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Ein Dreisäulenkonzept der Einkommensverteilung

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Wie kommt es, dass trotz des immer offensichtlicheren Versagens des wirtschaftspolitischen Generalrezepts „Wohlstand für alle durch Wachstum“ weitherum an der zentralen Rolle des Wirtschaftswachstums ideologisch und realpolitisch festgehalten wird? Beantwortet wird diese Frage in aller Regel mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, „Arbeitsplätze zu schaffen“. Offizielles wirtschaftspolitisches Ziel ist idealiter noch immer die „Vollbeschäftigung“ und realiter eine möglichst geringe Arbeitslosenrate. Um dieses Ziel bestmöglich zu erreichen, müsse – das klingt logisch – die Volkswirtschaft schneller wachsen, als der aus dem Wettbewerbsdruck resultierende und daher anhaltende Produktivitätsfortschritt Arbeit wegrationalisiert.

Allerdings stellen Arbeitsplätze aus betriebswirtschaftlicher Sicht einen Kostenfaktor dar. In der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist es daher kaum je das Ziel der so genannten Arbeitgeber, unmittelbar zum Wachstum der Erwerbseinkommen beizutragen – ausser vielleicht jener variablen Lohnbestandteile (Boni etc.) der oberen Kader, die direkt an den Unternehmenserfolg gekoppelt sind. Ansonsten geht es den meisten Geschäftsleitungen eher darum, die Lohnkosten des Unternehmens zu minimieren. Wirtschaftswachstum wirkt diesem Bestreben nur dann entgegen, wenn gesuchte „Arbeitskräfte“ auf dem Arbeitsmarkt knapp werden und ihre Haut den Arbeitgebern deshalb teurer verkaufen können.

In der früh- bis hochindustriellen Entwicklungsphase gelang es (in Westeuropa bis und mit der „goldenen“ Nachkriegszeit) und gelingt es (in rasch wachsenden Schwellenländern) wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften, auf dem Weg über einen hohen Beschäftigungsstand und dementsprechend steigende Reallöhne eine vergleichsweise breite Beteiligung der Bevölkerung an den Früchten des Wirtschaftswachstums zu erzielen. Heute, in Zeiten grenzüberschreitend geöffneter Arbeitsmärkte (Freizügigkeitsabkommen mit der EU) sowie der tendenziellen Verlagerung arbeitsintensiver Industrieproduktion in Niedriglohnländer, ist das jedoch immer weniger der Fall – allenfalls noch in Phasen der Hochkonjunktur und strukturell im Bereich gesuchter Spezialisten. In der Regel müssen „reife“ Volkswirtschaften allein schon infolge des erreichten hohen Wohlstandsniveaus mit geringen Wachstumsraten auskommen – und sie sollten sich mit Rücksicht auf die natürlichen Ressourcen und die Lebensbedingungen der nachkommenden Generationen mit einem geringen Wirtschaftswachstum begnügen. Die in manchen Ländern inzwischen erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit und die zunehmend instabilen Beschäftigungsverhältnisse schränken jedoch die Lebenschancen der derzeit nachrückenden Generation in bedrückender Weise ein. Für sie ist der Traum eines existenziell gesicherten, lückenlosen Erwerbslebens grossenteils ausgeträumt.

Warum eigentlich werden daraus keine systematischen Konsequenzen für eine zeitgemässe Politik der Einkommensverteilung gezogen? Selten wird durchschaut, in welcher Weise die alte Vollbeschäftigungsdoktrin inzwischen selbst den gesellschaftspolitischen Fortschritt verhindert. Sie verknüpft im Kontext einer kapitalistischen Marktwirtschaft das existenzielle Interesse der einkommensabhängigen Normalbürger an Erwerbseinkommen allzu sehr mit den privilegierten Kapitalinteressen des Besitzbürgertums. Dieses wünscht sich einen möglichst „freien“, für die kostengünstige Kapitalverwertung „effizienten“ Arbeitsmarkt. Das resultierende Einkommensergebnis soll erst nachträglich durch sozialstaatliche Sekundärverteilung ein Stück weit korrigiert werden – zumindest so weit, wie es realpolitisch „nötig“ ist, damit die Verlierer des Wettbewerbs um gute Arbeitsplätze die bestehende Ordnung nicht allzu massiv in Frage stellen. Als die beste Sozialpolitik gilt im Übrigen eine konsequent wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik.

Da es aber in einer kapitalistischen Marktwirtschaft immer nur die investierenden Kapitalbesitzer sind, die „Arbeitsplätze schaffen“, muss wirtschaftspolitisch ihrem Interesse an möglichst attraktiven Kapitalverwertungsbedingungen zugearbeitet werden. Diese Vorentscheidung steckt hinter einer investorenfreundlichen Wirtschaftspolitik, die angeblich allen dient. Obschon mit dieser Politik eine neue Prekarisierung der Arbeitswelt voranschreitet, ist „Arbeitsplätze schaffen“ (oder auch nur „erhalten“) zum Killerargument geworden, mit dem sich nahezu jeder gesellschaftspolitische Gestaltungsanspruch rhetorisch totschlagen lässt, mag er noch so vernünftig und zeitgemäss sein. Denn die meisten Erwerbstätigen fürchten sich natürlich vor dem angedrohten Verlust ihres Erwerbseinkommens und akzeptieren deshalb rasch einmal den Verweis auf entsprechende „Sachzwänge“; die sich dahinter verbergenden normativen Denkzwänge bleiben im Dunkeln. (Die abgelehnte Volksinitiative „Sechs Wochen Ferien für alle“ lässt grüssen.)

Die Doktrin der primären Einkommensverteilung qua Vollbeschäftigung wird in einer hochproduktiven und hinsichtlich der Wirtschaftsstruktur tendenziell postindustriellen Volkswirtschaft immer deutlicher zu einem Anachronismus, der eine faire gesellschaftliche Verteilung des komplex-arbeitsteilig erzielten Sozialprodukts verhindert statt gewährleistet. Das heute erreichte Produktivitätsniveau macht auch ein höheres verteilungspolitisches Organisationsniveau möglich und sinnvoll. Ein Ausgang aus dem Teufelskreis des Arbeitsplatz-Arguments kann erst gefunden werden, wenn seine Struktur ideologiekritisch durchschaut wird. Als vernünftige Konsequenz ergibt sich dann die wirtschaftspolitische Zielrichtung, die Einkommensverteilung ein Stück weit von der Arbeitsplatzverteilung zu entkoppeln. Ich schlage konkret vor, das bisherige Konzept der gesellschaftlichen Einkommensverteilung vom Kopf auf die Füsse zu stellen – in Form eines neuen dreistufigen Konzepts der Einkommensverteilung:

  • Primäre Einkommensbasis sollte – und wird wohl über kurz oder lang – in einer wahrlich zivilisierten Marktwirtschaft ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und   Bürger sein, das sie aus dem unmittelbaren Zwang, sich auch unter teilweise prekären Arbeitsmarktbedingungen jederzeit um ihrer Existenzgrundlage willen „verkaufen“ zu müssen, weitgehend befreit.
  • Sekundäre Einkommensquelle kann und soll weiterhin das auf dem Güter- bzw. Dienstleistungsmarkt (als Ertrag selbständiger Tätigkeit) oder auf dem Arbeitsmarkt (als Lohn) erzielte Erwerbseinkommen sein; auf der Basis eines bereits für alle marktunabhängig gesicherten Einkommenssockels darf dieses dann durchaus unterschiedlich ausfallen, je nach Qualifikation und Leistungsbereitschaft.
  • Tertiäre Einkommensquelle sollte in einer Volkswirtschaft, in der ein erheblicher Anteil des Sozialprodukts als Kapitaleinkommen an die Eigner des „arbeitenden“ Kapitals geht, im Prinzip auch eine faire Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder am volkswirtschaftlichen Kapitalstock sein.

So würde die Abhängigkeit der Normalbürger vom Erwerbseinkommen und damit von einem verfügbaren guten Arbeitsplatz von zwei Seiten her verringert: „von unten“ her durch das wirtschaftsbürgerliche Grundrecht auf ein (in seiner Höhe demokratisch zu bestimmendes) Grundeinkommen und „von oben“ her durch einen Eigentumsertrag, der für die meisten zwar bescheiden ausfällt, aber als Ergänzung gerade bei eher gering entlohnter Erwerbsarbeit durchaus zählt. Basis dafür müsste eine Vermögenspolitik sein, die mit vielfältigen Massnahmen auf eine breitere Eigentumsstreuung zielt und so die bisherige Tendenz zur fortgesetzten Vermögenskonzentration wirksam umkehrt.

Ein solches Dreisäulenkonzept der gesellschaftlichen Einkommensverteilung könnte die bedenklich dünn gewordene Legitimitätsbasis der bestehenden Wirtschaftsordnung stärken.

Allerdings erscheint hierzulande das Postulat eines mehr oder weniger bedingungslosen Grundeinkommens manchen selbst als nicht legitim, nämlich all jenen, die noch dem alten (calvinistisch-)laboristischen Arbeitsethos anhängen. Geht es danach, so soll – um es in der radikalsten, marxistischen Version zu formulieren – letztlich nichts zu essen haben, wer nicht arbeitet. Diesen herkömmlichen laboristischen Einwand gegen ein Grundeinkommen für alle relativiert das vorgeschlagene Konzept einer dreiteiligen Einkommensverteilung ebenso wie auf der anderen Seite den kapitalistischen Einspruch, hier werde verkappter Sozialismus betrieben. Denn das dritte Moment des Konzepts, also das Kapitaleinkommen für alle, verallgemeinert analog zum Grundeinkommen eine Form „arbeitslosen“ Einkommens. Allerdings handelt es sich dabei um eine Einkommensform, die sich im Gegensatz zur Grundeinkommensidee in den Augen der Wirtschaftselite epochal bewährt hat. Die Aussicht auf Kapitaleinkommen ist ja jenes treibende Moment, das die kapitalistische Marktwirtschaft auf das heutige Niveau eines hohen, wenn auch schlecht verteilten Wohlstands gebracht hat. Volkswirtschaftliche Argumente sprechen daher eher für als gegen einen gesellschaftlich verallgemeinerten (und gerade dadurch sozialverträglichen) Kapitalismus. In einem ausgewogenen Dreisäulenkonzept der zukünftigen Einkommensverteilung könnte somit über kurz oder lang durchaus eine realpolitische Chance liegen.

Mit den angesprochenen einkommenspolitischen Fragestellungen wird man sich demnächst so oder so öffentlich auseinandersetzen müssen, werden doch derzeit in verschiedenen Ländern realpolitische Initiativen in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle vorbereitet. In der Schweiz beginnt am 21. April dieses Jahres, lanciert von einer recht breit abgestützten Trägerschaft, die Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative unter dem Titel „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“. Mit einer lebhaften öffentlichen Debatte darf gerechnet werden, geht es dabei doch um grundlegende wirtschaftskulturelle und gesellschaftspolitische Fragen der Zeit. Je nachdem, wie sie demokratisch beantwortet werden, könnten sich weitreichende Perspektiven für das noch junge 21. Jahrhundert eröffnen oder aber verschliessen.

 

Zuerst veröffentlicht im Webforum des NSW Netzwerk für sozial verantwortliche Wirtschaft am 29.03.2012, http://www.nsw-rse.ch

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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