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Dezentrieren – Wissenschaft und Bildung für Nachhaltige Entwicklung

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Die Förderung von Nachhaltiger Entwicklung und das Treiben von Wissenschaft haben etwas Wesentliches gemeinsam: Beide setzen sie die Fähigkeit voraus, unseren Egozentrismus und Ethnozentrismus zu überwinden und, genereller, uns von falschen Verabsolutierungen zu lösen. Mit einem Begriff Jean Piagets kann man dies als „Dezentrieren“ bezeichnen. Bildung für Nachhaltige Entwicklung verbindet beides miteinander – den wissenschaftlichen Ansatz und die Ausrichtung auf Nachhaltige Entwicklung.

Dieser Beitrag ist zweiteilig angelegt. Im ersten Teil (I) geht es zunächst um die Klärung der Bedeutung von Werten in der Wissenschaft (denn hinter dem Begriff Nachhaltigkeit verbergen sich Werte) und anschliessend um die Beschreibung von Dezentrierungsprozessen in der kognitiven und sozialen Entwicklung, aber ebenso in der Wissenschaft. Der zweite Teil (II) konzentriert sich auf Dezentrierungsprozesse im Bereich Bildung für Nachhaltige Entwicklung (= BNE) und zieht ein Fazit aus den Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und BNE.

I. Dezentrierung in der kognitiven und sozialen Entwicklung

1. Werte, Normen, Wissenschaft

Es ist eine gute Idee, BNE verstärkt in die akademische Lehre einfliessen zu lassen. Wer fürchtet, Max Webers Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft stelle ein Hindernis dar, erliegt einem Missverständnis. Das Berufsethos des Wissenschaftlers verlangt vom Forscher, so Weber, „seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen“[1], das heisst, den Gegenstand seiner Forschung und seine Neigungen, Vorlieben und Parteinahmen klar zu trennen. Ihre mangelnde Unterscheidung zeigte sich zu Webers Lebzeiten in der Verkündung von „Weltanschauungen“, im „modische[n] Persönlichkeitskult“, im „Sichwichtignehmen“ des Wissenschaftlers und in der „Professoren-Prophetie“.[2] Um dies zu vermeiden, soll der Forscher „die Feststellung empirischer Tatsachen (…) und seine praktisch wertende (…) Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten“. Es gelte, „Tatsachen (…) anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungnahme dazu zu scheiden“.[3]

Heute dient Wissenschaft häufig auch der Förderung privater Sonderinteressen, oder sie erliegt Modeströmungen, deren Wechsel sich in der Ablösung älterer –Ismen durch jüngere manifestiert. Das Jüngere ist aber nicht immer das Bessere. Gegen die Vermischung von öffentlichen und privaten Anliegen in der Wissenschaft sowie von Sachlichkeit, politischen Ideologien und blossem Wortgeklingel würde Weber heute vermutlich ebenfalls zu Felde ziehen.

Das Wertfreiheitspostulat verlangt aber nicht, dass die Werte-Dimension aus den Wissenschaften ausgeklammert wird. Mit Werten beschäftigen sich diese sogar auf verschiedenen Ebenen: In der Entwicklungspsychologie etwa wird erforscht, wie sich die Fähigkeit zu Werturteilen entwickelt, und in der Soziologie und Politologie, weshalb bestimmte Personen unter bestimmten Bedingungen bestimmte Werturteile vertreten. Die semantischen Beziehungen zwischen Wertausdrücken sind ein Forschungsfeld für Logik, Linguistik und Philosophie. Beispielsweise ist nicht alles, was illegal ist, auch unethisch, und nicht alles, was unethisch ist, illegal.

Webers Postulate sind selber normativ, aus wissenschaftlicher Forschung also nicht logisch ableitbar. Sie lassen sich als Ergebnis einer Reflexion auf implizite, ungeschriebene Regeln verstehen, die die wissenschaftliche Tätigkeit vor anderen Tägigkeiten auszeichnet.

Weber erwartete von Wissenschaftlern aber auch ein ethisches Engagement. Davon zeugt seine Entgegensetzung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik: „(…) es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt (…) oder unter der verantwortungs-ethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“[4] Verantwortungsethikerinnen und -Ethiker schätzen ab, welche Folgen und Nebenfolgen die Anwendung ihrer Forschung haben können. Sie berechnen, wenn möglich, nicht nur ihre Wahrscheinlichkeit, sondern gewichten und werten auch das Ergebnis dieses Kalküls. Technikfolgenabschätzung ist inzwischen ein bedeutender Zweig der Wissenschaften.

Verantwortungsvolle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können und sollen Wertungen also nicht ausweichen. Dies gilt erst recht für die Wissenschaften, die sich in den Dienst nachhaltiger Entwicklung stellen. Hans Jonas hat mit seinem „Prinzip Verantwortung“ (1979) dazu eine philosophische Grundlegung geliefert.[5]

Doch was sind Werte und welche Funktion hat die „Ethik“? Werte sind aus Fakten nicht ableitbar. Ein Faktum, eine Tatsache, kann bestehen oder nicht bestehen. Das gilt auch für soziale Tatsachen, die z.B. durch politische Entscheidungen geschaffen werden. Werte hingegen sind keine Tatsachen. Ihr Status ist philosophisch umstritten. Thomas Nagel hält bestimmte Werte, wie Schmerzfreiheit und die Freiheit von extremer Entbehrung, für universell gültig,[6] was ihnen einen quasi objektiven Status verleiht. Dies könnte auch für den Wert der Artenvielfalt und die „intrinsischen Werte“, von denen im IV.Teil die Rede ist, gelten. Andererseits haben Werte eine subjektive Seite. Wir sprechen sie Personen, Handlungen, Dingen usw. zu, und vielfach werten verschiedene Personen dasselbe unterschiedlich. Zu unterscheiden sind ästhetische Werte (schön/hässlich), ökonomische (teuer/billig, effizient), religiöse (heilig/verdammt), und ethische (altruistisch/egoistisch, einfühlsam/gefühllos usw.). Ethik hat es also nur mit einem Teilbereich der Werte zu tun – mit Werten etwa, die wir Absichten (gut/böse), Haltungen (diskret/indiskret), menschlichen Charakteren (ehrlich/unehrlich, freigiebig/geizig usw.), aber auch Gruppenverhalten (rücksichtsvoll/rücksichtslos) und sogar Institutionen (gerecht/ungerecht, transparent/intransparent usw.) zusprechen. Ethik kreist um Fragen wie die nach den Möglichkeiten, Schlechtes zu minimieren und Gutes zu maximieren (so die utilitaristische Ethik), oder die, welche Normen bzw. Regeln sich als Grundlage für ein friedliches und allen förderliches Zusammenleben bewähren (Kantische Ethik). Die moderne abendländische Ethik befasst sich vor allem mit Rechten (z.B. den Grund- und Menschenrechten) und den korrespondierenden Pflichten oder Normen (meist Verboten zum Schutz von Rechten). Anderer Art sind Tugend-Ethiken, die menschliche Haltungen bewerten. Die meisten Ethiker sind sich einig, dass Werte und Normen einer sorgfältigen Analyse bedürfen, um die Gefahr der Beliebigkeit beim Reden über sie zu bannen.

Wissenschaft selbst ist ebenfalls von Werten und Normen oder Regeln bestimmt, die Wissenschaftler zu beachten haben. Manche Werte – Widerspruchsfreiheit, Einfachheit, Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit – betreffen die Verfassung von Theorien und haben mit Ethik nichts zu tun. Für Forschungsprozesse existieren normative Vorgaben in Gestalt fachspezifischer Methoden, die korrekt oder unkorrekt (beides Werte !) angewendet werden können. Vom Gebot der Ehrlichkeit abgesehen, haben auch sie mit Ethik nicht viel zu tun. Popper versuchte, die Regeln wissenschaftlicher Forschung zu explizieren: Man bildet Hypothesen, wobei klar sein muss, unter welchen Umständen sie als widerlegt gelten. Eine widerlegte Theorie muss sofort aufgegeben werden. Poppers Thesen gelten heute als überholt. Unbestritten ist hingegen, dass Wissenschaft eine normative Basis hat und regelgeleitet ist. Andernfalls wäre es unmöglich, zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Tätigkeiten eine Grenze zu ziehen. Diese Regeln der Wissenschaft sind allerdings wandelbar und nicht immer ausdrücklich festgelegt.

Manche Regeln sind so elementar, dass wir kaum an sie denken. Ein Wissenschaftler muss über Kriterien zur Unterscheidung zwischen wahr und falsch, logisch korrekt und inkorrekt, methodisch sauber und unsauber usw. verfügen, und er muss zwischen Kausalbeziehungen und Handlungsmotiven sowie zwischen Kausalität, statistischen Beziehungen und Feld-effekten differenzieren können. Ferner muss er sich mit seinesgleichen austauschen und kooperieren, sich auf ungewohnte Standpunkte einlassen und die eigenen Überzeugungen aus einer fremden Perspektive reflektieren können. Dies alles mag uns trivial erscheinen, weil wir Ähnliches auch von erwachsenen Laien erwarten.

Von kleinen Kindern erwarten wir dies alles noch nicht. Das wissenschaftliche Prozedere (Hypothesen bilden und testen…) ist – in der Sprache des Entwicklungspsychologen Jean Piaget – „formal operativ“, die Denkweise von kleinen Kindern dagegen „präoperativ“. Kleinkinder sind fähig zu intelligenten Fragen und verblüffenden Schlussfolgerungen, doch sollte man von ihnen nicht verlangen, dass sie diese auch methodisch und konsequent vorantreiben. Das kindliche Denken bewegt sich teilweise in animistischen Vorstellungen, gegen die sich die Wissenschaft abgrenzt, und es ähnelt in bestimmten Phasen einer Protologik, die wir aus Mythen und Märchen kennen.

2. Was heisst Dezentrieren?

Die Fähigkeit, Perspektiven zu koordinieren, gehört zu den normativen Grundlagen der Wissenschaft. Das ist so selbstverständlich, dass Wissen-schaftstheoretiker die Bedeutung dieser Fähigkeit meistens gar nicht eigens erwähnen. Perspektiven-Koordination ergibt sich aus Dezentrierungs-prozessen. „Dezentrieren“ bedeutet, sich aus der Befangenheit im eigenen Standpunkt zu lösen und diesen von aussen zu reflektieren. Dem entspricht im Kern das eingangs erwähnte Postulat Max Webers.

Piaget hat in der geistigen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen eine Folge solcher Dezentrierungsprozesse nachgewiesen.[7] Sie sind grundlegend für die Entwicklung des Selbstbewusstseins, der Raumvorstellungen, des logisch-mathematischen Denkens, des moralischen Urteilsvermögens usw. Auch die Fähigkeit, seine Handlungen zu planen, Strategien zu entwickeln, mit anderen zu kooperieren, Vereinbarungen auszuhandeln hängen davon ab – kurz, die Fähigkeit, Wissenschaft zu treiben und sich dabei die eigenen Wertungen selbstkritisch zu vergegenwärtigen…

Werfen wir also einen Blick auf die Funktionsweise von Dezentrierungs-vorgängen! Ihr Gegenstand sind in erster Linie Gesichts- oder Standpunkte bzw. Perspektiven und in zweiter Linie alles, was irgendwie Standpunkt- bzw. Perspektiven-bezogen ist. So müssen Säuglinge zunächst lernen, den eigenen Gesichtspunkt – im räumlichen wie im sozialen Sinn – von anderen zu unterscheiden. In einem weiteren Schritt lernen sie, diese Gesichts-punkte aufeinander zu beziehen oder miteinander zu koordinieren. Koordination dieser Art schärfen zunehmend das Bewusstsein der eigenen Person. Die Reaktionen, die wir von anderen Personen auf unser Verhalten bekommen, sind wichtige Bausteine für unsere Selbsteinschätzung. Dezentrierungsprozesse liegen auch unserer Vorstellung von Gegen-ständen, Räumen, Landschaften und abstrakteren Dingen, wie Mengen, Kräften usw., zugrunde. Ein Baby, das vor seinen Augen eine Puppe hin- und herbewegt und nach verschiedenen Seiten dreht, setzt die verschiedenen Ansichten dieser Puppe zueinander in Beziehung. Wenn es durch ein Zimmer kriecht und dabei beobachtet, wie sich mit jeder Ortsverschiebung die Anordnung der Stuhlbeine verändert, experimentiert es mit der Koordination räumlicher Perspektiven. Ein Kleinkind, das eine Handvoll Murmeln nacheinander zu verschiedenen Arrangements gruppiert, erforscht verschiedene Konfigurationen dieser Murmelsammlung. Indem es sie einem und demselben Ensemble mit stets denselben Elementen zuordnet, erwirbt es den Mengenbegriff.

Piaget hat solche Dezentrierungsprozesse in unterschiedlichen kognitiven Bereichen aufgedeckt. Ein plastisches Beispiel ist das Verständnis räumlicher Beziehungen: Ein- bis zweijährige Kinder unterscheiden noch nicht zwischen rechts und links. Vier- bis Fünfjährige kennen diese Unterscheidung, verwechseln aber, wenn sie einem anderen Kind gegenübersitzen, dessen rechten und linken Arm, weil sich der rechte dem eigenen linken gegenüber befindet und der linke dem eigenen rechten. Mit sieben bis acht Jahren gelingt es den meisten Kindern, von einem imaginären äusseren Standort aus die eigene Position mit derjenigen des anderen Kindes zu koordinieren und überwinden damit die Konfusion von links und rechts.

Die Goldene Regel – „Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füge auch keinem anderen zu!“ – ist eine ethische Regel, die Dezentrierung gebietet. Ein Kleinkind, das einem anderen das Spielzeug wegnimmt, denkt noch nicht daran, wie es sich fühlen würde, wenn jemand ihm sein Spielzeug wegnähme. Von etwas älteren Kindern darf man diese Überlegung jedoch erwarten. Die Goldene Regel, die diese Überlegung zur allgemeine Vorschrift macht, ist auf höherer Ebene aber selbst egozentrisch: Es ist noch besser, andere so zu behandeln, wie sie selbst es sich wünschen, denn Menschen haben unterschiedliche Vorlieben.

Dezentrierungsprozesse verlaufen über mehrere Etappen: Eine scheinbar fest begründete Überzeugung gerät ins Wanken, die Zweifel verstärken sich, man entdeckt neue Sichtweisen ohne Bezüge zueinander und neigt zu einer relativistischen Einstellung: „Anything goes!“ Indem man seine ursprüng-liche Sichtweise gegen die neu entdeckten Sichtweisen abwägt, gewinnt man eine umfassendere Orientierung. Ehemalige Selbstverständlichkeiten werden nun als Dogmen entlarvt. Typisch für anfängliche Zentrierungen ist eine gewisse Blindheit für den eigenen Standpunkt und die Unfähigkeit zur Selbstkritik. Egozentrismus, Eurozentrismus, Geozentrismus, Rassismus, Anthropozentrismus usw. sind Beispiele.

3. Dezentrierung und Perspektiven-Koordination in den Wissenschaften

Wie oben angedeutet, verdankt sich wissenschaftlicher Fortschritt wesentlich Dezentrierungsprozessen.[8] Beispiele sind die Entdeckung, dass wir nicht im Zentrum des Universums ruhen, sondern auf einem peripheren, beweglichen Planeten leben, dass Homo Sapiens nicht die Krone der Schöpfung, sondern eine Spezies unter hunderttausenden anderen ist, die sich über Jahrmillionen auseinander entwickelt haben, oder die Relativierung von Qualität und Zuverlässigkeit unserer Vernunftfähigkeit durch Sigmund Freud: Was wir gewöhnlich für freie, wohlüberlegte Entscheidungen halten, sind oft blosse Rationalisierungen halbbewusster oder unbewusster Impulse und Strebungen.

Abrupte Dezentrierungsprozesse lösen nicht selten Konflikte mit traditio-nellen Überzeugungen und religiösen Credos aus. Von deren Vertreterinnen und Vertretern werden sie als Bedrohung und Kränkung erlebt, führen aber schliesslich zu substantiellen Veränderungen unseres Weltbilds.

Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes den Weg zum Wissen als„Weg des Zweifels(…) oder eigentlicher als (…) Weg der Verzweiflung“ bezeichnet.[9] Dem fügte Max Weber später hinzu, „der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis“.[10]

Zweifel, Verunsicherung und (mit Nietzsche zu sprechen) eine Umwertung wenn nicht aller, so doch mancher Werte sind häufig der Preis für geistige Horizonterweiterung. Als Gewinn winkt eine Öffnung zu grösserer Bescheidenheit und Toleranz dank einem komplexeren Weltbild. Diesen Schritt haben Hegel und Piaget (unabhängig voneinander) als „Umkehrung des Bewusstseins“[11] beschrieben oder als Re-volution, denn er wird von einer Re-flexion auf die eigene Stellung begleitet.

Dauert die Verunsicherung zu lange, so kann sie eine Flucht in neue Dogmatismen auslösen. Aus der Kränkung durch Darwins Lehre sind das Dogma vom „Überleben des Stärkeren“, statt des besser Angepassten, und die Verherrlichung des Wettbewerbs als vermeintliche Basis aller Lebensprozesse hervorgegangen, als ob Überleben und Fortpflanzung nicht auch von Kooperation und gegenseitiger Hilfe, häufig sogar über Artgrenzen hinweg, abhingen. Seit Jahrzehnten gelten Wettbewerb und Unternehmensgrösse auch in der Wirtschaft als sakrosankt. Die Bedeutung von Kooperation und Solidarität wurde übersehen, und so hat sich eine Kluft zwischen einer superreichen „Elite“ und mittellosen Bevölkerungsschichten geöffnet, die die Weltwirtschaft insgesamt destabilisieren könnte.

Wenn Einsteins Relativitäts-Theorie oft als Paradigma für den Fortschritt der Wissenschaft herhalten muss, dann deshalb, weil sie besonders eindrücklich veranschaulicht, was es heisst, dass etwas ehemals absolut Gesetztes – das Sonnensystem – seinen Status verliert und in ein umfassenderes Bezugsnetz eingeht wird. Durchs Universum rasen Milliarden Sonnen auf milliardenfach verschiedenen Bahnen, doch folgen sie alle denselben Gesetzen…

II. Dezentrieren, falsche Dogmen überwinden: eine Aufgabe, die Wissenschaft und Bildung für Nachhaltige Entwicklung verbindet

Im ersten Teil wurde erläutert, was unter „Dezentrierungsprozessen“ zu verstehen ist, und in Erinnerung gerufen, dass solche Prozesse immer schon zum Geschäft der Wissenschaft gehört haben. Zum Begriff der Dezentrierung gelangt man leicht auch, wenn man analysiert, wie Max Weber sich den Umgang des Wissenschaftlers mit Werten vorgestellt hat. In dem nun folgenden zweiten Teil geht es um die Bedeutung solcher Prozesse im Bereich einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung (= BNE) und um eine Analyse der Unterschiede zwischen Dezentrierungsprozessen im Kontext reiner Wissenschaft einerseits und von BNE andererseits.

4. Dezentrierungsprozesse auf dem Weg zu Nachhaltiger Entwicklung

„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“[12]

Nachhaltige Entwicklung (= NE) verbindet die Visionen der Zukunftsfähigkeit und der Gerechtigkeit miteinander. Daraus erwächst eine Reihe von Herausforderungen, zu deren Bewältigung Dezentrierungsleistungen unvermeidlich sind. Wie für die Wissenschaft sind Dezentrierungsprozesse also auch für NE grundlegend. Es darf nicht verwundern, dass NE deshalb mit Zweifeln, Umwertungen und Kränkungen flankiert ist. Die verbreitete Weigerung, den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel ernstzu-nehmen und sich mit diesem Einfluss auseinanderzusetzen, erinnert an die Trotzreaktion gekränkter Narzissten. Auch die Vorstellung, dass das Elend der „Bottom Billion“[13] systemisch nicht unabhängig ist vom Wohlstand in unseren Breiten und daher eine ethische Herausforderung darstellt, übersteigt den Horizont von Egozentrikern. In den Worten von Amartya Sen:

„Über egozentrische Beweggründe hinaus denken muss man (…), wenn man verstehen will, warum viele Menschen sich verpflichtet fühlen, bedrohte Populationen vor Umweltschäden zu schützen, die nicht unmittelbar das Leben dieser Umweltschützer selbst beeinträchtigen. Die Gefahr, dass zum Beispiel die Malediven oder Bangladesch überflutet werden, wenn der Meeresspiegel weiter steigt, kann die Gedanken und Handlungen vieler Menschen beeinflussen, obwohl sie selbst nicht der Gefahr ausgesetzt wären, die Bewohner tief liegender Gegenden fürchten müssen.“[14]

Noch anspruchsvoller ist die Zumutung, unseren Lebensstil zugunsten künftiger Generationen zu verändern: Warum sollen wir zum Wohle von Menschen, die erst lange nach uns leben werden, mit denen wir also nie in Kontakt treten können, Kompromisse eingehen? Zu den Zielen von NE gehört schliesslich der Schutz der Artenvielfalt und ihrer Grundlagen – ein Anliegen, das nach völliger Überforderung klingt. Empfinden wir aber nicht jede Aufgabe, deren Lösung Dezentrierungen erfordert, anfangs als Zumutung? Sie in Mut-zur-Aktion zu verwandeln, ist im Kern die Aufgabe von BNE.

5. Der anthropozentrische Standpunkt: Menschliche Interessen als absoluter Bezugspunkt von Wissenschaft, Technik und Ethik

Auch wer nicht in Ethnozentrismus und Rassismus befangen ist, vertritt wahrscheinlich einen anthropozentrischen – auf menschliche Interessen zentrierten – Standpunkt. Peter Singer nennt ihn „Speziesismus“.[15] Seine Vorzüge liegen auf der Hand: Er belastet sich weder mit theologischen Prämissen noch mit Motiven, die menschlichen Interessen zuwiderlaufen. Diese Interessen sind teils kurzfristiger, teils langfristiger Natur und können sich widerstreiten. Raubbau an der Natur entspricht kurzfristigen Interessen, ihre Schonung langfristigen. Die herrschenden ökonomischen Zwänge resultieren meist aus einer kurzsichtigen Optik. Effizienz und wirtschaftliche Produktivität sind zudem bloss instrumentelle Werte. Man kann sie nicht ohne Perversion zum Selbstzweck erklären. Wer das Wirtschaftswachstum heilig spricht, lässt die Ziele ausser Acht, deren Realisierung wirtschaftliche Tätigkeit überhaupt erst als Mittel zum Zweck erforderlich macht.

5.1. Anthropozentische Ethiken fokussieren auf das Verhältnis zwischen Menschen

Die meisten traditionellen Ethiken sind auf zwischenmenschliche Verhältnisse ausgelegt – das Verhältnis zwischen mir und dir, zwischen dem Einzelnen und seinem Kollektiv und zwischen verschiedenen Gesellschaften (einschliesslich Nationen, wirtschaftliche Unternehmen, multinationale Konzerne usw.). Die Horizonterweiterungen der Ethik bzw. Moral von der Kleingruppe (etwa bei Jäger- und Sammler-Gesellschaften) über staatliche Gesellschaften bis zur „Weltgesellschaft“ in der Ära der Globalisierung wurden in mühevollen, ich über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende hin-ziehenden und von zahlreichen Rückschlägen begleiteten Dezentrierungsprozessen errungen. All diese Horizonterweiterungen erfolgten allerdings im Wesentlichen auf anthropozentrischer Grundlage.

Diese Beschränkung hat plausible Gründe, die hier nicht ausführlich erläutert zu werden brauchen. Wir interagieren und kommunizieren mit unseresgleichen und unterstützen uns dabei gegenseitig. Diese Interaktion involviert allein schon vielfältige Dezentrierungsprozesse. Beispielsweise beeinflusst die Weise, wie unser Gegenüber auf uns reagiert, unser Selbstwertgefühl, und umgekehrt kann sich auch unser Umgang mit anderen Personen auf ihre Selbsteinschätzung auswirken. Schon Kinder interessieren sich zunehmend dafür, wie sie bei ihresgleichen ankommen. Erwachsene reflektieren zudem auf ihr Verhältnis zur Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlen. Wer ein Amt ausübt, achtet zumeist darauf, wie seine Amtsführung auf die Betroffenen wirkt und wie er ihre Einstellung günstig beeinflussen kann. Zu den Grundlagen der Ethik gehört die gegenseitige Achtung zwischen den Menschen, was den wechselseitigen Respekt für ihre Rechte, ihre Autonomie und die Grundlagen ihres Selbstwertgefühls einschliesst.[16]

Anthropozentrische Einstellungen werden in der Ethik nur selten und nur ansatzweise transzendiert – etwa vom Utilitarismus und von der Ethik Albert Schweitzers, die beide das Verhältnis von Mensch und Tier mit-reflektieren, dabei aber in erster Linie (wenn auch nicht ausschliesslich) höhere Säugetiere im Auge haben. Eine darüber hinausgehende Dezentrierung weisen insbesondere asiatische Ethiken auf, etwa solche buddhistischer Tradition. Die Frage nach der Verantwortung der gegenwärtigen Generation für künftige Generationen und ihre Lebensbedingungen – bzw. allgemein das Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit – ist in systematischer Weise erst in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts gestellt worden.[17] Damit tritt auch erstmals das Verhältnis des Menschen zu niedrigeren Organismen und zur anorganischen Natur in den Blick.

5.2. Der Anthropozentrismus und seine Grenzen

Die Frage, die es hier zu diskutieren gilt, lautet: Reichen anthropozentrische Ethiken für eine Umstellung von Wirtschaft und Technologie auf Zukunftsfähigkeit aus? Nachhaltige Entwicklung (= NE) hat es in einer von kurzfristigen Rentabilitäts-Imperativen regierten Welt schwer, sich durchzusetzen. Unregulierte Märkte favorisieren auf zeitnahe Ziele gerichtete Anliegen. Auch die Politik agiert tendenziell kurzatmig: Entscheidungen, die nicht der Wählergunst entsprechen, könnten zur Abwahl der Regierung führen. Je ferner die Zukunft, auf die sich ein Anliegen bezieht, desto geringer sind die Chancen seiner Mehrheitsfähigkeit.

Die anthropozentrische Optik ist zwar wesentlich umfassender als der Blickwinkel bei einer Fokussierung kurzfristiger regionaler Gewinn-Interessen. Dennoch stellt sich die Frage, ob anthropozentrische Sichtweisen umfassend genug sind, um dem Anliegen der NE die notwendige Schubkraft zu verleihen. Es geht ja darum, die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten insgesamt zu erhalten. Weil Zweifel angebracht sind, stellt sich die weitere Frage, ob und inwieweit wir imstande sind, eine rein anthropozentische Weltsicht wenigstens dort zu überwinden, wo sie für die Zielerreichung einer NE nicht ausreicht.

Diese Frage zieht eine Reihe weiterer Fragen nach sich: Welche umfassenderen Standpunkte stehen uns überhaupt zur Verfügung, und welche Motivationskraft vermögen sie zu entfalten? Zur Diskussion stehen der „Pathozentrismus“ (mit einer Fokussierung der Leidensfähigkeit von Tieren), der „Biozentrismus“ (auf Lebensprozesse und Biodiversität fokussiert) und der „Physio-“ oder „Ökozentrismus“ (der auch auf den Schutz der anorganischen Natur bedacht ist).[18] Diese Standpunkte will ich im Folgenden näher betrachten.

Standpunkte zur
Begründung von NE
Werte „an sich“,
intrinsische Werte
Instrumentelle Werte

Zentrierung auf
Wirtschaftsförderung

Gewinnmaximierung (Verabsolutierung
eines instrumentellen Werts)

Alles, was zu Lasten aller
intrinsischen Werte
(kurzfristige) Gewinne erhöht

Anthropozentrismus

Menschliche (kürzer- und
längerfristige) Interessen

Alles, was menschlichen Inter-
essen dient


Pathozentrismus

Menschliche Interessen und
Minimierung allen menschli-
chen und tierischen Leidens

Alles, was menschlichen
Interessen und der Verminderung
von tierischem Leiden dient



Biozentrismus

Menschliche Interessen, Leidensminimierung (für alle leidensfähigen Wesen) und
Eigenwert der organischen
Natur (des Lebens)

Alles, was menschlichen
Interessen, der Leidens-
verminderung und der organi-
schen Natur insgesamt dient


Physiozentrismus

Menschliche Interessen,
Leidensminimierung und
Eigenwert der belebten
wie der unbelebten Natur

Alles, was zur Erde und zur
Biosphäre gehört, und alles,
was ihrem Fortbestand dient

Erläuterungen zur Tabelle: Von oben nach unten wird das von der jeweiligen Position erschlossene „Werte-Universum“ immer reicher und die Domäne ethische Handelns immer weiter. Der Inhalt jeder Zeile in der Tabelle umfasst auch den Inhalt der darüber liegenden Zeilen. Die Positionen lassen sich auch als ineinander liegende Kreise darstellen: Wirtschaftsförderung entspricht dem innersten und engsten Kreis, der Physiozentrismus dem äussersten und weitesten. Je umfassender eine Position, desto weitläufigere biologische Verwandtschaftsbeziehungen gilt es zu berücksichtigen. Unsere Fähigkeit zur Empathie mit Lebewesen nimmt aber mit zunehmend entfernter Verwandtschaft ab. Damit verringert sich der Wert, den wir den betreffenden Arten zusprechen, und unser Interesse, sie zu schützen. Es findet eine Inflationierung der Werte statt – als Folge der Dezentrierung. Je grösser also der Umfang (die Extension) des vertretenen Schutz-Anliegens, desto geringer wird die Schubkraft (die Intensität) der Argumentation, die wir dafür ein-setzen können. Anders gesagt, je weiter wir die Dezentrierung vorantreiben, desto stärker wird der Utopie-Verdacht. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt!

Tatsächlich erscheint die Hoffnung berechtigt, dass sich die argumentative Kraft der anthropozentrischen Sichtweise stärken lässt, wenn man sie in geeigneter Weise mit der pathozentrischen, biozentrischen bzw. physiozentrischen Sichtweise verbindet. Im Folgenden soll anhand eines Durchgangs durch die Tabelle von oben nach unten angedeutet werden, wie man diese Kombinationen aus der anthropozentrischen mit der einen oder anderen umfassenderen Position argumentativ nutzen könnte.

6. Pathozentrismus

6.1. Verhältnis zwischen Mensch und Haustier

Hundehalter pflegen zu ihrem Vierbeiner oft eine enge emotionale Beziehung und kommunizieren mit ihm in menschlicher Sprache. Mit Katzen ist die Kommunikation schwieriger, unsere Empathiebeziehung entsprechend lockerer. Immerhin reagieren Katzen auf unsere Stimmungen, und das sichert ihnen einen Logenplatz in der Tierethik. Schwächer ist unsere Einfühlung in kleinere Haustiere – Vögel, Rennmäuse usw. – und erst in Aquariumsfische. Haustieren gegenüber haben wir aber grundsätzlich eine Verantwortung: Sie haben ein Recht darauf, dass wir ihnen vermeidbares Leiden ersparen. Der Anreiz, dieser Verantwortung auch wirklich nachzukommen, hängt aber (mindestens teilweise) von unserer Einfühlungsfähigkeit in die jeweiligen Haustieren ab. Diese Empathiefähigkeit gilt es gegebenenfalls zu schulen.

6.2. Verhältnis zwischen Mensch und Nutztier

Im Vordergrund stehen hier Nützlichkeits- und/oder wirtschaftliche Interessen. Das schliesst nicht aus, dass wir uns in unsere Nutztiere einfühlen. Imker pflegen eine emotionale Beziehung eher zu ihren Bienenvölkern als zu einzelnen Bienen. Tiere, die wir nur züchten, um sie danach zu essen, fallen (ausser Schweinen und Geflügel) nicht unter den Begriff der Nutztiere. Doch auch zur Schlachtung dieser Tiere wären viele Menschen nicht in der Lage, weil ihre Empathie mit ihnen dafür zu stark ist. Wohl niemand würde Mehlwürmer oder Heuschrecken, deren Zucht als Beitrag zur künftigen Ernährung im Gespräch ist, als Nutztiere bezeichnen, und unsere Empathie ist hier auch wesentlich schwächer.

6.3. Kants Argument gegen Tierquälerei und seine Bedeutung für die Anliegen der NE

Kant sprach Tieren keinen Eigenwert zu. Er begründete das Verbot, Tiere zu quälen, mit dem Argument, „weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden abgestumpft“ wird. Diese Abstumpfung würde den Menschen verrohen, seine Empathiefähigkeit mit seinesgleichen schädigen.[19] Kants instrumentelles Verhältnis zu Tieren weckt zwar Befremden, erscheint aus anthropozentrischen Sicht aber konsequent. Kritisieren lässt es sich nur von einem weiter dezentrierten – pathozentrischen oder biozentrischen – Standpunkt aus. Blickt man genauer hin, so erscheint Kants instrumentelles Argument als gar nicht so schwach. Es überzeugt zunächst einmal insofern, als wir Tiere nicht als gefühllose Maschinen, sondern als uns Menschen ähnliche, leidensfähige Wesen betrachten: Wir sollen Tiere so behandeln, als wären sie quasi menschliche Personen. Damit werten wir die Tiere auf.

Noch stärker erscheint Kants Argument, wenn wir es gleichsam von hinten her lesen: Ob wir tatsächlich menschlich handeln, zeigt sich daran, dass wir mit Tieren schonungsvoll umgehen. Die pathozentrische Einstellung stärkt und erweitert also die Grundlage des Anthropozentrismus.

Die pädagogische Bedeutung dieses Arguments ist nicht zu unterschätzen, denn es macht deutlich, dass der- oder diejenige, die anderen Wesen Respekt entgegenbringt, selber Respekt verdient: Wer sie gut behandelt, veredelt sich damit als Mensch. Dieser Gedanke stellt den Anthropozentrismus auf eine solidere Grundlage und verstärkt seine argumentative Kraft. Die Angleichung unserer Behandlung nicht-menschlicher Lebewesen an die Art, wie wir Menschen behandeln, setzt allerdings einen Dezentrierungs-Akt voraus: Wir müssen vom vermeintlichen Sonderstatus des Menschen abstrahieren.

Die Pädagogik kennt eine verwandte Empfehlung: Erzieher sollen Kinder so behandeln, als verfügten sie bereits über die Fähigkeiten, die sie sich erst aneignen. Damit werden sie zum Erwerb der betreffenden Fähigkeiten angeregt und das Gefühl der Aufwertung stärkt ihr Selbstvertrauen.[20] Gleichzeitig – so kann man in Anlehnung an Kant sagen – adelt dieses Verhalten den Erzieher.

7. Biozentrismus

7.1. Verhältnis zwischen Mensch und „niederen“ Tieren

Die Unterscheidung zwischen Nützlingen und Schädlingen treffen wir aus anthropozentrischer Perspektive. Schon prähistorische Horden dürften im Tierreich eine ähnliche Differenzierung vorgenommen haben. Nützlinge sorgen für einen gesunden Stoffwechsel in unseren Äckern und Gärten, tragen durch Bestäubung oder Samentransport zur Ausbreitung von Nutzpflanzen bei und halten Schädlinge in Schach. Wenn wir Nützlinge ausrotten, schaden wir uns selber. Schädlinge hingegen bekämpfen wir mitleidlos.

Viele Tiere entziehen sich dieser Unterscheidung. An Schlangen- und Spinnenpopulationen freuen wir uns, solange sie nicht überhand nehmen und uns nicht stören. Das Überleben der Tigermücke, die diverse Krank-heiten überträgt, werten wir hingegen klar negativ.

Kants anthropozentrisches Argument gegen Tierquälerei gilt abgeschwächt auch gegenüber „niederen“ Tieren: Die Humanität des Menschen zeigt sich nicht zuletzt in der Achtung auch dieser Kreaturen. Sie zu achten bedeutet, ihr Lebensrecht, ihre Lebensweise, ihre Existenz zu respektieren. Das schliesst nicht aus, dass wir sie auch töten dürfen, nur müssen wir ihnen dabei Qualen ersparen, und der Tötungszweck sollte gegenüber dem intrinsischen Wert des Tieres höherrangig sein. Das ist beispielsweise kein Problem, wenn Myriaden von Mücken uns stechen wollen: Der Eigenwert jedes Exemplars konvergiert gegen Null. Je stärker sich die Art jedoch dem Aussterben nähert, desto weniger empfinden wir sie als Plage und desto mehr steigt der intrinsische Wert jeder Mücke wegen ihrer zunehmenden Seltenheit.

7.2. Verhältnis zwischen Mensch und Pflanzen

Nutzpflanzen dienen unserer Ernährung, liefern erneuerbare Kraftstoffe, befriedigen ästhetische Bedürfnisse usw. Wir freuen uns an ihrem Duft, ihrer Farbenpracht, ihren Formen, ihrem Wuchs und – natürlich – am wirtschaftlichen Ertrag, den sie liefern. Mit Pflanzen empfinden wir jedoch kaum Empathie. Der Umstand, dass wir einzelne Pflanzen mit gentechnischen Mitteln massschneidern und andere mit Agrargiften vernichten, verrät eine überwiegend instrumentelle Einstellung: Es kümmert uns wenig, wenn Kleinlebewesen dabei kläglich zugrunde gehen. Alarmiert sind wir erst, wenn Arten, an die wir uns gewöhnt haben, aussterben. Als Alarmglocke fungiert nicht das Mitgefühl (in eine Spezies, ein Kollektiv, kann man sich nicht einfühlen), sondern die Erwartung ihres irreversiblen Verlusts. Arten messen wir einen höheren Wert bei als Individuen (zum Artenschutz später mehr).

Wenn wir Pflanzen instrumentalisieren, blenden wir gerne die erstaunlichen Fähigkeiten aus, über die sie verfügen: Pflanzen reagieren nicht nur auf Licht und Farben, sondern auch auf Gerüche, Berührungen, Geräusche. Selbst Gedächtnisleistungen finden sich bei Pflanzen.[21] Dass sie auch leiden können, lässt sich zumindest nicht a priori ausschliessen. Trotz fehlendem Bewusstsein und Nervensystem und trotz der Tatsache, dass sie vor Feinden nicht fliehen können, verfügen Pflenzen über Abwehrstrategien: Sie wehren sich mit chemischen Reaktionen gegen Fressfeinde, und viele Pflanzen verhalten sich so, als kommunizierten sie untereinander.

7.3. Verhältnis zwischen Mensch und Lebewesen allgemein

Als Devise des Biozentrismus eignet sich Albert Schweitzers Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Wir wissen nicht, ob Tiere ohne zentrales Nervensystem Empfindungen haben, obgleich vieles für diese Annahme spricht: Dass Tiere vor Feinden fliehen, verbessert ihre Überlebenschancen und sichert den Bestand ihrer Spezies. Sie würden wohl kaum fliehen, wenn sie die Annäheruneg eines Feindes als angenehm empfänden. Die Annahme, ihr Fluchtverhalten beruhe auf einem mechanischen Reflex, ist wenig plausibel. Wieso soll man ihnen also – mit einem anthropomorphen Wort – nicht ein gewisses Leiden unter Stress zuschreiben, wenn sie von einem Fressfeind verfolgt werden oder in eine Falle geraten?

Kants Argument gegen Tierquälerei lässt sich auch hier in Erinnerung rufen: Wir begegnen einem Lebewesen mit mehr Achtsamkeit, wenn wir ihm Leidensfähigkeit und (minimale) Willensimpulse zuschreiben, statt es für eine unempfindliche Reflexmaschine zu halten. Wer seine Handlungen pathozentrisch ausrichtet, beweist damit eine tiefere Menschlichkeit.

7.4. Artenschutz

Bei der Verteidigung von Artenschutz und Artenvielfalt versagen anthropozentrische Argumente auf halbem Wege. Dass wir Arten schützen wollen, die uns nützlich und angenehm sind, ist unkontrovers. Das gilt auch gegenüber Arten, die für unsere Nützlinge nützlich und für uns Menschen unschädlich sind. Das das ist noch kein Plädoyer zugunsten eines generellen Artenschutzes. Man kann zwar mit dem Risiko von Domino-Effekten argumentieren: Das Insektensterben zieht ein Vogelsterben nach sich, was wiederum den Bestand an Raubvögeln beeinträchtigen kann usw. Aus anthropozentrischer Sicht wäre eine reduzierte Artenvielfalt in den Tropen jedoch kein Unglück, vorausgesetzt sie ist stabil – so wie in den gemässigten Breiten.

Um zu begründen, warum jede einzelne Art wertvoll ist, müssen wir auf biozentrische Argumente zurückgreifen. Das ist nicht abwegig, wie das folgende Zitat von Amartya Sen belegt: „So könnte eine Person meinen, wir sollten tun, was wir können, um die Erhaltung (…) des Fleckenkauzes zu sichern. Es wäre kein Widerspruch, wenn diese Person sagte: ‚Mein Lebensstandard wäre weitgehend, sogar vollkommen unabhängig vom Überleben oder Aussterben des Fleckenkauzes – ich habe noch nie einen gesehen -, aber ich bin aus Gründen, die nichts mit dem Lebensstandard von Menschen zu tun haben, fest überzeugt, dass wir diese Käuze nicht aussterben lassen dürfen.“[22]

8. Physiozentrismus

Anthropozentrische Interessen erstrecken sich auch auf den Erhalt von Teilen der anorganischen Natur – Rohstoffen, Landschaften, Gebirgen, Seen usw. Für saubere Böden, eine intakte Atmosphäre und Klimastabilität gilt Analoges, ebenso für natürliche „Dienstleistungen“, wie die Photosynthese, das Sonnenlicht, das Gefrieren und Schmelzen von Gletschern usw. Wie begründen wir aber den Schutz derjenigen Dinge der Natur, mit denen wir keinen spürbaren Nutzen verbinden – den Schutz von Vulkanen, Wüsten, steinigen Böden, Höhlen oder der Meerestiefen? Wir könnten wiederum auf die Kettenreaktion verweisen, die ihr Verschwinden wahrscheinlich auslösen würde. Das wäre eine leicht nachvollziehbare instrumentalistische Begründung. Intuitiv plausibler ist die Auffassung, die diesen Naturdingen einen intrinsischen Wert zuschreibt. Ihr Verschwinden oder ihre Zerstörung würden wir als schweren Verlust empfinden.Aber argumentativ ist diese Auffassung schwieriger zu verteidigen, Das liegt am physiozentrischen Standpunkt.

9. Die anthropische Bedrohung

Aus biozentrischer Warte gibt es keine „Schädlinge“. Oder doch? Die Biologie lehrt uns, dass jede Spezies irgendeine oder mehrere Funktionen erfüllt. Mit dem Wegfall jeder einzelnen Spezies verschwindet auch ihre Funktion. Raubtiere verursachen ihren Beutetieren Stress, aber gleichzeitig regulieren sie ihren Bestand. Auch Heuschreckenschwärme sind aus biozentrischer Sicht keine Schädlinge. Sie verursachen ein vorübergehendes Ungleichgewicht, aber Ungleichgewichte sind in der Natur häufig und lösen Reaktionen aus, die ein neues Gleichgewicht anstreben. Die Pendelbewegung zwischen Räuber- und Beutepopulationen oszilliert zwischen zwei Maxima.

Schädlinge im biozentrischen Sinn sind am ehesten Arten, die andere verdrängen und eliminieren. Sie stiften nicht bloss vorübergehende Ungleichgewichte, sondern verursachen eine unumkehrbare Verarmung. Unter diese Schädlings-Definition fällt wohl nur ein einziger Kandidat – der Homo Sapiens. Seine „Alleinstellungsmerkmale“ sind das enorme Bevölkerungswachstum und die explosive Vervielfältigung technischer Hilfsmittel, von denen sich die Homines und Feminae Sapientes regelmässig schnellstmöglich abhängig machen.

Die Umweltbelastung durch besagte Spezies errechnet sich aus den Faktoren durchschnittliche Ressourcen-Ausbeutung pro Individuum und Individuenzahl. Beim Technologie-Einsatz sind es die Faktoren Ressourcen- und Energieaufwand pro Gerät und Anzahl Geräte. Bessere Ressourcen-Effizienz bei einem Gerätetyp führt bekanntlich nicht immer zu mehr Naturschutz. Die Vermehrung der Geräte verringert den Einsparungseffekt („Rebound Effekt“) oder verkehrt ihn ins Gegenteil („Backfire-Effekt“).

Drei Beispiele:

1. Verkehr: Effizienzsteigerung ermöglicht raschere und billigere Ortswechsel. Die Zahl der Verkehrsteilnehmer steigt, sie nehmen längere Wege in Kauf, der Verkehr wächst. Statt wie einst zu Fuss begeben wir uns mit dem Auto oder Zug zur Arbeit. Der Energie-Aufwand steigt, die Mobilität wird teurer.[23]

2. Beleuchtung: Seit Erfindung der Glühbirne wurde die elektrische Beleuchtung immer sparsamer, ihr Einsatz billiger. Die BeleuchtungsNachfrage stieg exponentiell, die Lampen wurden heller. Statt weniger verschlingen sie heute viel mehr Energie.

3. Seltene Erden: Elektronische Geräte werden immer kleiner, sparsamer und billiger. Ihre Anzahl steigt in beschleunigtem Tempo, die AnwendungsOptionen pro Gerät ebenfalls. Die Nachfrage nach Seltenen Erden steigt, statt dass sie sinkt.

10. Schluss und Fazit

Zwischen den Dezentrierungen in der Wissenschaft und in der NE besteht ein wesentlicher Unterschied: In der Wissenschaft verändern Dezentrierungen primär unsere Theorien und Weltbilder, in der NE betreffen sie hingegen unsere Haltungen und Einstellungen zur Beziehung Mensch-Natur. Sie müssten daher, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, unser Handeln beeinflussen.

Zwar werden wir unseren Anthropozentrismus vielleicht nie überwinden. Die Bereitschaft, uns für die Erhaltung der Lebensbedingungen auf unserem Planeten einzusetzen, dürfte aber auch steigen, wenn wir uns mit Werten identifizieren, die wir auf anthropozentrischer Grundlage nicht begründen können. Hilfreich hierfür in diesem Zusammenhang ist das von Kants Tierquälerei-Verbot abgeleitete Argument, dass sich an unserem Umgang mit nicht-menschlichen Lebewesen und ihren Lebensräumen zeigt, ob wir dem Prädikat der Menschlichkeit wirklich gerecht werden.


Dieser Text ist in einer ersten Fassung erschienen in: Bulletin der Vereinigung der Schweizerischen Hochschuldozierenden VSH/AEU, 45. Jahrgang Nr. 2, August 2019, S.11-19.

[1] Max Weber: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (Orig. 1917) In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr/Siebeck 71988. S.489-540, S.493.

[2] A.a.O., S.492, 494.

[3] A.aO., S.493.

[4] Max Weber: Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von J. Winckelmann, 5. Auflage Mohr Siebeck, Tübingen 1988, 551-552; Reclam-Band Schriften zur Sozialgeschichte und Politik, S.328.

[5] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt: Insel/Suhrkamp 1979.

[6] Thomas Nagel: Die Grenzen der Objektivität. Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 55, 59.

[7] Das Motiv der Dezentrierung ist in vielen Werken Piagets präsent. Beispiele: Jean Piaget: Abriss der genetischen Epistemologie. Olten: Walter 1974, bes. S.49; Jean Piaget/Bärbel Inhelder: Von der Logik de Kindes zur Logik des Heranwachsenden. Stutgart: Klett 1980, S.330. Zu Piagets Dezentrierungs-Theorie vgl. Thomas Kesselring/Ulrich Müller: The Concept of Egocentrism in The Context of Piaget’s Theory. In: New Ideas in Psychology, 2011, pp. 327-345.

[8] Jean Piaget: Weisheit und Illusionen der Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp 1965, S.181.

[9] Georg W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt: Suhrkamp (Werkausgabe, Band 3) 1974, S.72

[10] Weber, Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘, S.496.

[11] Georg W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S.79. Jean Piaget: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett 1969, S.155,219.

[12] Brundtland-Bericht, deutsche Ausgabe: Volker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp Verlag 11987, 21999, S. 51; Absatz 49 und S. 54 Absatz 1

[13] Paul Collier: The Bottom Billion: Why the Poorest Countries Are Failing and What Can Be Done about It. Oxford Univ Press, 2007.

[14] Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. München: Beck 2010, S.279.

[15] Peter Singer: Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam 1984, Kap. 3 (S.70-85).

[16] Das ist im Wesentlichen der Kern der Kantischen Ethik. Vgl. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt: Suhrkamp 1993. Fünfte bis siebte Vorlesung und S.306f.

[17] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt: Insel/Suhrkamp 1979.

[18] Martin Flügel: Umweltethik und Umweltpolitik. Eine Analyse der schweizerischen Umweltpolitik aus umweltethischer Perspektive. Fribourg: Universitätsverlag 2000, Kapitel 2.

[19] Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, I. Ethische Elementarlehre, § 17 (A 108).

[20] Dazu Goethe, Kiergekaard, Oser.

[21] Daniel Chamovitz: What a Plant Knows. A Field Guide to the Senses. New York: Scientific American 2012.

[22] Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit. München: Beck 2010, S.278f.

[23] Marcel Hänggi: Mobilität ist zu teuer (08.03.2018): (https://www.energiestiftung.ch/id-2017-4-mobilitaet-ist-zu-teuer.html)

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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