Republikanischer Liberalismus
Autorin/Autor: Peter Ulrich
Zum Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft
Eine kürzere Fassung dieses Essays ist erschienen in: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 728, Januar 2010, S. 68-73.
Ralf Dahrendorf schrieb wenige Wochen vor seinem Tod in seinem Essay Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? im Merkur Nr. 720 (2009):
„‘Es‘ begann als Finanzkrise, wuchs sich dann zur Wirtschaftskrise aus und wird mittlerweile von vielen als tiefergehende soziale, vielleicht auch politische Wendemarke gesehen. (…) Die hier verfochtene These ist, dass wir einen tiefgreifenden Mentalitätswandel erlebt haben und dass jetzt, in Reaktion auf die Krise, wohl ein neuerlicher Wandel bevorsteht.“
Den Kern des Geschehens sah er nicht in den jetzt vorwiegend beschworenen systemischen Ursachen, sondern in „vorherrschenden Einstellungen zu Wirtschaft und Gesellschaft.“ Es geht aber nicht darum, den systemischen Charakter der Krise wegzureden, sondern sie in ihren kulturellen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen und aus diesem heraus als umfassendere Orientierungskrise zu verstehen. Drei Problemebenen sind in ihr ineinander verzahnt: eine bestimmte Mentalität als Treiber, Mängel der Systemsteuerungunddie übergeordnete, unzeitgemäß gewordene Gesellschaftspolitik.
Stichwort „Mentalität“: Jetzt beklagen plötzlich fast alle die Symptome einer moralisch enthemmten Wirtschaftsdoktrin. Ihren ideologischen Kern bildete eine Shareholder-Value-Doktrin, auf deren Linie zweifelhafte Corporate Governance-Standards guterUnternehmensführung etabliert wurden, die sich in der aktuellen Krise als wesentliche Ursache von schlechtem Geschäftsgebaren großer Aktiengesellschaften entpuppten (Thielemann/Ulrich 2009). Hinzu kamen Geschäftsmodelle der Finanzwirtschaft, die man nur noch ironisch mit der „Greater Fool Theory“ des Marktes (Stöttner 2009) beschreiben kann: Risiken verschleiern, verbriefen und verstreuen – wer kaufte, war selber schuld. Als Treiber wirkte die verbreitete Gier von Investoren nach maximalem return on equity (Eigenkapitalrendite). Ihr korrespondierten Desintegrationserscheinungen im Selbstverständnis von Verantwortungsträgern der Wirtschaft, die – falsch angereizt durch exorbitante Boni – zwar bei weitem nicht immer, aber eben doch immer öfter den Sinn für den kleinen Unterschied zwischen „anständig Geld verdienen“ und „Geld anständig verdienen“ verloren haben.
Herausforderung: Wirtschaft außer Rand und Band
Eine Individualisierung des Problems greift jedoch zu kurz. Aus wirtschaftsethischer Perspektive geht es stets um die Wechselwirkung zwischen individuellen Haltungen (also persönlichem Ethos) und institutionellen Rahmenbedingungen (also Anreizen und Restriktionen). Verantwortungsvolles Handeln muss zwar individuell aufgrund eines entsprechenden Bewusstseins gewolltsein, aber es muss auch innerhalb der institutionalisierten Zwänge der Selbstbehauptung in der Marktwirtschaft für den Einzelnen zumutbarsein.
Deshalb hatten die Ordoliberalen, die sich ursprünglich „Neoliberale“ nannten, mit gutem Grund die Rolle des Marktrandes hervorgehoben. So betonte Alexander Rüstow (1961: 68),
„…dass der Marktrand, der Marktrahmen, das eigentliche Gebiet des Menschlichen ist, hundertmal wichtiger als der Markt selbst. Der Markt selber hat lediglich eine dienende Funktion. (…) Der Markt ist ein Mittel zum Zweck, ist kein Selbstzweck, während der Rand eine Menge Dinge umfasst, die Selbstzweck sind, die menschliche Eigenwerte sind.“
Dieser „Marktrand“ stellt die Nahtstelle zwischen marktwirtschaftlichem System und gesellschaftlicher Lebenswelt dar. Und genau da liegen die Herausforderungen der Zeit. Wenn derzeit gern von einer „systemischen“Krise gesprochen wird, so bleibt das ausgeblendet. Entscheidende Fragen betreffen nicht die interne Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Systems, sondern seine normativen Voraussetzungen und Orientierungshorizonte. Für wen und wofür soll denn das System effizient funktionieren? „Rein“ ökonomisch lassen sich derartige Fragen nicht beantworten; entsprechend umstritten sind sie politisch. Vernünftiges Wirtschaftenschließt Sinn- und Gerechtigkeitskriterien ein, nicht etwa aus. Die ökonomische Rationalität, wie sie üblicherweise verstanden wird, ist also noch nicht die ganze ökonomische Vernunft. Das ist der systematische Grund, weshalb heute Wirtschaftsethik zunehmend gefragt ist.
Es geht aber nicht nur um (Handlungs-)Ethik in der Wirtschaft, sondern umfassender um die (Ordnungs-)Ethik der Wirtschaft. Im Zentrum der aktuellen Orientierungskrise steht nämlich das unklar gewordene Verhältnis zwischen der Marktwirtschaft und der Gesellschaft, in der wir leben möchten. Nicht nur mehr die Mittel und Methoden, sondern auch der Fortschrittshorizont unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung hat in der aktuellen Krise seine Fraglosigkeit oder vielleicht sogar seine ideologische Unschuld verloren. Dies ist die gesellschaftspolitische Dimension der fälligen Neuorientierung.
Kontext: Die „Große Transformation“
Unter dem Leitbegriff der Great Transformation hat der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi schon 1944 eine modernisierungsgeschichtliche Perspektive entworfen, in deren Zentrum die Dynamik der fortschreitenden Herauslösung des Wirtschaftssystems aus der Gesellschaft steht. Am denkbaren Endpunkt stünde nach Polanyi (1978: 88f.)
„… die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“
Mit der entfesselten Globalisierung der Märkte waren wir die letzten 20 Jahre Zeitzeugen eines epochalen Schubs dieser Transformation. Wer nach den normativen Voraussetzungen einer lebensdienlichen Wirtschaftspolitik zu fragen wagte, wurde fast umstandslos als „Globalisierungsgegner“ gebrandmarkt. Die Erfahrung, wie sehr diese Debatte mit teils hochemotional vertretenen weltanschaulichen Positionen verknüpft war und ist, verweist auf einen wichtigen Punkt: Polanyis These vom sich fortschreitend verselbständigenden und dominant werdenden ökonomischen System ist bei vordergründiger Betrachtung zwar plausibel, aber aus Sicht einer integrativen Wirtschaftsethik ist hier zunächst auf ein grundlegendes Missverständnis hinzuweisen: Es gibt kein von ethischen und politischen Voraussetzungen „freies“ marktwirtschaftliches System.
Jede Ausgestaltung der Marktwirtschaft ist unausweichlich in ein wirtschaftsethisches und politisch-philosophisches „Gedankenbett“ eingebettet, also an bestimmte normative Leitideen vom guten gesellschaftlichen Zusammenleben gebunden. Noch die radikalste Konzeption einer deregulierten Marktwirtschaft beruht auf einem bestimmten Wirtschaftsethos und muss politisch durchgesetzt und rechtsstaatlich institutionalisiert werden. In diesem Sinne gilt rein logisch für jede ordnungspolitische Konzeption der Primat von Ethik und Politik vor dem Markt.
Die Klassiker der Politischen Ökonomie waren sich im Unterschied zu den neoklassisch „reinen“ Ökonomen dieser Ordnung der Dinge noch voll bewusst, namentlich Adam Smith und John Stuart Mill, die nicht zufällig beide auch brillante Moralphilosophen waren. Sie gingen noch von der aristotelischen Trias von Ethik, Politik und Ökonomik aus, in dieser Begründungsreihenfolge. Diese zwischenzeitlich verlorene Ordnung der Dinge gewinnt heute neue Aktualität. Ganz richtig fragte daher unter dem Eindruck der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8. April dieses Jahres (Geyer 2009):
„Wo bleibt die fundierte Kritik an der Wissenschaft der politischen Ökonomie, deren Lehrbücher doch die Drehbücher der gegenwärtigen Krise sind?“ (Hvh. P.U.)
Die ethisch-politischen Hintergrundüberzeugungen des „normalen“ ökonomischen Denkens wurden jahrzehntelang aus der Debatte fast hermetisch ausgegrenzt. Warum eigentlich? Der springende Punkt ist das erwähnte „Gedankenbett“. Dort, in den Tiefenstrukturen der neoklassisch-ökonomischen Weltsicht, finden wir die weltanschaulichen „Treiber“, die der gewaltigen moralischen Enthemmungund institutionellen Entgrenzung des marktwirtschaftlichen Systems in Praxis und Theorie den motivationalen Schub gegeben haben.
Tiefenstrukturen: Die Metaphysik des Marktes
Die neoklassische Ökonomik modellierte ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die realeTendenz zur Verselbständigung des marktwirtschaftlichen Systems idealtypisch ins Reine. Sie wollte dementsprechend keine Politische Ökonomie und schon gar nicht mehr ein Teil der Moralphilosophie sein wie bei den Klassikern, sondern „reine“ Ökonomik. Seither reflektiert der economic approach die ethischen und politischen Voraussetzungen seiner Axiomatik nicht mehr systematisch; stattdessen kann die Lösung des politisch-ökonomischen Kernproblems, nämlich das eines legitimen und fairen gesellschaftlichen Interessenausgleich, nur noch als unmittelbare Folge der „reinen“ marktwirtschaftlichen Systemlogik ausgegeben werden – womit die Leistungsfähigkeit des Systems aber schon im Ansatz überlastet wird.
Die theoretische Spitze dieses Bemühens stellte die Allgemeine Gleichgewichtstheorie dar; die praktische Botschaft war das altliberale Laissez-faire-Credo des 19. Jahrhunderts. Die neoklassische Gleichgewichtstheorie beruht auf einer in christlich-schöpfungstheologischen Überzeugungen wurzelnden, mathematisierten Metaphysik des Marktes(vgl. Ulrich 2008: 178ff.) dar. Sie zelebriert eine aus ethisch-politischen Bindungen restlos herausgelöste, konfliktfreie Harmonie-Ökonomik. Nicht zufällig trug das im 19. Jahrhundert verbreitete französische Lehrbuch des Ökonomen (nicht etwa Theologen!) Frédéric Bastiat von 1855 den Titel Harmonies économiques. Und nicht grundlos finden sich darin Glaubensbekenntnisse folgender Art:
„Ich möchte die Harmonie der göttlichen Gesetze aufzeigen, die die menschliche Gesellschaft beherrschen. (…) Ich glaube, dass Er, der die materielle Welt geordnet hat, auch die Ordnung der sozialen Welt nicht auslassen wollte. Ich glaube, dass Er die frei Agierenden ebenso zu kombinieren und in harmonische Bewegung zu setzen wusste wie die leblosen Moleküle. (…) Ich glaube, es ist für die allmähliche und friedliche Entwicklung der Menschheit ausreichend, wenn diese Tendenzen ungestörte Bewegungsfreiheit erlangen.“
Die normativeBotschaft solcher „sozialer Physik“ als Fundament des Marktliberalismus ist nicht schwer zu verstehen. Das alles passte natürlich wunderbar zu den frühbürgerlichen Interessen und Legitimationsbedürfnissen der Zeit. Wie Max Weber in seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ vor mehr als hundert Jahren gezeigt hat, steigt dieser Geist empor aus den „innerlichsten Formen christlicher Frömmigkeit“ (Weber 1904/1988: 26), die im radikalen Protestantismus die ganze Lebensführung durchdringt.
Nachholende Aufklärung: Kritik der ökonomischen Vernunft
Von moderner Wirtschaftswissenschaft darf man erwarten, dass sie die alte Metaphysik des „freien“ Marktes vorbehaltlos vernunftgeleiteter Kritik zuführt. Universitäten sind ja der Idee nach keine „Glaubensgemeinschaften“ (Binswanger 1998), sondern aufklärerische Stätten methodisch disziplinierten Denkens. Von da her ist eine wirtschaftsethische Öffnung der in Theorie und Praxis dominierenden ökonomischen Denkmuster überfällig. Der systematisch erste Schritt integrativ-wirtschaftsethischer Orientierung im Denken besteht in der Kritik der (nicht ganz) „reinen“ ökonomischen Rationalität oder „Sachlogik“ hinsichtlich ihres normativen Gehalts.
In der neoklassischen Axiomatik wird alle soziale Interaktion als wechselseitigerVorteilstausch zwischen Homines oeconomici gedacht, die je ihren privaten Nutzen zu maximieren trachten und sich als Personen wechselseitig gleichgültig sind. Unterschreiben die Wirtschaftssubjekte freiwillig Tauschverträge, so profitieren beide Seiten, und damit scheint das Koordinationsprinzip ‚Markt‘ nicht nur (pareto-)effizient, sondern zugleich (tausch‑)gerecht und außerdem die Gewährsinstanz der individuellen Freiheit schlechthin zu sein. Wo genau steckt das Problem?
Die wirtschaftsethische Kurzantwort lautet: Das Problem besteht darin, dass die normative Logik des Vorteilstausches nicht identisch mit der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit ist. Ander gesagt: Das Marktprinzip kann nicht an die Stelle des philosophisch-ethisch verstandenen Moralprinzipstreten (vgl. Ulrich 2008: 45ff., 196ff.). Dieses Prinzip definiert in formaler und universaler Weise die humanistische Grundidee, dass sich alle Menschen bedingungslos – oder mit Kants Imperativ formuliert: kategorisch – als Personen gleicher Würde wechselseitig achten und in ihren gleichen Grundrechten anerkennen sollen. Dahinter kann eine zivilisierte Gesellschaft und Weltgemeinschaft nicht zurück. Es ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaftsmitglieder im Übrigen so unterschiedlich denken und leben können, wie sie mögen. Das erfordert eine unparteiliche, gegenüber den unterschiedlichen privaten Lebensentwürfen der Bürger neutrale öffentliche Grundordnung, die rechtsstaatlich durchzusetzen ist als Ermöglichungsbedingung eines bunten gesellschaftlichen Pluralismus der Lebensformen und Weltanschauungen. Diese strukturelle Zweistufigkeit ist das Schlüsselkriterium eines wohlverstandenen politischen Liberalismus nach Rawls (1998).
Der nach dem Marktmodell gedachte ökonomische Liberalismus ist aus dieser politisch-philosophischen Sicht kein zureichendes Prinzip einer liberalen Gesellschaft, denn im „freien“ Markt lassen sich die Individuen stets nur bedingt – nämlich gemäß ihrem je privaten Vorteilskalkül – aufeinander ein. Das vernunftethische Grundprinzip der unbedingten wechselseitigen Anerkennung der Individuen in ihrer unantastbaren Würde als humane Subjekte und in ihrem Status als gleichberechtigte freie Bürger ist damit nicht erfüllt. Ist die gesellschaftliche oder internationale Ausgangslage unfair, so kann auch das Tausch- oder Handelsergebnis in einem noch so effizienten Markt niemals gerecht sein.Diese strukturelle Parteilichkeit der marktwirtschaftlichen Systemrationalität genügt dem politisch-liberalen Kriterium einer unparteilichen, neutralen Grundordnung nicht.
Das ist im Kern der Grund, weshalb sich der politische – oder wie ich präziser formulieren möchte – der republikanische Liberalismus (Ulrich 2008: 319ff.), dem es um eine wohlgeordnete Gesellschaft real freier Bürgergeht, nicht auf das Konzept des „freien Marktes“ und den ihm entsprechenden ökonomischen Liberalismus reduzieren lässt. Eine zivilisierte, also in die civil society eingebettete Marktwirtschaft (Ulrich 2005) ist somit etwas prinzipiell anderes als eine entgrenzte Marktgesellschaft. Nicht Wohlfahrtsziele, sondern gleiche Rechte und Pflichten aller Bürger bilden ihre konstitutive Qualität.
Fortschrittshorizont: „Zivilisierung“ der Marktwirtschaft
Aus diesen Überlegungen folgt, dass wir wieder lernen müssen, klarer zwischen Wirtschaft und Gesellschaftzu unterscheiden und – ganz im Sinn der alten aristotelischen Trias – die Vorordnung der Gesellschaft, in der wir leben wollen, vor die Systemrationalität der Marktwirtschaft zu gewährleisten. Es geht um die zeitgemäße Klärung des Leitbilds einer voll entfalteten und wohlgeordneten Bürgergesellschaft und der legitimen und sinnvollen Rolle der Marktwirtschaft in ihr. Die republikanisch-liberale Basis dafür bildet die Weiterentwicklung der Bürgerrechte, die den Status freier Bürger auch im Wirtschaftsleben konstituieren. Es geht darum zu verhindern, dass die strukturelle Parteilichkeit des Marktes auf die Lebenslage der Bürger im Ganzen durchschlägt und damit deren reale Freiheit und Gleichberechtigung tangiert.
Der herkömmliche Sozialstaat korrigiert die Marktergebnisse vorwiegend durch nachträgliche Umverteilung und lindert nur die Symptome der realen Unfreiheit der Wettbewerbsverlierer, sich selbst zu helfen. Klüger und liberaler wäre es, bei den Ursachen anzusetzen und als gesellschaftliche Eingangsbedingung des Wettbewerbs faire Chancen für alle auf eine selbst bestimmte Lebensführung und Existenzsicherung zu gewährleisten – in Form emanzipatorischer Wirtschaftsbürgerrechte. Auf eine programmatische Kurzformel gebracht geht es um mehr emanzipatorische Gesellschaftspolitik als Voraussetzung für weniger kompensatorische Sozialpolitik – in Absicht auf die größtmögliche reale Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger. Aus der alten Sozialstaatsdebatte wird so eine gesellschaftspolitische Debatte über die sozioökonomischen Voraussetzungen verallgemeinerungsfähiger Bürgerfreiheit.
Eine so ansetzende bürgerliberale Gesellschaftspolitik haben schon der Ordoliberalismus und die darauf aufbauende Soziale Marktwirtschaft intendiert. AlfredMüller-Armack (1960) dachte bekanntlich eine „zweite Phase“ der Sozialen Marktwirtschaft an, und zwar mit heute wieder höchst aktuellen Überlegungen:
„Es wird kaum bestritten, dass in der nächsten Phase der Sozialen Marktwirtschaft gesellschaftspolitische Probleme vor die ökonomischen treten werden. (…) Nach der Lösung des Produktionsproblems im Rahmen einer vollbeschäftigten Wirtschaft verschiebt sich der Aufgabenbereich der Sozialen Marktwirtschaft. Sie muss künftig als Politik einer freien Gesellschaft begriffen werden.“ (Müller-Armack 1966: 273, 289).
Übereinstimmend Wilhelm Röpke:
„Bisher haben wir überwiegend Wirtschaftspolitik getrieben: nun aber heißt es für uns, Gesellschaftspolitik zu treiben.“ (Röpke 1944: 82).
Doch die politisch-philosophische und wirtschaftsethische Grundlagenklärung war damals zu wenig fortgeschrittenen. Zunehmend reduzierte sich die Soziale Marktwirtschaft auf die Ergänzung des „freien Marktes“ um korrektive Sozialpolitik (samt den symptomatischen Folgen explodierender Sozialstaatskosten). So blieb das Verhältnis von Marktwirtschaft und Bürgergesellschaft auch in der „Stilform“ der Sozialen Marktwirtschaft konfus. Dem gilt es heute dringend auf den Grund zu leuchten. Nur so lässt sich erkennen, wie der von ihren Begründern angestrebte „dritte Weg“ zu einer voll entfalteten Bürgergesellschaft und einer durch sie zivilisierten Marktwirtschaft weiterzuführen ist (vgl. dazu Ulrich 2009).
Bürgersinn: Der kulturelle Kitt einer zivilisierten Marktwirtschaft
Neben der Etablierung tragfähiger Wirtschaftsbürgerrechte darf ein zweiter zivilisierender Ansatzpunkt nicht ausgeblendet werden: die Förderung des für jede freiheitliche Gesellschaft unverzichtbaren Bürgersinns. Was diese wirtschaftskulturelle Seite des Problems betrifft, so forderte schon Wilhelm Röpke einen „esprit civique, der ihn [den einzelnen Bürger] an das Ganze bindet und seinem Appetit [d.h. Egoismus] Grenzen setzt“ (1958: 170). Ganz im Sinne eines republikanischen Liberalismus schreibt er:
„Wer jetzt auch noch den Liberalismus als eine primär wirtschaftliche Anschauung begreifen will, ist selbst in einer ‚ökonomistischen‘ Einengung befangen, die heute vollkommen überholt erscheint. (…) Der politisch-kulturelle Liberalismus (…) ist das Primäre und der wirtschaftliche Liberalismus (…) etwas Sekundäres.“ (Röpke 1944: 51; Hvh. i. Orig.)
Röpke kommt zum folgenden gesellschaftskritischen Urteil:
„Dabei werden wir bemerken, nicht ohne Erschrecken, wie weit wir alle bereits in die Denkgewohnheiten einer wesentlich unbürgerlichen Welt hinabgezogen sind. Dass das vor allem für die Nationalökonomen selber gilt, haben wir bereits bemerkt, als wir von ihrer Neigung sprachen, sich arglos einem Denken in Geld- und Einkommensströmen hinzugeben…“ (Röpke 1958: 140).
Was teilweise verloren gegangen zu sein scheint, ist ein republikanisch-liberales Wirtschaftsbürgerethos. Dessen Kern bildet die Integrität im Wirtschaftsleben, auch die Geschäftsintegrität von Unternehmen. Das meint ganz wörtlich und im direkten Gegensatz zum marktliberalen Nutzen- bzw. Gewinnmaximierungsprinzip, das eigene Vorteils-, Nutzen- oder Gewinnstreben vom Selbstverständnis als guter oder „anständiger“ Bürger nicht abzuspalten, sondern private Interessen nur so weit zu verfolgen, wie sie den Legitimitätsbedingungen der Bürgergesellschaft entsprechen. Bürger mit einem solchen Ethos sehen darin gar keine Einschränkung, geht es doch um die „res publica“, mit der sie sich identifizieren und für deren öffentliche Ordnung sie sich mitverantwortlich fühlen. Solcher Bürgersinn bildet den tragenden Boden ethischer Selbstbindung und zugleich der zivilisierenden rechtsstaatlichen Einbettung der Marktwirtschaft in die Gesellschaft auf freiheitlich-demokratischen Wegen.
Literaturverzeichnis
Bastiat, F. (1855): Harmonies économiques, in: ders., Œuvres complètes, tome VI, 3ième ed., Paris.
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Müller-Armack, A. (1960): Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik, in: ders./Meyer, F. W. (Hrsg.), Studien zur Sozialen Marktwirtschaft, Köln; abgedr. in Müller-Armack (1966), S. 267-291.
Müller-Armack, A. (1966): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg i. B.
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Röpke, W. (1944): Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich.
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Rüstow, A. (1961): Paläoliberalismus, Kommunismus und Neoliberalismus, in: Greiß, F. /Meyer, F. W. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festschrift für Alfred Müller-Armack, Berlin, S. 61-70.
Stöttner, R. (2009): Ursachen der aktuellen Finanzkrise, in: Forum Wirtschaftsethik, 17. Jg., Nr. 1, S. 6-19.
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Ulrich, P. (2008): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 4. vollst. neu bearb. Aufl., Bern u.a.
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Weber, M. (1904/1988): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Aufl., Tübingen, S. 17-206.
Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.