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Die „wachsende“ volkswirtschaftliche Verteilungskrise

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„Wir sind die 99%!“ skandiert nicht von ungefähr die Occupy-Bewegung. Gemeint ist jene überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die seit drei Jahrzehnten kaum mehr am Produktivitätsfortschritt und am Wachstum des Sozialprodukts partizipiert, sondern sich andauernd die Sachzwangrhetorik vom enger zu schnallenden Gürtel anhören muss.

Kritische Hinweise auf die sich im Zeichen der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin stetig öffnende Einkommens- und Vermögensschere wurden jahrelang als populistische „Neidökonomie“ abgetan – so etwa von der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung. Debatten über soziale Gerechtigkeit seien nutzlos, wurde verkündet. Hilfreicher sei es, die Produktivität und mit ihr die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Standortwettbewerb zu steigern. Vom resultierenden Wirtschaftswachstum würden alle profitieren, so wie ein steigender Meeresspiegel alle Boote anhebe. Wohlstand für alle durch Wachstum – so lautete das wirtschaftspolitische Generalrezept, das angeblich jede Verteilungsdebatte hinfällig machte.

Längst ist es jedoch offenkundig und auch statistisch weltweit nachweisbar, dass der so betriebene wirtschaftliche „Fortschritt“ seit drei Jahrzehnten nur noch den Wohlstand für wenigesteigert. Vom Zuwachs des Sozialprodukts kommt bei den unteren und mittleren Einkommen nichts mehr an, während die Spitzeneinkommen einer erstaunlich kleinen Schicht steil weitergestiegen sind. In manchen als „fortgeschritten“ geltenden Ländern wie beispielsweise Deutschland hat sich gar ein schnell wachsender Niedriglohnsektor etabliert mit Löhnen, die vom Staat „aufgestockt“ werden müssen, da man von ihnen nicht leben kann. Verbunden mit zunehmend befristeten und unstabilen Beschäftigungsverhältnissen muss insgesamt von einer neuen Prekarisierung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse für eine wachsende Bevölkerungsschicht gesprochen werden. Noch schneller als die Einkommensschere öffnete sich nur die Vermögensschere. Laut dem „Credit Suisse Global Wealth Databook 2010“, einer wohl kaum zur Gesellschaftskritik neigenden Quelle, gehören inzwischen dem reichsten 1% der Schweizer Bevölkerung 58,9% aller Vermögen. Vor zehn Jahren gehörte wenigstens noch den reichsten 3% in unserem Land etwa gleich viel Vermögen wie den restlichen 97%  (U. Mäder & E. Streuli, Reichtum in der Schweiz, Zürich 2002). Die „Volkswirtschaft“ scheint immer weniger zu sein, was der Begriff verspricht, nämlich die Wirtschaft des Volkes.

Die Volkswirtschaftslehre hat diese Entwicklung bis anhin kaum wirklich ernst genommen. Auf der Basis ihrer neoklassischen Axiomatik glaubte sie die Fragen der effizienten „Allokation“ der Produktionsfaktoren von jenen der fairen „Distribution“ des Sozialprodukts fein säuberlich trennen zu können. Getreu der erwähnten Metapher von den gemeinsam steigenden Booten begnügte sich die so geprägte Wirtschaftspolitik mit Konzepten für die Verbesserung der Bedingungen rentabler Kapitalverwertung. Für gesellschaftliche Gerechtigkeitsfragen blieb die damit einhergehende pauschale Wachstumsideologie blind. Sogar die makroökonomischen Rückwirkungen der resultierenden steilen Einkommens- und Vermögensverteilung auf die volkswirtschaftliche Nachfrage wurden weitgehend ausgeblendet. Über John Maynard Keynes und seine Erkenntnis, dass eine chronisch schwache Binnennachfrage wesentlich als Folge der ungleich verteilten Kaufkraft zu verstehen ist, rümpfte der neoklassisch-ökonomische Zeitgeist die Nase. Lieber setzte man darauf, das Kapital zu „hofieren“ (Hans-Werner Sinn), damit es Wirtschaftswachstum erzeuge, egal wie Nutzen und Kosten verteilt sind.

Gemäss Keynes nimmt jedoch mit der steiler werdenden Verteilung die aggregierte „Konsumneigung“ fortlaufend ab: bei den Wohlhabenden, weil sie schon alles haben (weshalb sie ihr nicht für Konsum benötigtes Geld auf den Finanzmärkten anlegen), und bei den anderen, weil es ihnen an der nötigen Kaufkraft zur Erfüllung ihrer Konsumwünsche mangelt. Schon Henry Ford hatte vor bald hundert Jahren begriffen, dass Massenabsatz zunächst Massenkaufkraft voraussetzt, weshalb er die Löhne seiner Arbeiter nicht etwa so tief wie möglich hielt, sondern über das damalige Marktniveau hinaus erhöhte. Im genauen Gegensatz dazu haben in jüngster Zeit die meisten Volkswirtschaften – an vorderster Front Exportvizeweltmeister Deutschland – eine forcierte Politik der nationalen Kostensenkung betrieben, insbesondere mit Bezug auf die Lohnstückkosten. Sinkende Reallöhne für die Arbeitnehmer und Sozialabbau für die nicht-erwerbstätige Bevölkerung (Arbeitslose und Invalide, Alte und Jugendliche) erscheinen als der nötige Preis, den „man“ (aber offenbar nicht alle gleichermassen) im globalen Standortwettbewerb für die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes zu zahlen hat.

Inzwischen lässt sich jedoch nicht mehr übersehen, dass die gegenwärtige Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise ursächlich etwas zu tun hat mit der extremen sozialen Ungleichheit. Gerade in den USA, wo die Krise vor mehr als drei Jahren als Subprime-Hypothekenkrise begann, hatte die vom sozialen Abstieg betroffene untere Mittelschicht ihren früher gewohnten Lebensstandard zu erhalten versucht, indem sie das knapper werdende Lohneinkommen mehr und mehr durch Kreditkarten- und Hypothekarschulden ersetzte. Bankenseitig ermöglicht und gefördert wurde das durch ein modifiziertes Geschäftsmodell, das auf das „Verbriefen“ der Kreditrisiken setzte. Als würzende Zutat zum raffinierten Rezept sorgte etwas lobbyistischer Druck dafür, dass die Politik das nötige regulatorische Umfeld einer niedrigschwelligen Hypothekarverschuldung für jedermann bereitstellte. Das sollte wohl nicht zuletzt vom unterentwickelten amerikanischen Sozialstaat ablenken. Der weitere Verlauf dieser Geschichte ist bekannt: Sie mündete international in  gigantische Bankenrettungsaktionen. Ihnen folgte auf dem Fuss die explodierende Verschuldung der „rettenden“ Staaten, die nun ihrerseits vor dem gnadenlosen Kapital- und Kreditentzug seitens der Finanzmärkte „gerettet“ werden müssen.

Gewiss ist die aktuelle Problematik der grassierenden Staatsverschuldung nicht allein auf die Bankenkrise zurückzuführen. Eine zweite Ursache dieser Verschuldung hat ihren Ursprung aber ebenfalls in der wachsenden sozialen Ungleichheit. Es sind die mit ihrer Verschärfung symptomatisch ausufernden Sozialstaatslasten. Dabei wird der Sozialstaat in die Pflicht genommen für eine fragwürdige Dynamik der volkswirtschaftlichen Kosten privater Renditemaximierung, der er ohnmächtig hinterher hechelt – und dies aufgrund der leeren Kassen mit abnehmendem sozialpolitischem Erfolg.

Die Absurdität wird immer offenkundiger: Einerseits soll das wirtschaftspolitisch angestrebte Wirtschaftswachstum diese Lasten zu finanzieren helfen, soweit es Arbeitsplätze schafft und die staatlichen Steuereinnahmen mitwachsen. Andererseits aber setzt eben dieses Wachstum wie dargelegt zunächst selbst gerade eine Politik der Niedriglöhne, des Sozialabbaus und der Steuersenkungen voraus, da das renditesuchende Kapital sonst ein Land mit „ungünstigen“ Investitionsbedingungen meidet. Was dabei Zweck und was Mittel zum Zweck ist, wird immer unklarer. So beisst sich die wirtschaftspolitische Katze zunehmend in den Schwanz. Die bisherige Politik, die primär auf die Sozialproduktsteigerung ohne Rücksicht auf die Verteilung setzt, gerät damit selbst in eine grundlegende Orientierungskrise: Die Strategie „Mehr vom Selben“ – also die Schuldenkrise durch mehr Schulden, die staatlichen Haushaltsdefizite durch Steuersenkungen und die Sozialkrise durch Sozialabbau zu bekämpfen – dreht in einer Teufelsspirale.

Zu den bisher am wenigsten beachteten Folgen gehört die schleichende, wenn nicht derzeit schon galoppierende Aushöhlung der Legitimitätsbasis der real existierenden kapitalistischen Marktwirtschaft. Wenn die Normalbürger brav ihren Beitrag zur Produktivitätssteigerung erbringen und die stetige Leistungsverdichtung ebenso wie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit hinnehmen, gleichwohl aber fortwährend den Gürtel enger schnallen sollen, werden sie latent zu „Wutbürgern“.  Sie machen – wen wunderts? – die Eliten in Wirtschaft und Politik für die Verhältnisse verantwortlich und entziehen ihnen den vielleicht wichtigsten „Kredit“: den Vertrauenskredit. Manifester öffentlicher Protest und soziale Unruhen können die wiederum symptomatischen Folgen sein. Im besten Fall beginnen die Menschen vermehrt nachzudenken über die Hintergründe einer Entwicklung, die sie zunehmend als Fehlentwicklung empfinden. Vielleicht kommt so allmählich eine öffentliche Debatte über eine faire Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Gang.

Zweifellos geht es da um eine epochale Herausforderung. Die alten ideologischen Pauschalrezepte von „mehr Markt“ vs. „mehr Staat“ taugen zu nichts mehr, und sie können nicht durch ähnlich simple neue Patentrezepte ersetzt werden. Eines aber ist vernünftigerweise nicht zu bestreiten: Eine leistungsfähige Volkswirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern soll in nachhaltiger Weise dem guten Leben und Zusammenleben aller Gesellschaftsmitglieder dienen. Wir müssen also in erster Linie das durcheinandergeratene Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und Bürgergesellschaft in Ordnung bringen. Statt nur noch die von den globalen Finanzmärkten gesetzten „Sachzwänge“ zu verwalten, muss die demokratisch legitimierte Politik wieder vermehrt ihren gemeinwohlorientierten Gestaltungsauftrag wahrnehmen. Zu diesem Zweck muss sie die allzu sehr entfesselte kapitalistische Marktwirtschaft in die Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger einbinden und sie so buchstäblich zivilisieren.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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