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Wirtschaftswachstum als ständige Flucht vor der Krise?

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Das die Weltwirtschaft dominierende Modell der kapitalistischen Marktwirtschaft ist auf Wachstum angewiesen. Ständiges Wachstum ist jedoch vielleicht schon mittelfristig, sicher aber langfristig unmöglich  – der Weltwirtschaft droht eine Dauerkrise. Die sich daraus ergebenden Gefahren werden von der Wissenschaft, der Wirtschaft, von allen zuständigen gesellschaftlichen Instanzen und von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Wir müssen wahrscheinlich über realistische Alternativen zum wachstumsabhängigen Wirtschaftsmodell nachdenken.

 

1. Die weltweit dominierende kapitalistische Marktwirtschaft ist auf Wirtschaftswachstum angewiesen.

In allen entwickelten Ländern sowie den wichtigsten Schwellenländern dominiert heute (mit gewissen Abweichungen) die kapitalistische Marktwirtschaft. Marktwirtschaft bedeutet, dass die wirtschaftlichen Prozesse überwiegend in durch Wettbewerb gekennzeichneten Märkten stattfinden. Kapitalistisch bedeutet, dass das Kapital (durch seine Verfügung über die Produktionsmittel) den wichtigsten Produktionsfaktor darstellt, der vor allen anderen Produktionsfaktoren wie Arbeit, Wissen oder natürlichen Ressourcen Vorrang geniesst. Kapital muss zur Verfügung stehen, damit überhaupt wirtschaftliche Prozesse unter Beteiligung der anderen Produktionsfaktoren stattfinden können; und die Konkurrenz im Markt soll dazu beitragen, die Produktionsprozesse zu optimieren. Dieses Modell hat, soweit die Verteilung der erwirtschafteten Güter einigermassen funktioniert, in den entwickelten Ländern zu einem breiten und in der Geschichte einmaligen Wohlstand geführt. Nie zuvor haben so viele Menschen über einen solchen Reichtum an Gütern verfügt oder eine so gute Gesundheit, eine so hohe Lebenserwartung, einen so guten Zugang zu Wissen und Bildung und eine so hohe Sicherheit (Menschenrechte!) erreicht.

2. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist unbedingt und ausnahmslos auf weiteres Wachstum angewiesen.

„Die Alternative zum Wachstum ist Schrumpfung“ (H. C. Binswanger).[1] Das ist darin begründet, dass Kapital nur zur Verfügung gestellt wird, wenn dabei Gewinn erzielt werden kann; aber dieser wird zum grossen Teil zum Kapital geschlagen, welches also ständig anwächst. Wachstum ist also zunächst Anwachsen der Geldmenge. (Die ständig zunehmende Geldmenge wird mit der „Geldschöpfung“ durch Kredite ermöglicht.) Das anwachsende Kapital kann (und muss) investiert werden, also „wächst“ die Wirtschaft. Die anwachsende Geldmenge führt durch Investitionen zum Wachstum realer Güter.

Ohne Wachstum lässt sich kein Gewinn erzielen, also wird auch kein Kapital investiert; in der Folge muss die Wirtschaft schrumpfen, sie gerät in eine Krise, die Rezession mit den weiteren Folgen der Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Not breiter Volkskreise bis hin zur politischen Krise. Diese Form der Wirtschaftskrise ist deshalb so gefährlich, weil mit der Wirtschaft auch viele andere soziale Parameter ständig wachsen; zum Beispiel bestehen komplexe Wechselwirkungen mit dem Bevölkerungswachstum, der Zunahme des Verkehrs, des Nachrichtenaustausches etc. Rezessionen können die Existenz grosser Teile der Menschheit bedrohen.

Damit ist das Wirtschaftswachstum zur Notwendigkeit geworden, es gibt kein Zurück. Die Wirtschaftsentwicklung im Kapitalismus ist eine ständige Flucht vor der Krise. Dies ist die in der Geschichte der Menschheit vielleicht grösste Manifestation einer „Luxusfalle“, einer in der Kulturentwicklung nicht seltenen Form der Fehlentwicklung:  „Eines der ehernen Gesetze der Geschichte lautet, dass ein Luxus schnell zur Notwendigkeit wird und neue Zwänge schafft“ (Yuval Noah Harari, 2013).

 

3. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist aus ökologischen Gründen, aber auch aufgrund ihrer eigenen Funktionsprinzipien ein Auslaufmodell.

3.1. Unbegrenztes Wirtschaftswachstum ist nicht möglich, denn die Ressourcen unserer Erde sind begrenzt.

In den letzten Jahrzehnten ist klar geworden, dass die begrenzten Ressourcen unseres Planeten eine ständig wachsende Wirtschaft mit ihren Begleiterscheinungen wie Energieverbrauch, Schadstoffemissionen und Abfall, Bevölkerungswachstum, Klimawandel etc. nicht zulassen. Der Wachstumszwang unseres Wirtschaftssystems droht, das System „Erde“ aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auch das entspricht dem Muster eines in der Kulturentwicklung wohlbekannten Prinzips, dem „Entwicklungsparadox“: „Gesellschaftliche Entwicklung bringt genau jene Kräfte hervor, die ihr weiteres Wachstum behindern“ (Ian Morris, 2011).

3.2. „Schon die Grundprinzipien des Kapitalismus implizieren sein Scheitern durch den Erfolg“ (Jeremy Rifkin, 2013).

Wie schon J. M.Keynes (1939), nach ihm De Long & Summers (2001) und neuerdings wieder J. Rifkin (2013) festgestellt haben, führt die Steigerung der ökonomischen Effizienz, auch durch technologische Innovationen, wirtschaftliche Prozesse immer näher an die Null-Kosten-Grenze heran. In einer durch Wettbewerb bestimmten Wirtschaft kann so immer weniger Gewinn erzielt werden. Infolgedessen schwinden die Möglichkeiten für rentable Investitionen, die Wirtschaft kommt zum Stillstand. Auch diese Entwicklung entspricht dem Prinzip des Entwicklungsparadox.

 

4. Die aus dieser Konstellation entstehenden Gefahren sind nicht abzuschätzen.

Aus diesen Umständen droht sich ein gefährlicher Zustand zu entwickeln (niemand kann voraussagen, wie schnell er eintreten wird), in dem die Probleme der Entwicklungsfalle und des Entwicklungsparadox zusammentreffen: Die Flucht vor der Krise ist nicht mehr möglich, denn es geht nicht mehr vorwärts, aber es gibt auch kein Zurück. Die Folge ist Unfähigkeit zu handeln, fast die schlimmste Gefahr für jedes selbstaktive System. Die damit eintretenden Folgen für die Weltwirtschaft sind nicht abzusehen. Wir wissen nicht, wie schnell und wann sie eintreten, aber sie werden eintreten, falls nicht in neuen Kriegen und Wirtschaftskrisen immer mehr Wohlstand vernichtet wird.

 

5. Dieser Sachverhalt wird von gesellschaftlich und wirtschaftlich führenden Institutionen und Personen sowie der Öffentlichkeit praktisch ignoriert.

So gut wie jeder Zeitungsartikel, der sich mit der Wirtschaftsflaute beschäftigt, jeder Kommissionsbericht, jede Stellungnahme einer Behörde oder internationalen Wirtschaftsorganisation geht explizit oder implizit vom der Notwendigkeit aus, wieder Wachstum zu erzielen.

Auch die Modelle für Wirtschaftsreformen, wie die Vorschläge zu einer ökologischen, nachhaltigen Wirtschaft, zu Reformen des Geld– und Kreditsystems (Momo) oder die Forderung nach einer ethischen Begründung wirtschaftlichen Handelns (Wirtschaftsethik, NSW-RSE) bewegen sich vorwiegend im Rahmens des gegebenen Wirtschaftssystems.

Von den Interessenvertretern der Wirtschaft wird die Notwendigkeit des Wachstums verteidigt, ihre Problematik verharmlost. Nur ein Beispiel: In einer ausführlichen Publikation des Wirtschaftsverbandes „economiesuisse“ wird das Wachstum verteidigt, indem „7 Irrtümer“ zum Wachstum widerlegt werden. Dabei wird der Wachstumszwang ignoriert; Wachstum wird nicht als Wachstum der Geldmenge gesehen: „Wirtschaftswachstum bedeutet in der langen Frist ausschliesslich Wachstum von Ideen und technologischem Fortschritt“.

 

6. Kontrapunkt besitzt von seinen Zielsetzungen her die Verpflichtung und von seiner Zusammensetzung her die Möglichkeiten, dieses Problem zu bearbeiten und Ergebnisse und Lösungsmöglichkeiten in die Öffentlichkeit zu tragen. 

Dazu kann es erforderlich werden, nach realistischen Alternativen zum gegenwärtigen System zu suchen und bereits existierende Vorschläge zu prüfen.

 

Literatur

Bradford De Long, J., & Lawrence Summers (2001): „The New Economy: Background, Historical Perspektive, Questions and Speculations.“ In: Economic Policy for the International Economy.
Harari, Yuval Noah (2013): Eine kurze Geschichte der Menschheit,München, Deutsche Verlags-Anstalt.
Keynes, John M. (1939): Ökonomische Möglichkeiten für unsere Enkel, engl. in: Keynes, Collected Writings, Vol. IX, London.
Minsch, Rudolf (2014): Warum noch weiter wachsen? Artikel auf der Website von economiesuisse (15.8.2014).
Morris, Ian (2011): Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, Frankfurt/New York: Campus.
Rifkin, Jeremy (2014): „Die Null-Grenzkosten- Gesellschaft“, Frankfurt/New York: Campus.

 


[1] Meine Ausführungen über die Gründe des Wachstumszwanges und seine ökologischen Folgen bringen natürlich nichts Neues; sie beruhen zum grossen Teil auf den Publikationen von Hans Christoph Binswanger.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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