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Grosseltern, die verkannte Gesellschaftsstütze

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 6. April 2018

Man spricht immer häufiger von der zunehmenden Betreuungsbedürftigkeit der Alten (und ihren Kosten) und vergisst darüber, dass diese vorher jahre-, oft sogar jahrzehntelang selbst aktiv betreuen, zuerst ihre Kinder, nachher ihre Eltern, und später oder gleichzeitig die Kinder ihrer Kinder. Zahlreiche Grosseltern kümmern sich in oft beträchtlichem Ausmass um ihre Enkelkinder. Viele empfinden dies als beglückend und engagieren sich hochmotiviert in diese biographisch neue Tätigkeit, die häufig in die Zeit ihrer Pensionierung fällt und ihre neu gefundene Verfügbarkeit auf-, aber auch auswertet. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht die informelle, aber immer verbreitetere Indienstnahme der Grosseltern für die Kinderbetreuung als verdeckte, nicht beabsichtigte Sparhilfe an moderne Sozialstaaten anzusehen ist, die als billiges Ruhekissen von sozialpolitischem Handeln entlastet.

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Die seit der Industrialisierung in Gang gekommenen Strukturveränderungen der Gegenwartsgesellschaften haben wichtige Folgen. Die Familienbeziehungen konzentrieren sich stärker auf die ein- oder maximal zweigenerationale Kernfamilie, weiter gefasste Gemeinschaften sind immer weniger auf eine geschlossene Ortschaft oder Region beschränkt und werden dadurch geschwächt, die lokale Ebene nimmt für immer grössere Bevölkerungsanteile städtischen bis grossstädtischen Charakter an. Das führt dazu, dass spontane, zwischenmenschliche Solidarität im Gleichschritt mit der nachbarschaftlich ausgeübten Kontrolle immer weniger Raum findet und durch institutionelle Alternativen ersetzt werden muss, soll ihre sozial bindende Funktion nicht verlorengehen. Das ist vereinfachend der Hauptgrund, der zur Entwicklung sozialstaatlicher Einrichtungen geführt hat, vor allem im 20. Jahrhundert.

Diese Einrichtungen konzentrieren sich auf den ersten Blick, besonders im Fall der Schweiz, weitgehend auf das Reparieren biographischer „Unfälle“ wie Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit. Die ebenfalls zentrale Alterssicherung passt allerdings weniger in dieses Schema. Was die sozialstaatlich einigermassen gut abgesicherten Lebenslaufrisiken gemeinsam haben, scheint bei genauerem Hinsehen eher das mehr oder weniger “unverschuldete” Herausfallen aus dem Arbeitsmarkt zu sein. Und in Marktgesellschaften heisst dies, in finanzielle und damit auch soziale Abhängigkeit zu geraten, wo keine Rechte auf Absicherung bestehen.

Dass andere Lebensbereiche sozialstaatlich wesentlich weniger gut unterstützt werden, wird sichtbar, wenn man an die Familie denkt, namentlich als Ort von Alltagsbildung, Erziehung und Pflege (im weiten Sinne von care). Die meisten ausserfamilialen Bereiche, an denen Erwachsene und Kinder regelmässig teilnehmen (namentlich Arbeitswelt, Schule, Konsum) funktionieren so, dass sich die Menschen häufig mit Vereinbarkeitskonflikten auseinandersetzen müssen, denn diese unvermeidliche Mehrfachteilnahme geht mit erheblichen, meist kaum aufeinander abgestimmten Ansprüchen an ihre persönliche Zeit, Energie, Motivation, Wissen und Fähigkeiten einher, zwischen denen sie vermitteln müssen.

Dieses Problem wird vor allem mit Blick auf die Mütter diskutiert (Vereinbarkeit von Arbeit und Familie). Das ist insofern ein Fortschritt, als es vorher unzureichend beachtet wurde. Die Beschränkung auf Mütter greift aber zu kurz, weil sie die Sorgepflicht der Väter ausklammert (oder zumindest aufs Geldverdienen reduziert) und genau so sehr, weil sie andere Solidaritätsbeziehungen als jene zwischen Müttern und Kindern unbeachtet lässt.

Ein weiteres derartiges Solidaritätsverhältnis ist jenes zwischen Grosseltern und Enkelkindern. Es ist eigentlich eine Dreiecksbeziehung, weil die Eltern als mittlere Generation ebenfalls dazu gehören; neben der – meist im Vordergrund stehenden – emotionalen Bindung entlasten die Grosseltern mit ihrem Einsatz die Eltern punkto Betreuungsaufwand. Was in rein zwischenmenschlicher Perspektive als „Liebesdienst“, als für beide Seiten befriedigend und als normaler Bestandteil der Grosselternrolle erscheint, erweist sich aus der Sicht der ganzen Gesellschaft als massive Dienstleistung, die gesellschaftlich unerlässlich ist, unter Verzicht auf andere Aktivitäten erbracht wird (und dies oft unter dem Druck emotionaler Ansprüche), aber unbezahlt bleibt und auch sonst gesellschaftlich nur wenig anerkannt wird. Es lohnt sich, einige der wenigen Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die dazu in der Schweiz vorhanden sind.

Die nichtinstitutionelle bzw. informelle familien- und schulergänzende Kinder­be­treuung (wichtigste Form: durch die Grosseltern) ist häufiger als die institutionelle. Für 2014 hat das BfS ermittelt, dass für Kleinkinder (0-3 Jahre) die informelle Betreuung fast drei Viertel ausmacht, für grössere Kinder (4-12 Jahre) rund 55%. Öffentliche Einrichtungen befriedigen also weniger als die Hälfte der effektiven Nachfrage; für Kinder im Vorschul- bzw. Vorkindergartenalter ist das Manko wesentlich grösser als für diejenigen im Schulalter. Insgesamt greift etwas mehr als die Hälfte der Eltern auf Kinderbetreuung durch Verwandte zurück, bei Alleinerziehenden ist der Anteil leicht geringer, da sie stärker auf institutionelle Lösungen angewiesen sind.

Die entscheidende Rolle der Grosseltern erhellt sich durch folgenden Vergleich: 8.9% aller Frauen und 4.0% aller Männer über 15 Jahren betreuen verwandte Kinder, aber rund 60% der Grosseltern sehen ihre Enkelkinder mindestens einmal pro Woche; 24% von ihnen kümmern sich regelmässig (mindestens einmal pro Woche) um eines oder mehrere. Dabei werden vor allem Grossmütter mobilisiert, besonders für kleine Kinder (ihr Betreuungsanteil für Kinder unter sechs Jahren beträgt 73%). Bei den nichtbetreuenden Grosseltern dürften die geographische Distanz zwischen den Wohnorten und die oft noch andauernde Berufstätigkeit die wichtigste Rolle spielen (Frauen werden im Mittel mit 62 Jahren Grossmütter, Männer mit 66 Grossväter).

Nach dem Bundesamt für Statistik (BFS) erbringen die Grosseltern in der Schweiz rund 160 Mio. Stunden Betreuungsaufwand pro Jahr (2016) und schaffen damit einen volkswirtschaftlichen Wert, den das BFS auf 8.146 Milliarden Franken schätzt. Dieser Betrag entspricht gerade mal der Hälfte dessen, was die gleichen Leistungen nach dem günstigsten Krippentarif kosten würden. Da dieses beträchtliche Dienstleistungsvolumen nicht finanziell entgolten wird, taucht es im Bruttosozialprodukt nicht auf und bleibt insofern volkswirtschaftlich unsichtbar, genauso wie Haus- und Freiwilligenarbeit. In der heutigen Situation gehört es nichtsdestoweniger zum nötigen Umfeld des Wirtschaftens; ohne es würde der Wirtschaft ein entsprechend grosses Volumen von Arbeitsstunden entgehen und das Verlangen, dass sie sich in irgendeiner Form an der Kinderbetreuung beteiligt, wäre deutlich massiver.

Im europäischen Vergleich liegt die Häufigkeit des Grosselterneinsatzes der Schweiz im Mittelfeld der Länder (in Nordeuropa, den Niederlanden, Belgien und Frankreich betreuen mehr Grosseltern ihre Enkel als in der Schweiz und Südeuropa), doch er ist hier besonders intensiv (Kriterium: mindestens einmal pro Woche). Nur in Südeuropa – Spanien, Italien, Griechenland – mit seinen typisch schwächeren sozialstaatlichen Einrichtungen ist er noch intensiver. (Die Häufigkeit betrifft den Anteil der Grosseltern, die überhaupt Enkel betreuen, die Intensität, wie oft sie dies tun).

Die  Betreuung der Kinder durch ihre Grosseltern erweist sich damit in der Schweiz als ein Phänomen mit beträchtlichem Umfang, das einem verbreiteten Bedürfnis der Eltern entspricht. Es bleibt jedoch öffentlich weitgehend unsichtbar und politisch unberücksichtigt, weil es von den volkswirtschaftlichen Indikatoren nicht erfasst wird und kaum Anlass zu politischen Vorstössen gibt. Damit wird es auch weniger leicht als gesellschaftliches, also nicht ausschliesslich privates Phänomen greifbar.

Ausserdem ist bekannt, dass angesichts der geringen Zugänglichkeit öffentlicher Betreuungseinrichtungen in der Schweiz (ungenügende Zahl, Distanz, Stundenpläne, Preis) die Kaufkraft der Eltern ein wesentlicher Faktor für deren effektive Benützung ist: nur gutbetuchte Eltern können es sich leisten, in grösserem Umfang auf ausserfamiliale Kinderbetreuung zurückzugreifen, für die anderen sind die Grosseltern eine kaum zu ersetzende Stütze. Umso problematischer ist die Situation jener Eltern, die knapp bei Kasse sind und nicht auf Grosseltern zurückgreifen können.

Aus dieser Situation ergibt sich, jenseits aller positiven Gefühle, welche die Beziehung zwischen Grosseltern und Enkelkindern begleiten, ein beträchtlicher familiärer Druck zum Betreuungseinsatz der Grosseltern, der ihnen in vielen Fällen volle „Einsatzpläne“ und geringe anderweitige Verfügbarkeit beschert. So erfüllend dies von vielen auch erlebt wird, so steht diese Situation dennoch der offiziellen Zielsetzung der Alterssicherung direkt im Weg: nach einem vollen Arbeitsleben sollen die Älteren eine Zeit der Freiheit von Zwängen erleben können, die ihnen erlaubt, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt, und nicht, was ihnen Familienpflichten und das Fehlen von Alternativen vorschreiben.

Der drängende Rückgriff auf die Grosseltern resultiert aus der Tatsache, dass für einen grossen Teil der Mütter zwischen der Betreuung ihrer Kinder und ihrer Berufstätigkeit ein Entweder-oder-Verhältnis besteht. Dieser Zustand wird von einer Dreierkonstellation von Faktoren aufrechterhalten. Zum einen lastet auf einem Grossteil der Familien ein finanzieller Druck zur Erwerbsarbeit beider Partner; erst ab einem beträchtlichen und entsprechend seltenen Einkommensniveau genügt der Erwerb eines einzigen Partners für die ganze Familie. Zum zweiten lastet auf den Vätern ein grosser Druck zur Vollzeitarbeit, während von den Müttern als normal erwartet wird, sich primär um die Kinder zu kümmern und nur sekundär, soweit die Familienpflichten dafür Raum lassen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die nach wie vor verbreitete Frauendiskriminierung in der Arbeitswelt macht ihrerseits für die Paare den Abbau der Erwerbsarbeit der Frau weniger „teuer“ und damit „rationaler“ als seitens des Mannes und trägt damit zur Erwerbskdiskriminierung der Frauen bei. Zum dritten sind angesichts des relativen Fehlens günstiger ausserfamilialer Betreuungsmöglichkeiten die verfügbaren Finanzen der Familie, also ihre Kaufkraft, die wichtigste Ressource zum Abbau dieses Druckes. Sie ist nichts weniger als die Voraussetzung dafür, dass beide Partner relativ frei über das Verhältnis zwischen ihrem Berufs- und ihrem Familienengagement entscheiden können. Anzufügen bleibt, dass der Verzicht auf Kinder ein „Ausweg“ ist, der hier ebenfalls ins Spiel kommt, um das Dilemma zwischen Mutterschaft und Erwerbsarbeit zu vermeiden. Die aus dieser Dreierkonstellation stammenden Drücke werden an die Grosseltern als Aufforderung zur Mitbetreuung ihrer Enkel weitergegeben.

Was ist zu tun, um die Wahlfreiheit der Grosseltern wie auch der Eltern zu erhöhen? Ein nur anscheinend privater Schritt besteht darin, das Thema aus der Tabuzone verwandtschaftlicher Verpflichtungen (mit dem Siegel der Selbstverständlichkeit) herauszuholen und es in den Bereich der zwischen Verwandten offen diskutierbaren Austauschformen zu verschieben. Dabei geht es darum, das Bewusstsein der Beteiligten, vor allem der Grosseltern und ihrer Eltern gewordenen Kinder, über die Tatsache zu fördern, dass die Pensionierung als „Reich der Freiheit“ konzipiert ist und auch als solches praktisch gelebt werden sollte.

Aber auch die Realisierung institutioneller Massnahmen drängt sich auf, die schon lange diskutiert werden. Wie in praktisch allen anderen europäischen Ländern ist in der Schweiz ein echter Eltern- und nicht bloss Mütterurlaub mit Stellenabsicherung überfällig. Seine Realisierung ist für die Gendergleichstellung grundlegend, auch wenn der Bundesrat findet, diese Massnahme, obwohl zur Umsetzung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung unerlässlich, sei heute unbezahlbar. Gleichermassen braucht es flächendeckend ganztägige Kindergärten ab 3 Jahren sowie Tagesschulen, wie sie in anderen europäischen Ländern (Frankreich, Deutschland), aber auch im Kanton Tessin, mit Erfolg eingeführt werden.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. em. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter, ETH Zürich; PD Dr. Thomas Kesselring, Universität Bern; Prof. em. Dr. Wolf Linder, Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. Dr. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Dr. h.c. Rudolf H. Strahm, Herrenschwanden; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

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