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Unsere Freiheit – ist sie Gabe oder Aufgabe?

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„Alle Menschen werden frei und gleich geboren“. So sahen es die Revolutionäre der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das war eine starke These gegen die feudalistische Herrschaftsordnung in Europa. So liess sich die Aufgabe, die Menschen von Knechtschaft zu befreien, durch die Tatsache der freien Geburt aller legitimieren. Tatsächlich werden wir zwar alle ungleich und wenig frei geboren. Als Kampfaussage war die Behauptung vor der Revolution trotzdem zulässig.

Nach der Revolution sieht das anders aus. Heute wird unsere Freiheit durch zahlreiche Freiheitsrechte normativ gesichert. Sie ist zur wachsenden – und wandelnden – Errungenschaft geworden, zum Kulturgut, das uns allen gehört. Wer Freiheit als gegeben ansieht, macht damit seinen Besitz geltend, etwas, das ihm gehört und über das er verfügen darf. Er sieht darin nicht mehr die revolutionäre Aufgabe, die verlangt, Freiheit herzustellen und täglich neu zu erlangen. Freiheit wird so zu einer Machtposition, von der aus jeder seine Wünsche durchzusetzen versucht. In einer ökonomisch geprägten Welt wird Freiheit zudem zu einer Ware, die man stückweise kaufen oder verkaufen kann – etwa als Arbeit, die man einkauft oder an die man sich verkauft. Schlimmer noch: sie wird zu einer Selbstverständlichkeit, mit der man rechnet, ohne etwas für sie tun zu müssen. Freiheit verliert den Charakter von etwas uns Aufgegebenem.

Angeboren scheint mir nur der gesunde Egoismus des kleinen Kindes zu sein, das sich durch Schreien und Trotzen seinen Platz in der Familie erkämpfen will. Wenn niemand das Kind zu einem sozialen Wesen erzieht, lernt es nicht, zwischen seiner Lust und seiner Freiheit zu unterscheiden. Es meint auch erwachsen noch, es habe ein Recht auf alles. Wenn ihm davon etwas verwehrt wird, sieht es darin eine Einschränkung seiner Freiheit. Es vermag nicht zu erkennen, dass Freiheit nur im Verhältnis zu andern möglich ist und auch Verantwortung bedeutet.

Die Schweiz rühmt sich, ein freiheitsliebendes Land zu sein. Die „Schweizer Freiheit“ war einmal der Inbegriff einer Ordnung, in welcher der Einzelne dank des kollektiven Zusammenhalts unter „Eidgenossen“ frei zur genossenschaftlichen Mitwirkung unter Gleichberechtigten aufsteigen konnte. Freiheit wurde von der Gemeinschaft dem Einzelnen gewährt. Freiheit war nicht privater Besitz, sondern öffentliche Aufgabe. Das wäre sie heute noch. Nur vergessen wir, dass wir nur frei sein können, wenn uns die andern als frei anerkennen und wenn wir uns dieser Anerkennung als würdig erweisen. Das gilt für den Einzelnen wie für die Staaten.

Die Schweiz kann nur frei sein, wenn sie nach innen – zwischen Mächtigen und Schwachen – solidarisch ist, d.h. jeden und jede in seiner und ihrer Bürgerfreiheit achtet und ernst nimmt. Wenn sie frei sein will, muss sie aber auch nach aussen – etwa zu Europa – solidarisch sein und sich als freies und verantwortliches Mitglied der Staatengemeinschaft bewähren.

Europa ist Bedingung schweizerischer Freiheit. Wir verdanken den Deutschen und Franzosen, dass sie ihre nationale Souveränität eingeschränkt haben, damit es nie wieder einen Krieg zwischen ihnen gibt. Sie haben ihre Freiheit richtig verstanden als Recht zur Eigenständigkeit wie als Pflicht, Verantwortung gegenüber den andern wahrzunehmen. Sie haben eingesehen, dass sie sich je selbst nur frei entwickeln können, wenn sie die andern als gleichberechtigt anerkennen. Das geht heute über all den Interessenkämpfen in der EU oft vergessen. Auch wir Schweizer vergessen es meist. Wir müssen nicht der EU beitreten wollen. Aber wir sollten unser Verhältnis zur EU nicht nur nach unserem Eigeninteresse an Selbständigkeit beurteilen. Im Verhältnis Schweiz – Europa geht es nicht zuvorderst um eine Interessenabwägung, sondern um eine Gerechtigkeitsfrage: Leisten wir trotz unserem Abseitsstehen unseren Teil an Gegenseitigkeit im Friedensprojekt der Europäischen Union? Verstehen wir unsere „Schweizer Freiheit“ noch als gemeinsames Ziel – das heute nur europäisch und global angestrebt werden kann? Oder nehmen wir unsere Freiheit als ein Gut, das wir schon „haben“ und höchstens noch „verteidigen“ müssen, statt als eine Aufgabe, die wir erfüllen sollten und für deren Gelingen wir dankbar sein könnten?

Wie unter Staaten ist die Freiheit auch unter Menschen nicht eine Frage der Interessenabwägung, sondern der Gerechtigkeit. Frei kann ich nur sein, wenn mich die andern gerecht behandeln – oder ich mich gegen ungerechte Verhältnisse wehren kann, weil unser Rechtsstaat mich in meiner Freiheit schützt. Öffentliche und private Freiheit sind dabei untrennbar. Freiheit ist nur in einer „freien Gemeinschaft freier Menschen“ möglich, wie schon der grosse liberale Zürcher Staatsrechtslehrer Werner Kägi Mitte des letzten Jahrhunderts erkannt hat. Damit bleibt es Aufgabe aller, die frei sein wollen, sich für eine freie Gesellschaft einzusetzen. Freiheit ist uns nicht nur nicht angeboren, sie ist uns sowohl individuell wie kollektiv aufgegeben. Sie ist unsere Verantwortung.

Dieser Text ist erstmals erschienen als Kolumne am 13. 3. 2012 in der Neuen Luzerner Zeitung.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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