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Überlegungen zum Wachstumszwang

Autorin/Autor:

Michael Graff, 9. Mai 2015

Überlegungen zum Wachstumszwang

  1. Gegeben die jetzigen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse mit demokratischem Legitimitätsbedürfnis, erlaubt das Wirtschaftswachstum, politökonomische Konfrontationen zu vermeiden oder sie zumindest bis zum Ende dieser Wirtschaftsverfassung aufzuschieben. Die Legitimität stiftende Umverteilung ist nämlich nur aus den Zuwächsen systemverträglich, ansonsten hätte sie aus den Beständen zu geschehen, was sich die Besitzenden nicht gefallen liessen.
  2. Bei steigender Arbeitsproduktivität (P) kann Vollbeschäftigung nur durch anhaltendes Wachstum der Wirtschaft (W), eine kontinuierliche Abnahme der Erwerbsbevölkerung (E) oder durch systematische Verkürzung der Arbeitszeit (A) gesichert werden. Die gesamte Wirtschaftsleistung ergibt sich nämlich definitorisch aus W = E A P. Mit der Notation Wachstumsraten als Kleinbuchstaben erhält man daraus w = e + a + p, und die Vollbeschäftigungsbedingung lautet p = w –  a.
  3. Konstante Wachstumsraten bedeuten exponentielles Wachstum. Für p ist das erwünscht. Alle Wirtschaftsysteme seit der Industriellen Revolution beruhen oder setzen darauf. Die moderne ökonomische Wachstumstheorie sowie die Wirtschaftspolitik suchen nach Ansätzen, p womöglich noch zu steigern. Schliesslich wäre auch der Fortschrittsoptimismus gleich welcher politischen Schattierung ohne die Annahme eines vielleicht nicht immerwährenden, aber zumindest noch für lange Zeiten positiven Produktivitätswachstums nicht haltbar.
  4. Auf lange Frist ist ein von null verschiedener Wert für e zumindest aus heutiger Sicht nicht vorstellbar. Die Erwerbspersonen sind definitorisch ein Teil (genauer: eine echte Teilmenge) der Gesamtbevölkerung. Eine auf exponentiellem Pfad wachsende Erwerbsbevölkerung setzt daher längerfristig eine ebenso schnell wachsende bzw. schrumpfende Weltbevölkerung voraus. Im letzteren Fall stirbt die Menschheit aus, in ersterem gibt es auf der Erde in der Zukunft nicht einmal mehr genug Platz für alle zum Stehen. Ob ein anhaltend positiver Wert für e zwar jenseits des heute Vorstellbaren, aber nicht im Bereich des Unmöglichen liegt (Entkoppelung der Nahrungsmittelproduktion von der irdischen Biosphäre? Besiedlung des Weltalls?) mag dahingestellt bleiben. Zur Vollbeschäftigung kann bei steigender Arbeitsproduktivität nur ein negativer Wert für e beitragen, aber das damit zwingen verbundene Verschwinden der Menschheit setzt diesem Szenario eine definitive Grenze. Damit vereinfacht sich die langfristige Vollbeschäftigungsbedingung zu p = w – a.
  5. Mit einem unvermehrbaren Produktionsfaktor (natürliche Ressourcen) muss das materielle Wirtschaftswachstum w in endlicher Zeit eine Obergrenze erreichen. Immaterielles Wirtschaftswachstum ist nicht an Ressourcen gebunden und daher prinzipiell ohne Ende möglich, aber was soll das darstellen? Eine immer mehr vom Markt durchdrungene Gesellschaft? Und was soll nach einer vollständigen Ökonomisierung aller Lebensbereich noch zusätzlich an immaterieller Produktion nachgefragt werden? Wir können heute nicht wissen, inwieweit in der Zukunft die Entkoppelung des Wachstums von nicht erneuerbaren Ressourcen gelingen (oder auf ausserirdische Ressourcen zurückgegriffen werden) kann. Für die absehbare Zukunft ist allerdings eine vollständige Entkoppelung des Wirtschaftswachstums vom Verbrauch nichterneuerbarer Ressourcen kaum vorstellbar. Damit muss ein erwünschtes und prinzipiell unbeschränktes Wachstum p welches einem auf absehbare Zeit problematischem globalem Wachstum w vereinbart werden. Die Handlungsoptionen können bei w oder a oder einer Kombination von beiden ansetzen.
  6. Die erste Option ist, durch gezielten technischen Fortschritt und Reformen von Gesetze und Reglementen, Veränderung der relativen Preise und andere Anreize zu bewirken, welche zu sparsamerem Ressourceneinsatz führen. Wie oben angeführt, dürfte aber eine völlige Entkoppelung auf absehbare Zeit jenseits des Möglichen liegen. Zudem zeigen die bisherigen Erfolge bei der Verbesserung der Ressourceneffizienz, dass die damit verbundenen Kostensenkungen, da sie den finanziellen Spielraum der Betroffenen erhöhen, zu Mehrverbrauch führen, so dass sich der Ressourcenverbrauch im Endeffekt weniger als proportional zum Effizienzgewinn oder im Extremfall überhaupt nicht vermindert (Rebound-Effekt).
  7. Die zweite Option ist eine Reduktion der Arbeitszeit. Dem Produktivitätszuwachs p muss, wenn Vollbeschäftigung garantiert werden soll, nicht in vollem Umfang oder überhaupt nicht ein entsprechendes Wirtschaftswachstum gegenüberstehen. Gemäss p = w – a kann der Produktivitätszuwachs frei auf w oder – a verteilt werden.
  8. Bei sinkendem a folgt aber gegenüber der Lösung p = w eine zunehmend kapitalintensivere Produktion. In neoklassischer Terminologie sinkt dann die Grenzproduktivität des Kapitals (und damit die Kapitaleinkommen), in marxistischer Terminologie folgt eine Reduktion des Mehrwerts und damit der Profitrate des Kapitals. Damit ergeben sich folgende Konfliktlinien: Für eine nachhaltige Entwicklung ist ein möglichst geringer Wert von w wünschenswert. Bei den Arbeitenden hängt von den Präferenzen (Konsum versus Freizeit) ab, welche Aufteilung von p auf w oder – a von gewünscht wird. Für die Kapitalbesitzer ist p = w die beste Lösung.
  9. Bei p = w könnte ein katastrophales Ende der bestehenden Wirtschaftsordnung folgen (ökologischer Kollaps). Dessen Eintrittswahrscheinlichkeit könnte eine ausgehandelte oder durch politische Macht herbeigeführte Begrenzung des Wirtschaftswachstums unter das technisch Erzielbare in Verbindung mit systematischer Arbeitszeitverkürzung verringern.
  10. Angesichts der politischen Realitäten (Machtverhältnisse; Einstellungen der Stimmbevölkerungen in den bürgerlichen Demokratien) spricht derzeit nur wenig für das Szenario der Begrenzung des potenziellen Schadens.
  11. Wenn das aus systemischer Sicht positivere Szenario trotzdem eintreffen sollte, dürfte die Zukunft Elemente der von Marx/Engels,[1] John Stuart Mill[2] und John Maynard Keynes[3] skizzierten enthalten: Der Wirtschaftsfreiheit der Kapitalbesitzer wären dabei enge Grenzen gesetzt, ebenso vermutlich der Demokratie per Mehrheitsentscheid. Das politökonomische Szenario dürfte sich zwischen den Extermpolen einer der Nachhaltigkeit verpflichteten demokratisch legitimierten Weltregierung und lokalen Öko-Diktaturen finden.
  12. Auf lange Frist (unendliches Wachstumsgleichgewicht) kann die Arbeitszeit nicht kontinuierlich im Gleichschritt mit einer stetig wachsenden Produktivität abnehmen, ohne menschliche Arbeit ganz obsolet zu machen (A ® 0). Ob ein solches Reich der Freiheit, basierend auf einer voll automatisierten Wirtschaft, praktikabel oder auch nur wünschenswert ist, sei dahingestellt.
  13. Soviel aber kann geschlossen werden: Wenn man sich davon nicht eine Befreiung von der Last der Arbeit verspricht, sondern ein allumfassendes Unglück durch universelle Arbeitslosigkeit, müsste entweder der technische Fortschritt ein immerwährendes exponentielles und dabei nachhaltiges Wirtschaftswachstum möglich machen (w > 0) oder das Produktivitätswachstum zusammen mit dem Wirtschaftswachstum zu Erliegen kommen (p = w =0). Der Endzustand wäre im letzteren Fall eine für unsere Vorstellung vielleicht unermesslich reiche, dabei aber stationäre Wirtschaft (p = w =a =e = 0), wie sie John Stuart Mill voraussah und wohl auch wünschte.

Fazit: Ein immerwährendes exponentielles Wachstum ist wegen des aus heutiger Sicht damit verbundenen Ressourcenverbrauchs nicht vorstellbar; die Zukunft mag ungeahnte Möglichkeiten eröffnen, aber auch in diesem Fall dürfte es hilfreich sein, wenn der Ressourcenverbrauch bereits heute begrenzt würde. Im Rahmen der bestehenden demokratischen Verfahren ist eine solche hinsichtlich der langen Frist risikoaverse Politik aber kaum zu erwarten. Wenn die Katastrophe verhindert wird, könnten die ungeahnten Möglichkeiten der Zukunft die menschliche Arbeit zum Zweck Daseinserhaltung weitestgehend überflüssig machen; ob und inwieweit dies wünschenswert ist, bleibt jedoch zu klären.

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[1] Marx, Karl und Engels, Friedrich (1848), Manifest der kommunistischen Partei, London.

[2] Mill, John Stuart (1848), Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy,
London, Book IV, Chapter VI (Of the Stationary State).

[3] Keynes, John Maynard (1930), Economic Possibilities for our Grandchildren, wieder abgedruckt in: Essays in Persuasion, New York, 1963.
Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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