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Versicherungsprämien: Wie gerecht ist „risikogerecht“?

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 14. Dezember 2012

Das Versicherungswesen steht in einem tief greifenden Wandel. Eines der neuen Phänomene ist besonders in der Privatversicherung die immer stärkere Selektion der Versicherten durch die Versicherer nach sogenannte „Risikogruppen“. Ehemals einheitlich behandelte Klassen von Versicherten werden mit detaillierten Methoden in kleine Risikogruppen untergliedert und mit differenzierten Prämien belastet. „Individuell risikogerechte“ Prämien, so die Devise, seien versicherungstechnisch und marktwirtschaftlich geboten und hätten mit Moral und Solidarität nichts zu tun, verlautet aus der Versicherungsbranche. Ist dem tatsächlich so? Oder müssten nicht neben Markt und Versicherungstechnik gewisse ethische Kriterien als Grenzen der Prämiendifferenzierung herausgearbeitet und beachtet werden?

Sach- und Wertefragen brauchen sich nicht gegenseitig auszuschiessen. Nicht alles, was technisch und marktökonomisch „geboten“ (ein religiöser Ausdruck!) scheint, ist ohne weiteres ethisch gerechtfertigt. So stellen sich globale Wirtschaftsführer am „Open Forum“ des World Economic Forum in Davos die Frage nach ethischen Leitlinien und Grenzen wirtschaftlichen Handelns. Aber nicht nur in den Führungsetagen der Wirtschaft hat sich eine Öffnung zum ethischen Diskurs vollzogen. Soll dieser Diskurs in der Praxis konkrete Auswirkungen haben, muss beispielsweise die Versicherungswirtschaft prüfen, ob sich hinter dem Begriff „individuell risikogerechte Prämien“ keine ethisch fragwürdige Ungleichbehandlung versteckt, die Menschen in ihrem Wohl und ihrer Würde treffen.

Die Praxis der ungleichen Behandlung kleinzelliger Risikogruppen betrifft zurzeit besonders die Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Nicht nur werden Fahrzeughalter nach ihrem Herkunftsland unterschiedlich behandelt („Türken zahlen 70% mehr“ titelte eine Zeitung). Die Prämienberechnung „greift mittlerweile auf mehrere Duzend Kriterien zu“, wie es die wenig transparenten Mitteilung einer Versicherungsgesellschaft formuliert. Dabei wird nicht offen gelegt, welche Kriterien konkret berücksichtigt werden und wie der Versicherte durch sein Verhalten die Prämie beeinflussen könnte. Auch kann nicht erfasst werden, wer effektiv das versicherte Fahrzeug lenken und damit effektiv das Risiko verursachen wird. Dies muss ja nicht zwingend der Halter sein. Im kürzlich bekannt gewordenen Fall einer „Raserbande“ war der tödlich Verunfallte ein 16jähriger Sohn des Versicherungsnehmers.

In Zukunft soll die Prämie sogar nach den effektiv gefahrenen Strecken und ihren aktuellen Gefahren abgestuft werden können („Pay as you drive“, vgl. NZZ Nr. 261 vom 13.12.2005). Auch in der sozialen Krankenversicherung wird nach Möglichkeiten spezifischer Risikoselektion gesucht, und in Zukunft wird sich diese Technik wohl auch auf die Sachversicherung (zum Beispiel Hausrat) und die Altersvorsorge ausweiten.

Ermöglicht wird dies vor allem durch die technologische Entwicklung, die eine feinere Analyse der Datenbanken von Versicherern erlaubt (wie überhaupt das moderne Versicherungswesen seine heutige Form den Fortschritten in der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung verdankt). Aber eine wichtige Rolle spielen auch Regulierung und Deregulierung, welche die Ungleichbehandlung von bisher als gleichartig betrachteten Fällen gestatten. Die Versicherer machen für die verstärkte Markt-Segmentierung den steigenden Wettbewerbsdruck verantwortlich. Er zwinge dazu, sogenannte „gute Risiken“ nicht an Konkurrenten zu verlieren, sondern mit günstigen Prämien zu „behalten“. „Ungünstigere Risiken“ (gemeint sind Menschen mit konkreten Schicksalen) unterliegen einer negativen Selektion: sie können sich nur noch gegen wesentlich höhere Prämien versichern lassen – wenn überhaupt. In der Motorfahrzeug-Versicherung rechnet man längerfristig für bestimmte Risikogruppen mit bis zu zehnfach höheren Prämien als die Durchschnittsprämien.

Sprengen Unterscheidungen von Versicherungsprämien je nach „Risikogruppe“ in den Sozialversicherungen und in der Privatversicherung nicht die Solidarität aller? Zwingen Markt und Wettbewerb dazu, dem Trend zu folgen „Weg vom Einheitstopf – hin zu mehr Individualität?“ Liegt nicht der Sinn der Versicherung in „Über-Individualität“? Denn darin besteht die Solidarfunktion und Legitimation jeder Versicherung: wer vor Risiken steht, welche Leben oder Lebensqualität bedrohen und im individuellen Fall nicht einschätzbar sind; will sich versichern (oder ist in der Sozialversicherung versichert): Eine Versicherung ist möglich, weil derartige Risiken in der „grossen Zahl“ kalkulierbar und bezahlbar gemacht werden können. In kleinen und kleinsten Risikogruppen beschränkt sich die Solidarität auf die Mitglieder innerhalb dieser Gruppen, während sie zwischen den Gruppen schwindet.

Die ethische Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich nachdrücklich: Inwieweit werden verschiedene Versicherte gegen bestimmte Risiken (Motorfahrzeug-Haftpflicht, Krankheit, Alter) in gleichartiger Lage gleich behandelt (oder eben ungleich), und inwiefern unterscheiden sich ihre Fälle? Auch eine der Solidarität gerecht werdende Prämiengestaltung bedarf der Differenzierung. Ebenso sind Massnahmen gegen „moral hazard“ und Ausbeutung der Solidarität legitim. Doch welches sollen die Kriterien sein? Sollen sie nur konkretes (schuldhaftes) Verhalten und praktizierte Verantwortlichkeit spiegeln oder auch auf Merkmale zurückgreifen, die der Versicherte nicht beeinflussen kann? Es geht nicht eigentlich um einen Gegensatz zwischen Solidarität/Gerechtigkeit und Effizienz, sondern um die Art der Verbindung der beiden unterschiedlichen Dimensionen: um die Orientierung an Solidarität und Gerechtigkeit wie um ökonomische Effizienz – aber nicht nur um das zweite zulasten des ersten. Sonst wird die menschen-gerechte Solidarität zerstört zugunsten der „Individualität“ ausschliesslich risiko-gerechter und effizienter Prämien.

Versicherungen und Sozialversicherungen waren und sind eine notwendige Ergänzung zum Funktionieren des Marktes. Moderne Wirtschaftsgesellschaften haben zwei Modelle der Risiken mindernden Versicherungsidee realisiert, die Sozialversicherungen und die Privatversicherungen. Sozialversicherungen schützen gegen allgemeine Risiken (wie Altersarmut, Krankheit und Unfall, Arbeitslosigkeit) als Teil des „ordre public“, entsprechend einer anerkannten ethischen Präferenz und zum Nutzen aller. Durch Privatversicherungen können sich Einzelne in virtueller Gegenseitigkeit gegen spezifische Risiken absichern. Beide Modelle beruhen nach wie vor auf der Idee der Gegenseitigkeit, der Solidarität und der Gerechtigkeit im Sinne der Gleichbehandlung der von gleichartigen Risiken Betroffenen. Dies gilt auch wenn das zweite Modell heute nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert ist, und zwar in Form von Unternehmen, die „Versicherungsprodukte verkaufen“.

Mit der zunehmenden Komplexität und Segmentierung unserer Gesellschaft ist die Sache der Solidarität schwieriger geworden. Solidarität setzt ein Wir-Empfinden voraus. Gelebte Solidarität von Menschen gilt zuerst der eigenen Gruppe oder der Gemeinschaft, und sie grenzt die Anderen von dieser Solidaritätsverpflichtung aus. Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung ist die „Wir-Einheit“ vielfach zersplittert worden. Wir gehören nicht mehr bloss einer Gruppe – der Familie, der Sippe, nach wie vor die primären Solidaritätskreise – an, sondern vielfältigen Wir-Kreisen – als Kennzeichen der modernen Kulturentwicklung. Solidarität, weit mehr als ein Gefühl, vielmehr Ausdruck objektiver Zusammengehörigkeit, ist als individuelle und öffentliche Tugend über den „face to face“-Bereich hinaus gewachsen und zu einem der grundlegenden Prinzipien nationalen Rechts, der Staatlichkeit und ihrer öffentlichen Verfasstheit geworden. Im Zuge der Internationalisierung des Wirtschaftslebens und der Kommunikation erfuhr ihre Geltung eine Universalisierung – Zeichen der Zugehörigkeit zur „einen Menschheitsfamilie“. Kommunikationstechnik und Medien ermöglichen, über das Schicksal von anderen Gliedern der Weltfamilie wenigstens teilweise im Bild zu sein und entsprechende Solidaritätsleistungen, aber auch Erwartungen hervorzubringen.

Solidarität setzt in jedem Wir-Kreis eine minimale Gleichartigkeit der Erfahrungen und des Verhaltens, man könnte auch sagen: Spielregeln voraus. Schicksalsschläge mit Ursachen in sogenannt natürlichen Katastrophen lösen die allgemeinste Wir-Betroffenheit aus. Sie ist der Grund für universelle Solidaritätsakte unabhängig von Verschulden und politischer Machbarkeit. Das Solidarnetz der Arbeitslosenversicherung hingegen deckt ein Risiko, das sich zunächst innerhalb der Reichweite einer staatlichen Wirtschaftspolitik darstellt. Wie in diesem Beispiel deutlich wird, setzt die Bereitschaft zu Solidaritätsleistungen voraus, dass sich alle – die von Arbeitslosigkeit Betroffenen und die Arbeitsbesitzenden – in einem bestimmten Masse konform verhalten und die gleichen Spielregeln einhalten. Arbeitslose und arbeitsfähige Versicherte haben sich um Stellen zu bemühen und dürfen nicht als Trittbrettfahrer bloss von den solidarischen Leistungen anderer profitieren. Sozial- und Privatversicherungen müssen sich im Interesse nachhaltiger Wirkung gegen Missbrauch und Ausbeutung schützen. Flankierende Massnahmen müssen entsprechend regelkonformes Verhalten gewährleisten und schliesslich jene von der solidarischen Unterstützung ausschliessen, welche die minimalen Voraussetzungen einer Solidar-Gemeinschaft – zum Beispiel die Einhaltung von Geschwindigkeitsregeln – grob missachten.

Hier liegt ein wunder Punkt neuzeitlicher Solidaritätseinrichtungen. Kraft moderner Methoden können Personen, die nicht im Rahmen geltender Spielregeln der Gemeinschaft kooperieren, als besondere Risikogruppen identifiziert und zu besonderen Leistungen (Prämien) verpflichtet werden (wie zum Beispiel Extremsportler in der Unfallversicherung). Das ist auch im Lichte von Solidarität und Gerechtigkeit begründet, denn es sollen nicht jene, die sich an anerkannte Risikogrenzen halten, für die Defektierer zahlen müssen. Immer dann jedoch, wenn die Kriterien für die Bildung von Risikogruppen mit Merkmalen zusammen fallen, für die man nichts kann, die nur zugefallen sind, ist höchste Vorsicht am Platze. Uns „zugefallene“, kontingente Kriterien – sie haben in der Geschichte zu willkürlichen Diskriminierungen geführt – sind etwa Herkunft, Rasse, Geschlecht, Alter, Sprache, soziale Stellung, Lebensform, religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung sowie körperliche, geistige oder psychische Behinderung (Aufzählung analog Art. 8 der Bundesverfassung).

Werden Risikogruppen nach diesen Merkmalen gebildet – und kann man sich dazu noch durch kein „konformes“ Verhalten aus einer solchen Risikogruppe befreien – kommt es zu unberechtigter „Sippenhaftung“. Dies scheint tendenziell bei den besonders hohen Autoversicherungsprämien für Autofahrer aus den Balkan-Staaten der Fall zu sein. Selbst wenn es zutrifft, dass ein statistisch signifikant hoher Anteil der Raser unter den Bürgern bestimmter Herkunftsstaaten zu finden ist, rechtfertigt dies nicht, alle Bürger dieser Staaten einer besonderen Risikogruppe zuzuordnen. Das Beispiel des aus Tschechien stammenden Professors, der seit über 20 Jahren in der Schweiz lebt, unfallfrei fährt und nun, einfach weil er Tscheche ist, die „Balkan-Prämien“ zahlen muss, macht dies deutlich.

Aus ethischer Sicht darf ein „zufälliger“, also uns zufallendes Merkmal wie Geschlecht, Nation, Volk nicht zum Kriterium einer gleichsam versicherungstechnischen Vorverurteilung führen. Nicht das Sein soll, sondern Merkmale des Verhaltens (und allenfalls die individuelle Verhaltenstendenz) sollen als Beurteilungskriterien für spezifische Risiko- und mithin Solidargruppen gelten. Die Kriterien müssen transparent, ihre Anwendung durch die Versicherten muss überprüfbar werden. Die Zuteilung zu bestimmten Hochrisiko-Gruppen muss durch besseres Verhalten revidierbar sein.

Wenn der marktwirtschaftliche Wettbewerb dennoch die Versicherer zu extensiver Risiko-Gruppenbildung veranlasst – und soweit den einzelnen Unternehmen nicht moralisch zuzumuten ist, sich mit Rücksicht auf die Prinzipien von Solidarität und Gerechtigkeit diesen Druck aufzufangen – sind auf gesetzlichem Wege die Spielregeln unter den Versicherern so zu gestalten, dass solidaritäts- und gerechtigkeitsverletzende Prämiendifferenzierung, also Diskriminierung, verhindert wird. Wo der Markt und die Unternehmungen ethischen Kriterien nicht genügen können, weil der Wettbewerbsdruck zu gross ist (Marktversagen in ethischer Hinsicht), muss der Staat in einem höheren Sinne „wettbewerbspolitisch“ aktiv werden – sonst liegt Staats- beziehungsweise Politikversagen vor.

*Der Autor, Ethiker und Volkswirtschafter, ist H.Professor für Sozialethik an der Christkath. und Evang. Theologischen Fakultät der Universität Bern.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:

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