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Kapitalismus? Ja, aber bitte für alle! Plädoyer für eine neue Eigentumspolitik

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Was ausser dem Marktprinzip bestimmt sonst noch die real existierende Marktwirtschaft? Ebenso prägend ist ein Moment der bestehenden Gesellschaftsordnung, das gemeinhin als Kapitalismus bezeichnet wird. Gemeint ist ein Eigentumsrecht, das die gesamten Verfügungsrechte über Unternehmenskapital, von der Investitions- oder Desinvestitions­entscheidung über die Beschäftigung von „Arbeitnehmern“ bis zur Aneignung des Gewinns, ausschliesslich den Kapitaleignern gewährt. Ein solches exklusives Verfügungsrecht („Privateigentum“) schliesst alle Nichteigentümer von der Mitsprache über den Kapitaleinsatz und von der Teilhabe am Kapitalgewinn aus, mögen sie von all diesen Entscheidungen noch so essenziell oder existenziell betroffen sein. Angesichts der Vielzahl von öffentlich relevanten Auswirkungen des modernen, komplex-arbeitsteiligen Wirtschaftens von „Privatwirtschaft“ zu sprechen ist jedoch, ausser vielleicht bei kleinen Eigentümerunternehmen, aus soziologischer Sicht längst eine Fiktion.

Es ist wichtig, zwischen dem marktwirtschaftlichen System und der gesellschaftlichen Eigentumsordnung, in die es eingebunden ist, zu unterscheiden. Marktwirtschaft und Kapitalismus sind zweierlei Dinge. Der Kapitalismus bestimmt wesentlich die marktwirtschaftlichen Austauschverhältnisse, die terms of trade. In diese bringt er systematische Asymmetrien. Ein einfaches Beispiel macht das sogleich deutlich: Sind hohe Löhne gut oder schlecht? Aus rein marktwirtschaftlicher Sicht gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort: Aus der Sicht der Arbeitnehmer sind hohe Löhne natürlich gut, soweit sie die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze nicht gefährden. Aus der Sicht der „Arbeit gebenden“ Kapitaleigentümer eines Unternehmens stellen Löhne hingegen Kosten dar, und diese sind aus kapitalistischer Sicht, d.h. im Interesse grösstmöglicher Kapitalvermehrung, zu minimieren. Während also die Marktwirtschaft hinsichtlich solcher ganz normaler Anspruchskonflikte unter den Wertschöpfungsbeteiligten keine „zwingende“ Antwort verlangt, ist dies im Kapitalismussehr wohl der Fall. Denn in ihm ist interessenparteilich vorentschieden, was als Zweck (oder Nutzen) und was bloss als Mittel (oder Kosten) des Wirtschaftens zu gelten hat. Vollends deutlich wird diese durch die übliche Gemeinwohl­rhetorik mehr schlecht als recht verschleierte Interessenparteilichkeit, wenn deren Vertreter einerseits Mindestlöhne als „schädlich“ bekämpfen, weil sie höhere Kosten und damit Wettbewerbsnachteile mit sich bringen, andererseits aber eine Begrenzung der Manager­löhne (wie letztlich überhaupt jeglichen Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit) ebenfalls als „schädlich“ zurückweisen, obschon sie mit genau demselben Kostenargument eigentlich zu befürworten wäre. In der aktuellen politischen Diskussion der Schweiz vertreten die Wirtschaftsverbände in der Tat beide Positionen gleichzeitig – und wundern sich, wenn aufmerksame Stimmbürger die Inkonsistenz durchschauen.

Wer diese strukturelle Parteilichkeit durchschaut, beginnt zu verstehen, weshalb eine verabsolutierte Kapitalverwertungsfreiheit mit den ethischen und politisch-philosophischen Grundideen einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft unvereinbar ist. Ein unbändiger Kapitalismus und die aus seinen Machtverhältnissen resultierende Politik führen erstaunlich schnell zu einer extrem einseitigen Vermögenskonzentration. Diese widerlegt und zerstört dann fortschreitend die Gemeinwohldienlichkeit der Marktwirtschaft. 30 Jahre neoliberale, prioritär auf Kapitalverwertungsfreiheit ausgerichtete Politik haben genügt, um selbst in der Schweiz eine Vermögenskonzentration hervorzubringen, die zuvor fast unvorstellbar war: Laut dem Credit Suisse Global Wealth Databook 2010 gehören dem reichsten 1% der Schweizer Bevölkerung inzwischen 58,9% aller Vermögen! Dieses neofeudale Moment des Kapitalismus kommt den Leitideen einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger zunehmend in die Quere. Die reale Freiheit der an Kapitalmacht Schwächeren oder ganz Besitzlosen wird unter Umständen empfindlich eingeschränkt, müssen sie sich doch den Bedingungen und Anweisungen der Kapitaleigner je nach Marktverhältnissen mehr oder weniger weitgehend fügen.

Gilt demzufolge für den Kapitalismus Analoges wie seinerzeit im Denken der amerikanischen Siedler, wonach „nur ein toter Indianer ein guter Indianer ist“? Wäre analog erst eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus eine gute Wirtschaftsordnung? Mag sein, aber ganz ohne Kapitalverwertungs- und damit Besitzvermehrungsanreize dürfte die wirtschaftliche Leistungsbereitschaft bei den meisten Menschen und mit ihr die Dynamik der Volks­wirt­schaft stark abnehmen, wie historische Realexperimente gezeigt haben. Das ist, neben fehlendem Durchblick, wohl mit ein Grund, weshalb die Stimmbürger sich im Zweifelsfall oft eher den kapitalistischen Argumenten anschliessen als unmittelbar ihre eigenen Interessen als Lohnempfänger, Konsumenten oder Steuerzahler zu vertreten.

Wie so oft kommt es wohl auf eine ausgewogene Balance an. Ein „guter Kapitalismus“ ist mit anderen Worten ein gradualisierter Kapitalismus. Die Rentabilitätsanreize für Kapitaleigner sollen einerseits stark genug sein, um die volkswirtschaftliche „Investititionsneigung“ in Gang zu bringen oder zu halten. Aber diese Anreize sollen moderiert und in Schranken verwiesen werden durch übergeordnete Kriterien einer human-, sozial- und umweltverträglichen gesellschaftlichen Entwicklung. Das Kapitalverwertungs-, ja überhaupt das Eigentumsrecht darf nicht das oberste Prinzip der Gesellschaftsordnung sein.

Die kapitale Frage eines legitimen Kapitalismus ist also gesellschaftspolitischer, nicht wirtschaftspolitischer Art; es ist die Frage nach einer mit dem Grundsatz der allgemeinen Bürgerfreiheit vereinbaren – oder noch besser: einer sie fördernden – Eigentumsordnung. Privates Eigentum ist ja insofern eine durchaus wertvolle gesellschaftliche Errungenschaft, als es den Einzelnen existenziell ein Stück weit unabhängig und in seiner Lebensführung real frei macht. Darauf habe liberale Denken schon immer verwiesen. Wenn es sich so verhält, gilt das wohl aber für alle; es wäre zynisch, diese Basis realer Freiheit einer kleinen Eigentumselite als Privileg vorzubehalten. Vielmehr müsste die Losung lauten: Wenn schon Kapitalismus, dann gleich richtig, nämlich für alle! Ansetzen lässt sich im Prinzip an zwei Punkten: erstens (quantitativ) bei der gesellschaftlichen Verteilung des Eigentums und zweitens (qualitativ) bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Eigentumsrechts.

Was zunächst die Eigentumsverteilung betrifft, so könnte und müsste eine Politik, die auf die gleiche reale Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger zielt, sich am Ideal eines bürgergesellschaftlich verallgemeinerten Kapitalismus oder „Volkskapitalismus“ orientieren:  Möglichst alle Gesellschaftsmitglieder sollten mit einem Grundstock an Kapital ausgestattet sein, der ihnen ein selbstbestimmtes, materiell unabhängiges Leben ermöglicht, mitsamt der Chance der wirtschaftlichen Selbständigkeit (Startkapital für Unternehmensgründung). Die praktische Konsequenz wäre eine Vermögensbildungs- und Verteilungspolitik, die auf eine „property-owning democracy„, eine „Demokratie mit Eigentumsbesitz“, zielt, wie es der Vordenker des politischen Liberalismus, John Rawls (2003), formuliert hat. Er verstand diesen Leitgedanken einer sozioökonomisch gestützten Demokratie als Gegenentwurf zu einem wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus, der zwar die Bürger sozialstaatlich absichert, sie dabei aber zunehmend in paternalistischer Weise entmündigt.

Einen Schritt weiter geht der zweite Ansatzpunkt: In einer wirklich freiheitlichen Gesellschaft kommt es darauf an, das Eigentumsrecht von Grund auf – und buchstäblich – zu „zivilisieren“, indem es selbst als verallgemeinerungsfähiges Bürgerrecht ausgestaltet wird. Zu diesem Zweck muss die „exklusive“ Verfügungsmacht von Privateigentum auf ein für alle Bürgerinnen und Bürger zugleich mögliches Mass beschränkt werden: „Das Recht auf Eigentum ist in dem Mass einzuschränken, in dem es die übrigen Rechte der Bürger verletzt“ (Tugendhat 1993). Dem könnte zunächst die Einschränkung der Eigentumsgarantie (Art. 26 der Schweizerischen Bundesverfassung) auf ein Persönlichkeitsrecht natürlicher Personen an „unantastbarem“ Eigentum in beschränkter Höhe dienen, während darüber hinausgehendes und körperschaftliches Eigentum vermehrt durch eine gemeinwohldienliche Wirtschafts-, Sozial- und Umweltverfassung reguliert würde, die just im Dienst der real lebbaren Freiheit und Chancengleichheit aller steht (vgl. Haller, Mastronardi, Ulrich & Wiener 2011).

Als folgerichtige Ergänzung könnte ein allgemeines Grundrecht auf ein Bürgerkapital gewährleistet werden, wie es mit grosser Resonanz Bruce Ackerman und Anne Alstott (2001) vorgeschlagen haben. Sie haben dafür eine (natürlich demokratisch festzulegende) Grössenordnung von 80’000 US Dollar für jeden volljährig werdenden Bürger und jede Bürgerin vorgeschlagen, was beispielsweise ein Studium an einer erstklassigen Universität, die Gründung eines Unternehmens oder andere Lebensinvestitionen ermöglichen würde. Der Leitgedanke dahinter ist der einer „Sozialerbschaft“ (Grözinger u.a. 2006) für alle, mit der das unverdiente Glück oder Pech, in eine reiche oder aber in eine arme Familie hineingeboren zu sein, wenigstens ein Stück weit ausgeglichen und mehr Chancengleichheit geschaffen würde. Sinnvollerweise wird ein solches Bürgerkapital für alle so weit wie möglich aus Erbschaftssteuern finanziert. Der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft durch die Vermögenskonzentration würde ein wirksames Moment entgegengesetzt, damit sich die Mitglieder einer wahren Bürgergesellschaft wieder vermehrt auf Augenhöhe, als gleichermassen frei und unabhängige Personen, begegnen. Politische Akteure, die sonst bei jeder Gelegenheit auf die Vorzüge einer „bürgerlichen“ Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinweisen, müssten solche Ideen eigentlich begeistert aufgreifen, wenn die Freiheit, die sie meinen, die allgemeine und reale Bürgerfreiheit ist.

Es ist hier nicht der Ort, solche neuen eigentumspolitischen Ideen und ihr gesellschafts­politisches Fortschrittspotenzial näher auszuleuchten. Der Impuls, um den es hier ging, war nur dieser: aufzuzeigen, welche ungeahnten gesellschaftspolitischen Innovationshorizonte sich öffnen, wenn das neoliberale Tabu durchbrochen wird, wonach der Kapitalismus in seiner bestehenden Form „alternativlos“ sei und deshalb „zwingend“ ein Feind jeder freiheitlichen Wirtschaftsordnung sei, wer Kapitalismuskritik noch oder wieder für zeitgemäss hält. Man braucht nicht absolut gegen den Kapitalismus zu sein – aber wenn er schon Kapitalismus, dann bitte als Eigentums- und Gesellschaftsordnung für alle!

 

Erwähnte Literatur

Ackerman, B. & A. Alstott: Die Stakeholder-Gesellschaft. Ein Modell für mehr Chancengleichheit, Frankfurt/New York: Campus 2001 (eng. 1999).

Grözinger, G., M. Maschke & C. Offe: Die Teilhabegesellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/New York: Campus 2006.

Haller, G., Ph. Mastronardi, P. Ulrich & D. Wiener: Kapitalismus-Debatte: Die Verfassung muss das Eigentum wirksamer schützen, in: SonntagsZeitung vom 10. Juli 2011, S. 16-17. Langfassung: Eigentum ist kostbar, denn es macht frei!, veröffentlicht auf der Website von kontrapunkt, http://www.rat-kontrapunkt.ch/eigentumsordnung/eigentumsordnung-kontrapunkt-texte/eigentum-ist-kostbar-denn-es-macht-frei/

Rawls, J.: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

Tugendhat, E.: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.

 

Zuerst 2014 erschienen im Webforum des Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft (inzwischen dort nicht mehr verfügbar).

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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