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Zukunftsfähigkeit der nachobligatorischen Bildung?

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Von Kontrapunkt* vom 5. Januar 2012

Der allgemeine Trend im Bildungswesen, die Bildungsinstitutionen und -angebote sowie die Abschlüsse zu differenzieren, widerspricht dem Strukturwandel in der Arbeitswelt. Der wachsende Anteil an Stellen mit relativ unterbestimmten Arbeitsanforderungen und der allgemeine Druck auf Flexibilität rufen vielmehr nach der Vermittlung fachübergreifender Fähigkeiten und einer guten Allgemeinbildung.

Bildung und Weiterbildung ermöglichen den Einzelnen, sich aktiv und selbstverantwortlich in der Arbeitswelt, in der Öffentlichkeit, in der Kultur und im Alltagsleben zu engagieren. Besonders sollen den Jugendlichen im Bildungswesen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt werden, damit sie in der Arbeitswelt Fuss fassen und sich erfolgreich den entsprechenden Herausforderungen  stellen können. In den vergangenen Jahren hat das schweizerische Bildungswesen im internationalen Vergleich die Jugendlichen gut auf die Arbeitswelt vorbereitet: Die Beschäftigung wuchs und diejenigen, die Arbeit suchten, fanden ohne grössere Probleme eine Stelle. Die Arbeitslosigkeit ist allgemein tief, auch die der Jungen. Diese werden vergleichsweisweise früh fachlich und sozial mit den Anforderungen der Arbeitswelt vertraut gemacht und zur Übernahme entsprechender Stellen in der Arbeitswelt  befähigt. Die Schweiz hat einen sehr hohen Anteil an Jugendlichen mit einem beruflichen Abschluss.

Inzwischen haben sich zwei Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes verändert, welche die Zukunftsfähigkeit der nachobligatorischen Bildung herausfordern: Zum Einen hat sich mit dem freien Personenverkehr in der EU die Internationalisierung der Unternehmungen und des Arbeitsmarktes weiter verstärkt. Zum Andern wächst der Druck auf die zeitliche, örtliche und fachliche Flexibilität der Arbeitskräfte weiterhin. Damit stösst das bis heute erfolgreiche Zusammenspiel von Bildung und Arbeit an strukturelle Grenzen, wie Arbeitsmarktdaten zeigen: Erwerbswillige, die schlecht oder nicht qualifiziert sind, haben Mühe sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Darunter befinden sich namentlich unqualifizierte Arbeitskräfte, aber auch Jugendliche mit einem eidg. Fähigkeitsausweis (so insbesondere in den kaufmännischen Berufen). Ausserdem wandern anders als in den 90er Jahren seit einigen Jahren mehr Hochqualifizierte als wenig bzw. nicht Qualifizierte ein.

Erodierende Ordnung im Bildungswesen

Die Bildungspolitik hat die neuen Probleme auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen und gehandelt. Programmatisch nutzt sie Konzepte, die sich in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen haben. Institutionell setzt sie zudem auf den Wettbewerb unter den Bildungsorganisationen, seien diese öffentlich oder privat. Gemäss den politischen Vorgaben sollen sich diese profilieren und gegenseitig abgrenzen. Auf diese Weise können sie sich im „System“ positionieren.

Offensichtlich hat die Konkurrenz der Bildungsanbieter die Differenzierung im Bildungssystem weiter vorangetrieben: Neue Organisationen wurden etabliert, die Programme ausgeweitet und die Abschlüsse vermehrt und teilweise gestuft. Zwar wurde beispielsweise in den letzten 10 Jahren in der beruflichen Grundausbildung die Spezialisierung der Ausbildungsprofile verringert. Gleichzeitig wurden aber die Abschlussmöglichkeiten erweitert und hierarchisiert (eidg. Berufsattest, eidg. Fähigkeitsausweis und Berufsmatura). Die Fachhochschulen wurden etabliert und den Universitäten formal gleichgestellt. Der Auftrag der Höheren Fachschulen in dieser veränderten Landschaft wurde jedoch nicht überprüft. Unübersehbar sind in einzelnen Fächern die Überschneidungen der Ausbildungsprofile zwischen den Höheren Fachschulen, der Höherer Berufsbildung und den Fachhochschulen. In der Weiterbildung, die relativ unabhängig von der Trägerschaft stark durch die Nachfrage finanziert wird, setzt sich der Trend zur Spezialisierung der Programme weiter fort. Dies gilt sowohl in der Höheren Berufsbildung wie auch auf Ebene Hochschule – wenn auch mit Unterschieden nach Fachbereichen. 2009 boten z.B. Fachhochschulen, Universitäten und Pädagogische Hochschulen über 320 Programme mit einem spezialisierten Abschluss eines Master of Advanced Studies an. Im Hochschulbereich selber sind Erstausbildung und Weiterbildung zudem weitgehend von einander abgeschottet (z.B. in Bezug auf die Finanzierung und die  unterschiedlichen Titel). All diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass sich die traditionellen Grenzen zwischen den Bildungsbereichen und – organisationen aufgelöst haben, neue Grenzziehungen jedoch bestenfalls punktuell erkennbar sind. Als Folge dieser institutionellen Entwicklung sind auch künftig vertikale Differenzierungen der Ausbildungsprofile zu erwarten und eine weitere Spezialisierung in der Weiterbildung steht bevor.

Trotz dieser Bemühungen konnte die Beschäftigungsfähigkeit der Ausgebildeten nur wenig gestärkt  werden, weil die bisherige Strategie auf fragwürdigen Annahmen beruht: Die Bildungspolitik geht davon aus, dass die Abstimmungsprobleme zwischen Bildung und Arbeit einen vorübergehenden Charakter haben und deswegen mit herkömmlichen strukturkonformen Massnahmen erfolgreich bekämpft werden können. Zudem gilt weiterhin die Vorstellung, dass die Beschäftigungschancen der Einzelnen am besten durch die Vermittlung von stark spezialisierten, berufsförmigen Fähigkeiten mit entsprechenden Orientierungen und Identitäten sicher gestellt werden können.

Diese Annahmen blenden den Strukturwandel in der Arbeitswelt weitgehend aus: Zunächst spricht wenig dafür, dass mit einer fortschreitenden Spezialisierung der Ausbildungsprofile und damit der Perfektionierung des bisherigen bildungsinstitutionellen Entwicklungspfades die Lernenden angemessen auf die erfolgreiche Bearbeitung nicht vorhersehbarer Aufgaben und Herausforderungen in der Arbeitswelt vorbereitet werden können. Dieser Reformweg lässt sich bestenfalls und nur unter bestimmten Bedingungen für ausgeprägt berufsständisch besetzte Arbeitsfelder (z.B. im gewerblichen Bereich) vertreten, deren Bedeutung jedoch insgesamt abnimmt. In den meisten Fällen dürfte dagegen ein gegenteiliger Reformweg angezeigt sein: Auf ungewisse Entwicklungen in der Arbeitswelt wie in der Gesellschaft allgemein bereitet sich besser vor, wer sich eine gute Allgemeinbildung mit überfachlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen aneignet. Dabei kann auch der Tertiarisierung der Arbeit und dem technischen Wandel mit dem wachsenden Anteil an wissensbasierten Arbeitsplätzen mit relativ unterbestimmten Arbeitsanforderungen Rechnung getragen werden.

Bildungspolitischer Handlungsbedarf 

Nimmt man die neuen Rahmenbedingungen und den Strukturwandel ernst, muss die institutionelle Entwicklung im nachobligatorischen Bildungswesen überprüft werden:

Erstens sollte die Bildungspolitik allgemein dafür sorgen, dass die Menschen so ausgebildet werden, dass sie alle Lebensbereiche aktiv und reflektiert mit gestalten können. Auf dem Arbeitsmarkt ist die Position der Arbeitsuchenden im Aushandlungsprozess bei der Besetzung von Stellen gegenüber den Arbeitgebern und -geberinnen zu stärken. Dazu bedarf es einer breiten Basisausbildung für Alle in Lesen, Rechnen, Schreiben und im Umgang mit dem Computer sowie der Fähigkeit, die eigenen Bildungsbedürfnisse zu erkennen und sich entsprechend weiterzubilden. Überdies sollte die berufliche Spezialisierung entwicklungsfähig und nachhaltig wirksamen sein sowie verschiedene berufliche Wege öffnen.

Zweitens geht es kurzfristig darum, die Durchlässigkeit und die wechselseitige Anerkennung von Bildungsleistungen zwischen Erstausbildung und Weiterbildung im nachobligatorischen Bildungswesen zu verbessern. Längerfristig ermöglichen die Stufung der Abschlüsse und die berufsbegleitenden Teilzeitstudien es, die beiden Bildungsbereiche zu integrieren, die Angebote klar zu profilieren und damit auch die Vielfalt der Abschlüsse zu reduzieren.

Drittens sollte die Bildungspolitik das Gefüge der Bildungsinstitutionen überprüfen und der Dynamik der fortschreitenden Spezialisierung und Vertikalisierung von Abschlüssen in der Berufsbildung und im tertiären Bereich Grenzen setzen. Im Interesse der Lernenden muss die Bildungspolitik überdies die Nachhaltigkeit von Kompetenzen und Abschlüssen gewährleisten. Denn die aktuelle Entwicklung steht in einem Widerspruch zu den sich rasch ändernden Arbeitsanforderungen, zur Tendenz in modernen, nicht gewerblichen Betrieben, die Arbeitsteilung zu verringern und auch zur Vorstellung, dass heute mehr als früher der Arbeitsplatz auch Lernplatz sein soll. Ohne eine ordnungspolitische Begrenzung der Eigeninteressen der Bildungsanbieter (am eigenen Überleben oder am ökonomischen Vorteil) kann dieses Ziel allerdings nicht erreicht werden.

Viertens kann eine neu orientierten Bildungspolitik nur dann erfolgreich sein, wenn auf Seiten der Arbeitswelt das heute verfügbare und historisch einzigartige Humankapital als Chance wahrgenommen und entsprechend genutzt wird. Dies wird da und dort zu einer Reorganisation und Neuverteilung der Arbeit führen. In diesem Punkte sind öffentliche und private Unternehmungen, die Arbeitskräfte rekrutieren wie auch die Berufsorganisationen gleichermassen gefordert. Letztlich trifft diese Verantwortung alle, die schon einen Arbeitsplatz haben.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 27-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Dr. Klaus Armingeon, Politikwissenschafter, Universität Bern; Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Gy; Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Bern; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Beat Sitter-Liver, Praktische Philosophie, bis 2006 Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., Universität Zürich.

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