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Republikanischer Liberalismus

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft

Eine kürzere Fassung dieses Essays ist erschienen in: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 728, Januar 2010, S. 68-73.

Ralf Dahrendorf schrieb wenige Wochen vor seinem Tod in seinem Essay Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? im Merkur Nr. 720 (2009):

„‘Es‘ begann als Finanzkrise, wuchs sich dann zur Wirtschaftskrise aus und wird mittler­weile von vielen als tiefergehende soziale, vielleicht auch politische Wendemarke gesehen. (…) Die hier verfochtene These ist, dass wir einen tiefgreifenden Mentalitäts­wandel erlebt haben und dass jetzt, in Reaktion auf die Krise, wohl ein neuerlicher Wandel bevorsteht.“

Den Kern des Geschehens sah er nicht in den jetzt vorwiegend beschworenen systemischen Ursachen, sondern in „vorherrschenden Einstellungen zu Wirtschaft und Gesellschaft.“ Es geht aber nicht darum, den systemischen Charakter der Krise wegzureden, sondern sie in ihren kulturellen und gesellschaft­lichen Kontext zu stellen und aus diesem heraus als umfassendere Orientierungs­krise zu verstehen. Drei Problemebenen sind in ihr ineinander verzahnt: eine bestimmte Mentalität als Treiber, Mängel der Systemsteuerungunddie überge­ordnete, unzeitgemäß gewordene Gesellschaftspolitik.

Stichwort „Mentalität“: Jetzt beklagen plötzlich fast alle die Symptome einer moralisch enthemmten Wirtschafts­doktrin. Ihren ideologischen Kern bildete eine Shareholder-Value-Doktrin, auf deren Linie zweifelhafte Corporate Gover­nance-Standards guterUnternehmensführung etabliert wurden, die sich in der aktuellen Krise als wesentliche Ursache von schlechtem Geschäfts­gebaren großer Aktien­gesell­schaften entpuppten (Thielemann/Ulrich 2009). Hinzu kamen Geschäftsmodelle der Finanzwirtschaft, die man nur noch ironisch mit der „Greater Fool Theory“ des Marktes (Stöttner 2009) beschreiben kann: Risiken verschleiern, verbriefen und verstreuen – wer kaufte, war selber schuld. Als Treiber wirkte die verbreitete Gier von Investoren nach maximalem return on equity (Eigenkapitalrendite). Ihr korrespondierten Desintegrations­erschei­nun­­gen im Selbstverständnis von Verant­wortungs­trägern der Wirtschaft, die – falsch angereizt durch exorbitante Boni – zwar bei weitem nicht immer, aber eben doch immer öfter den Sinn für den kleinen Unterschied zwischen „anständig Geld verdienen“ und „Geld anständig verdienen“ verloren haben.

Herausforderung: Wirtschaft außer Rand und Band

Eine Individuali­sierung des Problems greift jedoch zu kurz. Aus wirtschaftsethischer Perspektive geht es stets um die Wechselwirkung zwischen individuellen Haltungen (also persönlichem Ethos) und institutionellen Rahmen­bedingun­gen (also Anreizen und Restriktionen). Verant­wortungs­volles Handeln muss zwar indivi­duell aufgrund eines entsprechenden Bewusstseins gewolltsein, aber es muss auch innerhalb der institutionalisierten Zwänge der Selbstbehaup­tung in der Marktwirtschaft für den Einzelnen zumutbarsein.

Deshalb hatten die Ordoliberalen, die sich ursprünglich „Neoliberale“ nannten, mit gutem Grund die Rolle des Marktrandes hervorgehoben. So betonte Alexander Rüstow (1961: 68),

„…dass der Marktrand, der Marktrahmen, das eigentliche Gebiet des Menschlichen ist, hundertmal wichtiger als der Markt selbst. Der Markt selber hat lediglich eine dienende Funktion. (…) Der Markt ist ein Mittel zum Zweck, ist kein Selbstzweck, während der Rand eine Menge Dinge umfasst, die Selbstzweck sind, die menschliche Eigenwerte sind.“

Dieser „Marktrand“ stellt die Nahtstelle zwischen marktwirtschaftlichem System und gesellschaftlicher Lebenswelt dar. Und genau da liegen die Herausforderungen der Zeit. Wenn derzeit gern von einer „systemischen“Krise gesprochen wird, so bleibt das ausgeblendet. Entschei­dende Fragen betreffen nicht die interne Funktionsweise des marktwirt­schaft­lichen Systems, sondern seine normativen Voraus­setzungen und Orientie­rungs­horizonte. Für wen und wofür soll denn das System effizient funktionie­ren? „Rein“ ökonomisch lassen sich derartige Fragen nicht beant­worten; entsprechend umstritten sind sie politisch. Vernünftiges Wirtschaftenschließt Sinn- und Gerechtig­keitskriterien ein, nicht etwa aus. Die ökonomische Ratio­nalität, wie sie üblicher­weise verstanden wird, ist also noch nicht die ganze ökono­mische Vernunft. Das ist der systematische Grund, weshalb heute Wirtschaftsethik zunehmend gefragt ist.

Es geht aber nicht nur um (Handlungs-)Ethik in der Wirtschaft, sondern umfassender um die (Ordnungs-)Ethik der Wirtschaft. Im Zentrum der aktuellen Orientierungs­krise steht nämlich das unklar gewordene Verhältnis zwischen der Markt­wirtschaft und der Gesellschaft, in der wir leben möchten. Nicht nur mehr die Mittel und Methoden, sondern auch der Fortschrittshorizont unserer wirt­schaft­lichen und gesell­schaftlichen Entwicklung hat in der aktuellen Krise seine Fraglosigkeit oder vielleicht sogar seine ideologische Unschuld verloren. Dies ist die gesellschaftspolitische Dimension der fälligen Neuorientierung.

Kontext: Die „Große Transformation“

Unter dem Leitbegriff der Great Transformation hat der Wirtschafts­historiker Karl Polanyi schon 1944 eine moderni­sierungs­geschichtliche Perspektive entworfen, in deren Zentrum die Dynamik der fort­schrei­tenden Heraus­lösung des Wirtschaftssystems aus der Gesell­schaft steht. Am denk­baren Endpunkt stünde nach Polanyi (1978: 88f.)

„… die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“

Mit der entfesselten Globalisierung der Märkte waren wir die letzten 20 Jahre Zeitzeugen eines epochalen Schubs dieser Transformation. Wer nach den normativen Voraussetzungen einer lebensdienlichen Wirtschafts­politik zu fragen wagte, wurde fast umstandslos als „Globalisierungs­gegner“ gebrand­markt. Die Erfahrung, wie sehr diese Debatte mit teils hochemotional vertretenen weltanschaulichen Positionen verknüpft war und ist, verweist auf einen wichtigen Punkt: Polanyis These vom sich fortschrei­tend verselb­ständigen­den und dominant werdenden ökonomischen System ist bei vorder­gründiger Betrachtung zwar plausibel, aber aus Sicht einer integrativen Wirtschaftsethik ist hier zunächst auf ein grundlegendes Miss­verständnis hinzuweisen: Es gibt kein von ethischen und politischen Voraussetzungen „freies“ marktwirt­schaft­liches System.

Jede Ausgestaltung der Marktwirtschaft ist unausweichlich in ein wirtschafts­ethisches und politisch-philosophisches „Gedankenbett“ eingebettet, also an bestimmte normative Leitideen vom guten gesellschaftlichen Zusammenleben gebunden. Noch die radikalste Konzeption einer deregulierten Marktwirtschaft beruht auf einem bestimm­ten Wirtschafts­­ethos und muss politisch durchgesetzt und rechts­staatlich institutionali­siert werden. In diesem Sinne gilt rein logisch für jede ordnungspolitische Konzeption der Primat von Ethik und Politik vor dem Markt.

Die Klassiker der Politischen Ökonomie waren sich im Unterschied zu den neoklassisch „reinen“ Ökonomen dieser Ordnung der Dinge noch voll bewusst, namentlich Adam Smith und John Stuart Mill, die nicht zufällig beide auch brillante Moral­philo­sophen waren. Sie gingen noch von der aristotelischen Trias von Ethik, Politik und Ökonomik aus, in dieser Begründung­sreihenfolge. Diese zwischen­zeitlich verlorene Ordnung der Dinge gewinnt heute neue Aktualität. Ganz richtig fragte daher unter dem Eindruck der aktuellen Finanz- und Wirtschafts­­krise sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8. April dieses Jahres (Geyer 2009):

„Wo bleibt die fundierte Kritik an der Wissenschaft der politischen Ökonomie, deren Lehrbücher doch die Drehbücher der gegenwärtigen Krise sind?“ (Hvh. P.U.)

Die ethisch-politischen Hintergrundüberzeugungen des „normalen“ ökonomischen Denkens wurden jahrzehntelang aus der Debatte fast hermetisch ausgegrenzt. Warum eigentlich? Der springende Punkt ist das erwähnte „Gedankenbett“. Dort, in den Tiefen­strukturen der neoklassisch-ökono­mischen Weltsicht, finden wir die weltanschau­lichen „Treiber“, die der gewaltigen moralischen Enthemmungund institutionellen Ent­gren­zung des markt­wirtschaft­lichen Systems in Praxis und Theorie den motivatio­nalen Schub gegeben haben.

Tiefenstrukturen: Die Metaphysik des Marktes

Die neoklassische Ökonomik modellierte ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die realeTendenz zur Verselbständigung des marktwirt­schaftlichen Systems idealtypisch ins Reine. Sie wollte dementsprechend keine Politische Ökono­mie und schon gar nicht mehr ein Teil der Moral­philosophie sein wie bei den Klassikern, sondern „reine“ Ökonomik. Seither reflektiert der economic approach die ethischen und politischen Voraus­setzun­gen seiner Axiomatik nicht mehr systematisch; stattdessen kann die Lösung des politisch-ökonomi­schen Kernproblems, nämlich das eines legitimen und fairen gesellschaftlichen Interessen­ausgleich, nur noch als unmittelbare Folge der „reinen“ marktwirtschaftlichen Systemlogik ausgegeben werden – womit die Leistungsfähigkeit des Systems aber schon im Ansatz überlastet wird.

Die theoretische Spitze dieses Bemühens stellte die Allgemeine Gleichgewichts­theorie dar; die praktische Botschaft war das altliberale Laissez-faire-Credo des 19. Jahr­hun­derts. Die neoklassische Gleichge­wichts­theorie beruht auf einer in christlich-schöp­fungs­­theologischen Über­zeugungen wurzelnden, mathematisierten Metaphysik des Marktes(vgl. Ulrich 2008: 178ff.) dar. Sie zelebriert eine aus ethisch-politischen Bindungen restlos herausgelöste, konfliktfreie Harmonie-Ökonomik. Nicht zufällig trug das im 19. Jahrhundert verbreitete französische Lehrbuch des Ökonomen (nicht etwa Theo­logen!) Frédéric Bastiat von 1855 den Titel Harmonies écono­miques. Und nicht grundlos finden sich darin Glaubens­bekennt­nisse folgender Art:

„Ich möchte die Harmonie der göttlichen Gesetze auf­zeigen, die die menschliche Gesellschaft beherrschen.  (…) Ich glaube, dass Er, der die materielle Welt geordnet hat, auch die Ordnung der sozialen Welt nicht auslassen wollte. Ich glaube, dass Er die frei Agierenden ebenso zu kombi­nie­ren und in harmo­nische Bewegung zu setzen wusste wie die leblosen Moleküle. (…) Ich glaube, es ist für die allmäh­liche und friedliche Ent­wicklung der Mensch­heit aus­reichend, wenn diese Tendenzen ungestörte Bewegungs­freiheit erlangen.“

Die normativeBotschaft solcher „sozialer Physik“ als Fundament des Marktliberalis­mus ist nicht schwer zu verstehen. Das alles passte natürlich wunderbar zu den frühbürgerlichen Interessen und Legitimations­bedürf­nissen der Zeit. Wie Max Weber in seiner berühmten Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ vor mehr als hundert Jahren gezeigt hat, steigt dieser Geist empor aus den „innerlichsten Formen christlicher Frömmigkeit“ (Weber 1904/1988: 26), die im radikalen Protestantismus die ganze Lebens­führung durchdringt.

Nachholende Aufklärung: Kritik der ökonomischen Vernunft

Von moderner Wirtschafts­wissen­schaft darf man erwarten, dass sie die alte Metaphysik des „freien“ Marktes vorbehaltlos vernunftgeleiteter Kritik zuführt. Universitäten sind ja der Idee nach keine „Glaubensgemeinschaften“ (Binswanger 1998), sondern aufkläre­rische Stätten methodisch diszi­plinier­ten Denkens. Von da her ist eine wirtschafts­ethische Öffnung der in Theorie und Praxis dominierenden ökonomischen Denkmuster überfällig. Der systematisch erste Schritt integrativ-wirtschafts­ethischer Orien­tie­rung im Denken besteht in der Kritik der (nicht ganz) „reinen“ ökonomischen Rationalität oder „Sachlogik“ hinsichtlich ihres normativen Gehalts.

In der neoklassischen Axiomatik wird alle soziale Interaktion als wechsel­seitigerVorteils­tausch zwischen Homines oeconomici gedacht, die je ihren privaten Nutzen zu maxi­mieren trachten und sich als Personen wechsel­seitig gleich­gültig sind. Unter­schreiben die Wirtschafts­subjekte freiwillig Tauschverträge, so profitieren beide Seiten, und damit scheint das Koordinationsprinzip ‚Markt‘ nicht nur (pareto-)effizient, sondern zugleich (tausch‑)gerecht und außerdem die Gewährsinstanz der individuellen Freiheit schlechthin zu sein. Wo genau steckt das Problem?

Die wirtschaftsethische Kurzantwort lautet: Das Problem besteht darin, dass die normative Logik des Vorteilstausches nicht identisch mit der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit ist. Ander gesagt: Das Marktprinzip kann nicht an die Stelle des philosophisch-­ethisch verstandenen Moralprinzipstreten (vgl. Ulrich 2008: 45ff., 196ff.). Dieses Prinzip definiert in formaler und universaler Weise die humanistische Grundidee, dass sich alle Menschen bedingungslos – oder mit Kants Imperativ formuliert: kategorisch – als Personen gleicher Würde wechselseitig achten und in ihren gleichen Grund­rechten anerkennen sollen. Dahinter kann eine zivilisierte Gesellschaft und Weltgemein­schaft nicht zurück. Es ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaftsmitglieder im Übrigen so unterschiedlich denken und leben können, wie sie mögen. Das erfordert eine unparteiliche, gegenüber den unterschiedlichen privaten Lebensentwürfen der Bürger neutrale öffentliche Grundordnung, die rechts­staatlich durchzusetzen ist als Ermög­li­chungsbedingung eines bunten gesell­schaft­lichen Pluralismus der Lebens­formen und Weltanschauungen. Diese strukturelle Zweistufigkeit ist das Schlüsselkriterium eines wohl­ver­standenen politischen Liberalismus nach Rawls (1998).

Der nach dem Marktmodell gedachte ökonomische Liberalismus ist aus dieser politisch-philosophischen Sicht kein zureichendes Prinzip einer liberalen Gesellschaft, denn im „freien“ Markt lassen sich die Individuen stets nur bedingt – nämlich gemäß ihrem je privaten Vorteilskalkül – aufeinander ein. Das vernunftethische Grundprinzip der unbedingten wechselseitigen Anerkennung der Individuen in ihrer unantastbaren Würde als humane Subjekte und in ihrem Status als gleichberechtigte freie Bürger ist damit nicht erfüllt. Ist die gesellschaftliche oder internatio­nale Ausgangslage unfair, so kann auch das Tausch- oder Handels­ergebnis in einem noch so effizienten Markt niemals gerecht sein.Diese strukturelle Parteilich­keit der markt­wirtschaftlichen System­rationalität genügt dem politisch-liberalen Kriterium einer unparteilichen, neutralen Grundordnung nicht.

Das ist im Kern der Grund, weshalb sich der politische – oder wie ich präziser formulieren möchte – der republi­kanische Liberalismus (Ulrich 2008: 319ff.), dem es um eine wohlgeordnete Gesellschaft real freier Bürgergeht, nicht auf das Konzept des „freien Marktes“ und den ihm entsprechenden ökonomischen Liberalismus reduzieren lässt. Eine zivilisierte, also in die civil society eingebettete Marktwirtschaft (Ulrich 2005) ist somit etwas prinzipiell anderes als eine entgrenzte Marktgesellschaft. Nicht Wohlfahrts­ziele, sondern gleiche Rechte und Pflichten aller Bürger bilden ihre konstitutive Qualität.

Fortschrittshorizont: „Zivilisierung“ der Marktwirtschaft

Aus diesen Überlegungen folgt, dass wir wieder lernen müssen, klarer zwischen Wirtschaft und Gesellschaftzu unterscheiden und – ganz im Sinn der alten aristoteli­schen Trias – die Vorordnung der Gesellschaft, in der wir leben wollen, vor die Systemrationalität der Marktwirtschaft zu gewährleisten. Es geht um die zeitgemäße Klärung des Leit­bilds einer voll entfalteten und wohlgeordneten Bürgergesellschaft und der legitimen und sinnvollen Rolle der Marktwirtschaft in ihr. Die republikanisch-liberale Basis dafür bildet die Weiterentwicklung der Bürger­rechte, die den Status freier Bürger auch im Wirtschaftsleben konstituieren. Es geht darum zu verhindern, dass die strukturelle Parteilichkeit des Marktes auf die Lebenslage der Bürger im Ganzen durchschlägt und damit deren reale Freiheit und Gleichberechtigung tangiert.

Der herkömmliche Sozialstaat korrigiert die Markt­ergeb­nisse vorwie­gend durch nachträgliche Umverteilung und lindert nur die Symptome der realen Unfreiheit der Wettbewerbsverlierer, sich selbst zu helfen. Klüger und liberaler wäre es, bei den Ursachen anzusetzen und als gesellschaftliche Eingangs­bedingung des Wettbewerbs faire Chancen für alle auf eine selbst bestimmte Lebens­führung und Existenzsicherung zu gewähr­leisten – in Form emanzipatorischer Wirtschaftsbürgerrechte. Auf eine program­ma­tische Kurzformel gebracht geht es um mehr emanzi­patorische Gesell­schafts­­­­politik als Voraussetzung für weniger kompensatorische Sozial­politik – in Absicht auf die größtmögliche reale Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger. Aus der alten Sozial­staats­debatte wird so eine gesell­­schafts­politi­sche Debatte über die sozio­ökonomischen Voraus­setzun­gen verallgemeinerungsfähiger Bürgerfreiheit.

Eine so ansetzende bürgerliberale Gesellschaftspolitik haben schon der Ordo­liberalis­mus und die darauf aufbauende Soziale Marktwirtschaft intendiert. AlfredMüller-Armack (1960) dachte bekanntlich eine „zweite Phase“ der Sozialen Marktwirtschaft an, und zwar mit heute wieder höchst aktuellen Überlegungen:

„Es wird kaum bestritten, dass in der nächsten Phase der Sozialen Marktwirtschaft gesell­schafts­­politische Probleme vor die ökonomischen treten werden. (…) Nach der Lösung des Produktionsproblems im Rahmen einer vollbeschäftigten Wirtschaft verschiebt sich der Aufgabenbereich der Sozialen Markt­wirtschaft. Sie muss künftig als Politik einer freien Gesellschaft begriffen werden.“ (Müller-Armack 1966: 273, 289).

Übereinstimmend Wilhelm Röpke:

„Bisher haben wir überwiegend Wirtschaftspolitik getrieben: nun aber heißt es für uns, Gesellschaftspolitik zu treiben.“ (Röpke 1944: 82).

Doch die politisch-philosophi­sche und wirtschaftsethische Grundlagenklärung war damals zu wenig fortgeschrittenen. Zunehmend reduzierte sich die Soziale Marktwirtschaft auf die Ergänzung des „freien Marktes“ um korrektive Sozialpolitik (samt den symptomatischen Folgen explodierender Sozialstaatskosten). So blieb das Verhältnis von Marktwirtschaft und Bürgergesellschaft auch in der „Stilform“ der Sozialen Marktwirtschaft konfus. Dem gilt es heute dringend auf den Grund zu leuchten. Nur so lässt sich erkennen, wie der von ihren Begründern angestrebte „dritte Weg“ zu einer voll entfalteten Bürgergesellschaft und einer durch sie zivilisierten Marktwirtschaft weiterzuführen ist (vgl. dazu Ulrich 2009).

Bürgersinn: Der kulturelle Kitt einer zivilisierten Marktwirtschaft

Neben der Etablierung tragfähiger Wirtschaftsbürgerrechte darf ein zweiter zivilisierender Ansatzpunkt nicht ausgeblendet werden: die Förderung des für jede freiheitliche Gesellschaft unverzichtbaren Bürgersinns. Was diese wirtschaftskulturelle Seite des Problems betrifft, so forderte schon Wilhelm Röpke einen „esprit civique, der ihn [den einzelnen Bürger] an das Ganze bindet und seinem Appetit [d.h. Egoismus] Grenzen setzt“ (1958: 170). Ganz im Sinne eines republikanischen Liberalismus schreibt er:

„Wer jetzt auch  noch den Liberalismus als eine primär wirtschaftliche Anschauung begreifen will, ist selbst in einer ‚ökonomistischen‘ Einengung befangen, die heute vollkommen überholt erscheint. (…) Der politisch-kulturelle Liberalismus (…) ist das Primäre und der wirtschaftliche Liberalismus (…) etwas Sekundäres.“ (Röpke 1944: 51; Hvh. i. Orig.)

Röpke kommt zum folgenden gesellschaftskritischen Urteil:

„Dabei werden wir bemerken, nicht ohne Erschrecken, wie weit wir alle bereits in die Denkgewohnheiten einer wesentlich unbürgerlichen Welt hinabgezogen sind. Dass das vor allem für die Nationalökonomen selber gilt, haben wir bereits bemerkt, als wir von ihrer Neigung sprachen, sich arglos einem Denken in Geld- und Einkommensströmen hinzugeben…“ (Röpke 1958: 140).

Was teilweise verloren gegangen zu sein scheint, ist ein republika­nisch-liberales Wirtschaftsbürgerethos. Dessen Kern bildet die Integrität im Wirtschaftsleben, auch die Geschäftsintegrität von Unternehmen. Das meint ganz wörtlich und im direkten Gegensatz zum marktliberalen Nutzen- bzw. Gewinn­maximierungsprinzip, das eigene Vorteils-, Nutzen- oder Gewinnstreben vom Selbst­verständnis als guter oder „anständiger“ Bürger nicht abzuspalten, sondern private Interessen nur so weit zu verfolgen, wie sie den Legitimitäts­bedingungen der Bürgergesellschaft entsprechen. Bürger mit einem solchen Ethos sehen darin gar keine Einschränkung, geht es doch um die „res publica“, mit der sie sich identifizieren und für deren öffentliche Ordnung sie sich mitverantwortlich fühlen. Solcher Bürgersinn bildet den tragenden Boden ethischer Selbstbindung und zugleich der zivilisierenden rechtsstaatlichen Einbettung der Marktwirtschaft in die Gesellschaft auf freiheitlich-demokratischen Wegen.

Literaturverzeichnis

Bastiat, F. (1855): Harmonies économiques, in: ders., Œuvres complètes, tome VI, 3ième ed., Paris.

Binswanger, H. Ch. (1998): Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen, München.

Dahrendorf, R. (2009): Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik?, in: Merkur 720, Mai 2009, S. 373-381.

Geyer, Ch. (2009): Rot stellt sich tot, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. April 2009.

Müller-Armack, A. (1960): Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik, in: ders./Meyer, F. W. (Hrsg.), Studien zur Sozialen Marktwirtschaft, Köln; abgedr. in Müller-Armack (1966), S. 267-291.

Müller-Armack, A. (1966): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg i. B.

Polanyi, K. (1944/1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M.

Rawls, J. (1998): Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M.

Röpke, W. (1944): Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich.

Röpke, W. (1958): Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich/Stuttgart.

Rüstow, A. (1961): Paläoliberalismus, Kommunismus und Neoliberalismus, in: Greiß, F. /Meyer, F. W. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festschrift für Alfred Müller-Armack, Berlin, S. 61-70.

Stöttner, R. (2009): Ursachen der aktuellen Finanzkrise, in: Forum Wirtschaftsethik, 17. Jg., Nr. 1, S. 6-19.

Thiele­mann, U./Ulrich, P. (2009): Standards guter Unternehmensführung. Zwölf internationale Initiativen und ihr normativer Orientierungsgehalt. St. Galler Beiträge zur Wirtschafts­ethik Bd. 43, Bern u.a.

Ulrich, P. (2005): Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, 2. Aufl., Freiburg i.B.

Ulrich, P. (2008): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 4. vollst. neu bearb. Aufl., Bern u.a.

Ulrich, P. (2009): Marktwirtschaft in der Bürgergesellschaft, in: Aßländer, M.S./Ulrich, P. (Hrsg.), 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft. Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel. St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik Bd. 44, Bern u.a., S. 349-380.

Weber, M. (1904/1988): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Aufl., Tübingen, S. 17-206.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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