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Wovor haben wir eigentlich Angst?

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Bildkommentar: Philippe Mastronardi über unsere pubertierende Gesellschaft

Wir alle haben ein unterschiedliches Mass an Grundvertrauen mit in die Wiege bekommen oder seither entwickelt, vielleicht auch verloren. So wandern wir mit einer Mischung aus Angst und Zuversicht durch die Welt. Gegenwärtig wird die Angst geschürt und die Zuversicht auf Probe gestellt: Allenthalben ist die Rede von Krise, Zerfall und Versagen.

Angst haben wir etwa vor der Globalisierung, vor Europa, oder vor der Gewalt im eigenen Land. Die ungelösten Probleme häufen sich. Die Risiken unserer modernen Gesellschaft wachsen exponentiell. Und exponentielles Wachstum ist immer tödlich. Wir kennen das vom Wachstum der Krebszellen oder von der Kettenreaktion im Atomkraftwerk. Die Natur braucht die Gegenkraft zum Wachstum, das Vergehen, um in einem rhythmischen Gleichgewicht zu bleiben. Der moderne Mensch aber will nur das Wachstum, nicht das Sterben. Er will nur die Möglichkeiten nutzen, die Risiken aber möglichst nicht selber tragen. Gerade dadurch wachsen die Risiken – und machen Angst.

Die Rede von Krise, Zerfall und Versagen hat also ihren Grund in der Realität. Dem Wachstumswahn in unserer Vorstellung steht eine Wirklichkeit des Vergehens und Sterbens gegenüber. Wir nützen uns ab. Diese Abnützung gilt vor allem für unsere gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn wir treiben Raubbau an unseren zivilisatorischen Errungenschaften wie Ehe und Familie, Solidarität und Pflichtbewusstsein, Demokratie und Rechtsstaat. Wir zerbröckeln den Kitt, der unsere Lebensgemeinschaft zusammenhält. Insoweit sind wir eine alternde Gesellschaft.

Was meint dieses Bild einer alternden, ja sterbenden Gesellschaft? Zu diesem Bild passen viele Risiken und Ängste unserer Zeit: Wir beuten die Natur aus, wir instrumentalisieren sie für unseren Wohlstand, wir leben gegen die Natur statt mit ihr. Das Gleiche tun wir mit unseren Mitmenschen. Die Ehe gilt nur noch auf Zeit, die Familie ist eine Last, solidarisch sind wir nur, solange uns dies nützt, und Pflichten haben keinen eigenen Wert. Demokratie ist nur noch der Ort, wo wir unseren eigenen politischen Willen verwirklichen wollen; der Rechtsstaat ist uns nur recht, wenn er unsere eigenen Interessen schützt.

So weit die Phänomene. Was aber liegt dahinter? Warum verletzen wir die Regeln der Natur und des Zusammenlebens unter Mitmenschen? Auch da nur ein paar Stichworte: Wir verwechseln Freiheit mit Egoismus, wir verstehen Regeln als Fesseln, die es zu sprengen gilt, wir wollen selbständig sein und ungebunden, wir wollen nicht müssen, sondern nur dürfen. Ja, eigentlich hat uns auch niemand etwas zu erlauben, denn wir haben ein Recht auf alles. – Wenn ich mir da so zuhöre: ist das das Bild eines alternden Menschen? Kaum! Das ist hochgradig pubertär. Das ist ein Mensch, der sich endlich von der Bevormundung durch Vater und Mutter befreit, die Zwänge der alten Ordnung überwindet und die Tabus des Gesinnungsterrors in der Familie aufbricht. Er will selber seine Erfahrungen machen und seine Regeln selbst erfinden. Er will alles ausprobieren und selber bewerten. Das vorgekochte schmeckt ihm nicht. Er will selber Koch und Konsument sein.

Damit verändert sich das Bild radikal: Die Konsumgesellschaft, die zur Lust- und Spassgesellschaft, ja zur 24-Stunden-Gesellschaft geworden ist, bleibt zwar im Bruch mit der Leistungsgesellschaft, in welcher Rechte und Freiheiten mit mühsamer Pflichterfüllung verdient werden müssen. Der Zerfall dieser Ordnung erscheint nun aber nicht mehr als Alterserscheinung, sondern als Zeichen einer Jugend: Unsere Gesellschaft steckt in der Pubertät. Sie revoltiert gegen die zu Macht degenerierten Ideale der alten Ordnung. Das macht zwar auch Angst, aber es ist keine Endzeitangst, sondern die Angst einer Entwicklungskrise. Krisen können bekanntlich heilen. Das zu wissen, schafft Zuversicht.

Unsere pubertierende Gesellschaft ist durchaus gefährlich. In ihrer Masslosigkeit zerstört sie auch Werte, die sie später wieder brauchen wird. Wie pubertierende Jugendliche droht sie, der Drogensucht zu verfallen: Ihre Drogen sind Ego, Glück, Geld und Macht. Wenn sie diesen ganz anheimfällt, droht sie abzustürzen. Wie bei jeder heftigen Pubertät kann also auch für unsere Gesellschaft alles schief gehen. Es bleibt somit die Aufgabe aller, die einsichtigen Momente zu nutzen und danach zu fragen, wie denn die für die künftige Gesellschaft gültigen Werte auszusehen haben. Es gilt, das Gültige der alten Ordnung in neue Formen zu giessen, die der heutigen Zeit entsprechen. Freiheit, Recht und Pflicht müssen so gefasst werden, dass sie wieder greifen.

Was ist damit gewonnen, dass wir nicht alt, sondern pubertierend sind? Durch die pubertäre Angst müssen wir als Gesellschaft ebenso hindurch wie als Jugendliche, um mündig zu werden. Die Erfahrung von Angst ist eine notwendige Etappe der Reifung. Nur wer Angst erfahren hat, kann das Vertrauen entwickeln, künftige Angstsituationen zu bestehen. Die Angst ist die Mutter der Zuversicht!

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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