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Wie viel Bildungsarmut wollen wir uns leisten?

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 2. März 2007

Markt, Technik und Wissenschaft treiben einen tiefgreifenden Wandel der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller voran: Arbeitsfelder verflüssigen sich und Beschäftigungsverhältnisse erodieren. Der Trend zu Höherqualifizierung ist in den meisten Branchen nicht zu übersehen. Im Alltag wird das Internet zu einem unverzichtbaren Instrument im Umgang mit Behörden, Versicherungen und anderen Dienstleistern.

Die Herausforderungen dieses Wandels sind umso ernster zu nehmen, weil sich in den letzten Jahren die Vorstellung durchgesetzt hat, institutionelle Sicherheiten und öffentliche Gewährleistungen seien abzubauen und die Einzelnen in ihrer Eigenverantwortung mehr in die Pflicht zu nehmen. Zu klären ist daher die Frage, ob alle in unserem Land mit jenen Basiskompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen und Alltagsprobleme lösen) ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, eigenverantwortlich zu handeln, sich weiter zu entwickeln und die Gesellschaft mit zu gestalten.

Diplomarmut

Mit der Vergabe von Abschlüssen werden im Bildungswesen Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt und zum Teil auch Berechtigungen verteilt. Diese ermöglichen es den Einzelnen in der Arbeitswelt Fuss zu fassen, sich durch Weiterbildung besser zu qualifizieren und ihre persönliche Berufslaufbahn aktiv zu gestalten. Mit Blick auf die Lebens- und Berufschancen fällt somit den Diplomen eine Schlüsselstellung zu. Daher bezeichnen wir im Folgenden jene Gruppen als diplomarm, die gemäss Bundesamt für Statistik über keinen Sekundarstufe II – Abschluss oder einen höher erworbenen Abschluss verfügen.

Ein Blick in die Statistik zeigt, dass im Jahre 2005 die Quote der Diplomarmen an der 25- bis 64-jährigen Wohnbevölkerung 18% betrug. In der jungen Altersgruppen (25- bis 34jährig) belief sie sich auf 13% und bei den 55- bis 64jährigen auf rund 25%. Die Jüngeren sind offensichtlich etwas besser qualifiziert. Gleichzeitig zeigt die höhere Verweildauer im System, dass immer mehr Zeit (und Geld) in Bildung investiert werden muss, um diese tieferen Quoten zu erreichen. Besonders der Übergang von der Sekundarstufe I (Ende obligatorische Schule) in die Sekundarstufe II (Berufsbildung oder Maturitätsschule) gestaltet sich als ausgesprochen schwierig: Rund ein Viertel der Jugendlichen weichen heute nach der obligatorischen Schule auf eine Zwischenlösung aus, mit unsicheren Erfolgsaussichten.

Kompetenzarmut

Kompetenzarmut wird von der Diplomarmut unterschieden und stellt das zweite Gesicht der Bildungsarmut dar. Als Kompetenz können wir allgemein die Fähigkeit verstehen, in einem bestimmten Bereich mit Erfolg komplexe Anforderungen erfüllen zu können. Im Folgenden betrachten wir lediglich die Lesekompetenz, weil wir dieser für die Bewältigung des Alltags und des Arbeitslebens eine zentrale Bedeutung zuschreiben.

In der international vergleichenden PISA-Studie wurden auch die Lesekompetenzen der 15jährigen Schüler und Schülerinnen in der Schweiz ermittelt. Es wurden fünf Kompetenzniveaus definiert. Jene Jugendlichen, die nur die Werte der untersten Stufe erreichen, werden als kompetenzarm definiert. Sie verfügen im Lesen nicht über jenes Wissen und Können, das es ihnen erlaubt, minimal an der Gesellschaft zu partizipieren und ihr Leben autonom zu gestalten.

Die Schweiz gehört zu jenen Ländern, deren Schüler und Schülerinnen nur über höchst durchschnittliche Lesekompetenzen verfügen. Diese liegen auf dem Niveau der Schüler und Schülerinnen aus den Nachbarländern Deutschland und Italien. Allerdings sind bei uns rund 20 Prozent der Schüler und Schülerinnen am Ende der obligatorischen Schulpflicht nicht in der Lage, einfache Texte richtig zu verstehen und zu interpretieren. Fast noch bedeutsamer erscheint uns jedoch, dass die Streuung der Lesekompetenz bei uns sehr gross ist. Die Jugendlichen in Finnland, Frankreich und Kanada dagegen verfügen über relativ homogene Kompetenzen.

Was Hänschen nicht lernt…

Internationalen Studien zu den Kompetenzen Erwachsener kann entnommen werden, dass im Bereich der Lesekompetenzen (Lesen können und verstehen) 16% der 15- bis 65jährigen Bevölkerung lediglich die Stufe eins erreicht. Diese Gruppe, die wir bezüglich ihrer Lesekompetenzen als arm bezeichnen, ist nicht in der Lage einfache Texte zu lesen und zu verstehen. Innerhalb der Schweiz bestehen zudem  beträchtliche Unterschiede zwischen den Sprachregionen und zwischen Einheimischen und Eingewanderten.

Diplom- und Kompetenzarmut am Ende der Sekundarstufe II wie auch bei der erwachsenen Bevölkerung allgemein wären dann wenig problematisch, wenn diese Defizite in der Weiterbildung behoben würden. Dies ist nicht der Fall: Mehr als die Hälfte der Erwachsenen nimmt nicht an Weiterbildung teil. Hier gilt zudem das Prinzip: Wer schon viel Bildung hat, kriegt in der Weiterbildung noch viel mehr. Wenig deutet ferner darauf hin, dass die aktuellen Ansätze in der Weiterbildungspolitik kompensatorische Wirkungen haben werden: Dies gilt für das Verfahren der Anerkennung nicht formell erworbener Kompetenzen genauso wie für den Ansatz, die Weiterbildung vermehrt durch die Nachfrage zu finanzieren (allenfalls durch die Abgabe von Bildungsgutscheinen an wenig zahlungsfähige Gruppen).

Bekämpfung der Bildungsarmut an der Quelle

Die Bildungsarmut hat viele Ursachen, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können. Hervorzuheben sind lediglich wenige Punkte, die uns mit Blick auf einen bildungspolitischen Handlungsbedarf besonders bedeutsam erscheinen. Dabei geht es wesentlich um die Frage, warum die im internationalen Vergleich gemäss OECD höchsten und gut gemeinten Bildungsaufwendungen pro SchülerIn / StudentIn eine beträchtliche Bildungsarmut bestehen lassen.

Erstens gelingt es nicht, in der obligatorischen Schulzeit allen jene Basiskompetenzen zu vermitteln, die es ihnen erlauben, eigenverantwortlich ihr Berufs- und Alltagsleben zu gestalten. Es drängt sich auf, für die verschiedenen Kompetenzen die erforderlichen Standards der obligatorischen Schule zu definieren und ihre Vermittlung auch durchzusetzen, um das oben erwähnte Ziel zu erreichen.

Zweitens erzwingt die in den meisten Kantonen dreigliedrige, hochselektive Sekundarstufe eine im internationalen Vergleich frühzeitige Zuteilung der Kinder auf verschiedene Bildungskanäle. In diesem Sortierungsprozess werden Kinder, die aus bescheidenen sozialen Milieus stammen, benachteiligt. Mit der Zuteilung auf die unterschiedlich bewerteten Bildungskanäle werden zugleich auch die Erwartungen und Ansprüche der Schüler und Schülerinnen bezüglich ihrer späteren Bildungskarriere und ihres Berufslebens strukturiert. Wer bloss eine Realschule besucht, stellt sich in der Regel nicht auf eine Laufbahn im modernen Finanzsektor ein. Die hier angesprochene Vorsortierung im Übergang zur Sekundarstufe I wirkt nachhaltig. Sie bestimmt wesentlich die Möglichkeiten der Schüler und Schülerinnen beim Übergang in die Berufsbildung oder in die weiterführende Allgemeinbildung auf der Sekundarstufe II. Denn auch die Berufsbildung ist hochgradig segmentiert und hierarchisiert. An Auszubildende werden unterschiedlich hohe Ansprüche gestellt: In der kaufmännischen Ausbildung im Bankenbereich bedeutend höhere als im Reinigungsgewerbe. Im ganzen Bildungsverlauf zwischen dem Eintrittszeitpunkt in die Sekundarstufe I und dem Übergang in die Sekundarstufe II können schliesslich Benachteiligungen beobachtet werden, die nicht leistungsbedingt sind. Davon sind ausländische Jugendliche, insbesondere Mädchen der ersten Generation, am meisten betroffen. Insgesamt führt die strukturell früh erzwungene Selektion dazu, dass die Begabungspotenziale der jungen Menschen sich nicht entfalten können, was unter individuellen wie gesellschaftlichen Gesichtspunkten höchst problematisch ist. Zum einen sollte daher die Sekundarstufe 1 institutionell vereinfacht werden, zum anderen bedarf es einer verstärkten individuellen Betreuung der Lernenden.

Drittens gleicht die Weiterbildungsstruktur frühere Bildungsdefizite nicht aus. In Zeitalter des Lebenslangen Lernens kann diese Situation nicht befriedigen. Dieses Defizit kann nur behoben werden, wenn sich der Staat verbindlich für die Weiterbildung engagiert. Er muss gewährleisten, dass alle seine Einwohner und Einwohnerinnen mit den notwendigen Basiskompetenzen ausgestattet sind.

Offensichtlich stösst die herkömmliche Bildungspolitik an Grenzen. Sie setzt bis heute wesentlich darauf, die Jungen vorausgreifend so zu qualifizieren, dass sie einen angemessenen Platz in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft finden können. Nimmt man nun jedoch das Postulat des Lebenslangen Lernens ernst, sollte die Bildungspolitik ihren Blick vermehrt auf alle Mitglieder der Gesellschaft, unabhängig von ihrem Alter, werfen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 25-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Dr. Gabrielle Antille Gaillard, Ökonomin, Universität Genf; Prof. Dr. Klaus Armingeon, Politikwissenschafter, Universität Bern; Prof. Dr. Giuliano Bonoli, Politikwissenschafter, IDHEAP, Chavannes-près-Renens; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. em. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. Dr. Franz Schultheis, Soziologe, Universität Genf; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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