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Von Gender zu Diversity – ein Fortschritt, der nicht zum Rückschritt werden soll

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Von Kontrapunkt* vom 14. Dezember 2011

Gender ist out, Diversity in. Gender, früher kurz Gleichstellung genannt, gilt in der „postfe-ministischen“ Multikulti-Ära als überholt, Gleichstellungsmanagement wird durch Diversity Management ersetzt. Ist dies ein echter Fortschritt? Eine kritische Würdigung führt zur Formulierung von Bedingungen dafür.

Wer sich heute öffentlich zur Gleichstellung von Frau und Mann äussert, oder zu Massnahmen, die diese fördern sollen, bekennt häufig einleitend „Ich bin ja kein-e Feminist-in, aber…“. Feminismus ist anscheinend passé, für einige sogar schlicht da-neben. Man spricht auch kaum mehr von Geschlechtergleichstellung. Das neue Buzzword heisst Diversity Management. Es verspricht zudem ökonomischen Nut-zen. Wir wollen beispielhaft die Bedeutung dieser Umorientierung im konkreten Kontext der Wirtschaft beleuchten. Was tun Betriebe, die sich ein Diversity Manage-ment zulegen?

Ausgangspunkt des Perspektivwechsels ist der richtige Gedanke, dass Geschlecht nur eine von mehreren Dimensionen sozialer Benachteiligung ist. Andere derartige Dimensionen sind Alter (man kann ungeachtet des persönlichen Profils oder der ge-machten Erfahrungen für eine bestimmte Aufgabe vorweg als „zu jung“ oder „zu alt“ taxiert werden), Migrationshintergrund („Peter“, „Afrim“ oder „Mehmet“ haben auch bei identischen Qualifikationen höchst ungleiche Chancen, angestellt zu werden), sonstige ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, Behinderung („das kann ich meinen Kunden nicht zumuten…“) und andere.

Diversity Management (häufig auch „Diversity & Inclusion“) bezweckt, aus der Viel-falt der Erfahrungen, die mit der Zugehörigkeit zu dergestalt definierten sozialen Kategorien verbunden sind, für den Betrieb Nutzen zu ziehen, sie als Motivations- und Kreativitätsquellen einzusetzen. Monokulturen neigen ja tendenziell zum vorei-ligen Ausschluss eines Teils möglicher MitarbeiterInnen, was in Zeiten des Fach- und Führungskräftemangels prekär werden kann. Diversity Management ist also eine interessante, proaktive Art und Weise, mit der zunehmenden Vielfalt der Bevölke-rung in einer modernen Gesellschaft umzugehen. Auch wenn dabei der Nutzen-aspekt für die Unternehmung im Vordergrund steht, sollte das eigentlich nicht auf Kosten der damit ebenfalls angesprochenen Frage der Gerechtigkeit oder zumindest Chancengleichheit gehen. Denn jede Unternehmung hat ein direktes Interesse daran, dass die Motivation der MitarbeiterInnen nicht durch ein Gefühl von Unfairness un-tergraben wird. Trotzdem stellt sich die Frage, welche Folgen die Integration der Genderproblematik in ein Diversity-Konzept hat.

Mindestens zwei Fehlentwicklungen gilt es zu vermeiden, nennen wir sie „zu viel des Guten“ und „Naturalisierung sozialer Differenzen“. Wir wollen sie anhand der Genderproblematik illustrieren. Diese hat zwei Gesichter, die oft miteinander ver-wechselt oder gegeneinander ausgespielt werden. Das eine ist die soziale Zwangs-jacke, zu welcher weit verbreitete Stereotypen und entsprechende Rollenvorstellun-gen für Mann und Frau geworden sind. Das andere ist die Ungleichheit sozialer Chancen, die in diese geschlechtsspezifischen Bilder eingelassen ist und die systema-tisch die Frauen benachteiligt.

Frauen wie Männer stecken in einem sozialen Korsett, aber…

Rollenerwartungen und soziale Zwänge schränken Frauen wie Männer ein, wobei die Korsette allerdings verschieden sind. Männer werden immer noch stark auf die „Ernährerrolle“ festgelegt. Damit verbunden ist in der Regel eine Vollzeitbeschäfti-gung, der Druck, genug für die ganze Familie zu verdienen und das Streben nach prestigeträchtigen Berufen mit gutem Einkommen. Trägt sich ein junger Mann etwa mit dem Gedanken, Kindergärtner oder Krankenpfleger zu werden, dauert es nicht lange, bis man ihn fragt, wie er sich das denn mit einer Familie vorstellt, mit diesem Lohn könne er sicher keine Familie ernähren. Diese Frage wird kaum je einer Frau gestellt, obwohl die Scheidungsrate in der Schweiz mittlerweile bei über 50 % liegt. An Frauen sind andere Rollenerwartungen gerichtet, namentlich, dass sie sich vor allem um Kindererziehung und Hausarbeit kümmern und allenfalls daneben noch etwas „dazu verdienen“. Die empirische Analyse weiblicher und männlicher Le-bensverläufe zeigt, dass dies auch heute noch weitgehend gilt, wenn auch mit Varia-tionen. Bei Männern herrscht ein einziges Verlaufsmodell vor. Rund drei Viertel der männlichen Verläufe entsprechen ihm, das restliche Viertel umfasst eine Vielzahl anderer Verläufe, die kein klar profiliertes alternatives Modell erkennen lassen. Die-ses männliche Standardmodell schliesst, nach der Ausbildungsphase, bis zur Pensio-nierung durchgehende Erwerbstätigkeit mit Vollanstellung ein; es wird durch Kin-der vollends obligatorisch. Bei Frauen finden sich dagegen vier verschiedene Ver-laufsmodelle, von denen keines klar vorherrscht. Eines davon gleicht dem männli-chen Modell insofern, als es ebenfalls durch praktisch durchgehende Erwerbstätig-keit in Vollzeit gekennzeichnet ist, obwohl kurzfristige Unterbrüche zugunsten der Familie und vor allem der Kinder vorkommen (34% der weiblichen Verläufe). Die anderen drei Verlaufsmodelle kommen nur bei Frauen vor und widerspiegeln auf verschiedene Weise den Einfluss der Familienarbeit, besonders als Mutter: nach an-fänglicher Vollzeit-Erwerbstätigkeit wird entweder definitiv auf Teilzeitarbeit umge-stiegen (23%), die Erwerbstätigkeit vorübergehend aufgegeben und später als Teil-zeitarbeit wieder aufgenommen (30%), oder sie wird vollends aufgegeben (13%). Frauen haben also anscheinend eine grössere „Wahl“ bei den Lebensmodellen; die drei nur bei Frauen vorkommenden Modelle (zusammen zwei Drittel der weiblichen Verläufe) schliessen aber eine wirtschaftliche und damit auch soziale Abhängigkeit vom Mann mit ein. Ausserdem handelt es sich dabei nicht wirklich um eine freie Wahl: Kinderhaben und Vollzeit-Erwerbstätigkeit schliessen sich für Frauen prak-tisch aus (ausser für die kleine Minderheit, die genug verdient, um die Familienar-beit weitgehend auszulagern), und welches der drei anderen Modelle „gewählt“ wird, beeinflussen Statusmerkmale wie Bildung und Haushaltseinkommen.

Frauen und Männer durchlaufen also weitgehend geschlechtsspezifische Biogra-phien, jedenfalls dann, wenn sie eine Familie mit Kindern gründen. Dabei drängt sich aus Gründen, die hier nicht ausgeführt werden können (Steuersystem, Subven-tionierung der Kinderbetreuung etc.), ein traditionelles Organisationsmodell der Fa-milie auf, das – nach wie vor – dem Mann vorwiegend Erwerbstätigkeit und der Frau vorwiegend Familienarbeit zuschreibt.

Gender und Diversity, aber …

Natürlich bilden diese Ausführungen nur einen Teil der komplexen Realität ab, die das gegenwärtige Genderregime in der Schweiz ausmacht. Trotzdem wird leicht er-sichtlich, dass es durch Prozesse gekennzeichnet ist, die nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung jenen gleichen, die bei Ungleichbehandlung aufgrund von ethnischen, altermässigen oder anderen Diskriminierungsdimensionen am Werk sind. Um die-sen Unterschieden angemessen Rechnung zu tragen, genügt es nicht, die Gleichstel-lungsbeauftragten in Diversity ManagerInnen umzutaufen. Es braucht wesentlich mehr Mittel und eine komplexer konzipierte Anstellungs- und Förderpolitik, die auf die Vielfalt dieser Unterschiede wirklich eingehen kann. Denn verschiedene Formen von Ungleichbehandlung bringen unterschiedliche konkrete Problemlagen hervor und müssen gezielt angegangen werden, besonders dann, wenn sie sich kumulieren. Sonst ist Wirkungslosigkeit wegen Überforderung garantiert, also das, was wir ein-gangs „zu viel des Guten“ genannt haben.

Keine Zementierung von Stereotypen

Zusätzlich droht ein noch grundlegenderes Problem: eine so verstandene Diversity-Politik läuft Gefahr, die Kategorien, deren Diskriminierung sie bekämpfen möchte, im Gegenteil zu verfestigen, weil sie Differenzen zwischen pauschalen Personenka-tegorien (Alte, Männer, Ausländer…) überbetont und im Extremfall ins Verstärken separater, wenn auch „gleichgestellter“ Ghettos und entsprechende Subkulturbildung mündet (also „Naturalisierung sozialer Differenzen“). In diesem Fall würde sie Mit-arbeiterInnen vorab nach ihrer Zugehörigkeit zu einer abstrakten sozialen Kategorie behandeln und nicht aufgrund ihres persönlichen Profils. Demgegenüber ist festzu-halten, dass in Unternehmungen zuallererst Menschen arbeiten, die in ihrer Indivi-dualität ernst genommen werden wollen; sie dürfen nicht als Angehörige einer pau-schal definierten Kategorie behandelt werden, sondern als Individuen.

Die Probleme der Ungleichbehandlung liegen zudem häufig weniger in den einzel-nen Menschen als in den Strukturen, Prozessen und in der Kultur der Organisatio-nen, in denen sie tätig sind. Und dort ist es schon schwierig genug, in Sachen Gender das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, genauer: die Stereotypen auszuhebeln, welche Männer und Frauen gleichermassen einengen, und zugleich die Bevorteilung der Männer auf Kosten der Frauen abzubauen. Die Zukunft eines wirkungsvollen Diversity Management verlangt deshalb, Grundbedingungen zu respektieren, die in erster Linie darauf abzielen, eine transparente, reflexive und offene Unternehmens-kultur zu schaffen, also eine Kultur des Respekts, nicht nur eine Kultur der Lei-stungsoptimierung. Es braucht beides, um zu verhindern, dass durch die Bildung voneinander abgeschotteter Personenkategorien sowohl Diskriminierungen als auch Leistungseinbussen produziert werden. Und: reines Umtaufen von Gendergleichstel-lung in Diversity Management ohne umfassenderes Konzept und mehr Mittel würde die Geschlechtergleichstellung schwächen, ohne weitere Formen der Diskriminie-rung wirkungsvoll anzugehen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 27-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisie-rende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachli-chung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Gy; Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Da-niel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., Universität Zürich.
Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4051 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10; www.rat-kontrapunkt.ch

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