, B./Alstott, A. : The Stakeholder Society, New Haven : Yale University Press 1999.

Bastiat, F.: Harmonies économiques. Œuvres complètes, tome VI, 3ième éd., Paris 1855, S. 19.

Dahrendorf, R.: Moralität, Institutionen und die Bürgergesellschaft, in: Merkur, Nr. 7, 1992, S. 557-568.

Grözinger, G./Maschke, M./Offe, C.: Die Teilhabegesellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/New York 2006.

Hobsbawm, E.: Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848-1875, München 1977.

Kant, I.: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Immanuel Kant Werkausgabe, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. XI, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1982, S. 53-61 (orig. 1783).

Mill, J. St.: Über die Freiheit, hrsg. v. M. Schlenke, Stuttgart 1974 (engl. 1859).

Rawls, J.: Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 1998.

Smith, A.: Der Wohlstand der Nationen, hrsg. v. H. C. Recktenwald, München 1978 (engl. 1776).

Ulrich, P.: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. 4. vollst. überarb. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien 2008.

Ulrich, P.: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Aktualisierte u. erweiterte Neuausgabe, Bern/Stuttgart/Wien: Haupt Verlag 2010.

Van Parijs, Ph.: Real Freedom for All. What (if anything) can justify capitalism?, Oxford: Clarendon Press 1995.

Weber, M.: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 17-206.

Werner, G. W.: Einkommen für alle, Köln 2007.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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