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Glauben wir eigentlich noch an die Demokratie?

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Woher kommt unsere Politikverdrossenheit? Warum überlassen wir die Politik denen, die daraus ihren Nutzen ziehen wollen? Verkommt unser Staat zur Scheindemokratie, in welcher eine selbsternannte Elite hinter unserem Rücken alles Wesentliche vorentscheidet? Ist das Kapital einfach stärker als das Volk? Solche und andere Fragen stellt uns die Stiftung Lucerna in ihrer Online-Umfrage zum Thema „Demokratie in der Krise“.

Was sollen wir antworten? Ja, wir sind politikverdrossen, weil wir vom Staat enttäuscht sind. Daher ziehen wir uns in den privaten Bereich zurück. Wir können Wirtschaft und Politik ohnehin nicht ändern. Nein, wir könnten schon, aber es geht uns zu gut, um uns um die Politik zu kümmern. Eigentlich sind wir zufrieden mit dem, was der Markt und der Staat für uns tun. Ja, wir sind ohnmächtig – nein, wir sind bequem.

Vermutlich stimmt von beidem etwas. Markt und Staat haben unsere wichtigsten Bedürfnisse längst abgedeckt und gewähren uns viele Freiheiten, solange wir uns an ihre Vorgaben halten. Sie entschädigen uns gut dafür, dass wir sie gewähren lassen: der Markt mit einem verführerischen Konsumangebot, der Staat mit einer beruhigenden Vorsorge für unsere Sicherheit. Haben wir uns kaufen und einschläfern lassen? Sind wir noch gute Demokraten?

Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth erkennt in unserer Politikverdrossenheit einen tieferen Sinn. Sie ist Ausdruck eines ungelösten Konflikts zwischen zwei radikal entgegengesetzten Werten unserer Gesellschaftsordnung: dem Kapitalismus und dem demokratischen Rechtsstaat. Die westliche Gesellschaft will die Wirtschaft auf die Interessen des Kapitals ausrichten und zugleich alle Menschen gleichberechtigt über ihr gemeinsames Wohl entscheiden lassen. Das führt zum Konflikt zwischen kapitalistischer Wirtschaftsordnung und demokratischem Rechtsstaat. In meinen Worten: Der liberale Sozialstaat will beides zugleich: ungebändigte Entfaltung des Reichtums durch freie Macht der Besitzenden im Markt – soziale Sicherung der Besitzlosen durch staatliche Umverteilung über Steuern und Sozialwerke. Einerseits lässt der Staat rücksichtslosen Egoismus zu, anderseits fordert er hohe soziale Solidarität. Damit will er Feuer und Wasser vereinen. Das muss zischen!

Eine Politik, welche die Macht der Wirtschaft zunächst frei gewähren lässt, muss bald selbst in ihren Sog geraten. Das liberale Credo des modernen Staates ist daher gefährlich für Demokratie und Rechtsstaat. Der liberale Staat verspricht in seiner Verfassung zwar, im Konflikt zwischen Kapital und demokratischem Rechtsstaat fair und neutral zu sein, aber er läuft Gefahr, sich den Bedingungen der kapitalistischen Marktwirtschaft unterzuordnen. Er verleiht den Anforderungen des Wirtschaftssystems den Vorrang vor der realen Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger. Der Markt wird damit zur primären Ordnung erhoben. Demokratie und Rechtsstaat werden zu abgeleiteten Grössen. Wie Axel Honneth treffend bemerkt, ist Politikverdrossenheit dann nicht einfach Ausdruck einer Privatisierungstendenz oder eines politischen Desinteresses. Sie entspringt der ernüchternden Einsicht, dass der demokratische Rechtsstaat sein Versprechen nicht einhält: Er gibt uns die Freiheit nicht, unser Zusammenleben effektiv gemeinsam zu regeln.

Beispiele dafür gibt es genug, auch in der Schweiz: Das Bankgeheimnis wird hochgehalten, obwohl es als Schutz der Hehlerei bei ausländischer Steuerhinterziehung dient. Denn davon profitiert nicht nur der schweizerische Finanzplatz. Auch Bund und Kantone ziehen daraus hohe Steuererträge, mit denen sie einen Teil des Sozialstaates finanzieren können. Ähnliches gilt für die Bankenregulierung insgesamt oder für die Unternehmenssteuern. Immer wieder wird  die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Legitimation für Willkürfreiheit im Markt herangezogen, weil der wirtschaftliche Erfolg die finanzielle Grundlage für die staatliche Handlungsmacht bildet. Die Eliten von Wirtschaft und Politik haben damit ein gemeinsames Interesse. Sie teilen sich die Machtmittel, die sie einander verschaffen können: Sie tauschen Marktfreiheit gegen politische Macht. Die politische Elite gibt der wirtschaftlichen ihre Marktfreiheit, die wirtschaftliche Elite gibt der politischen die finanziellen Mittel zur Verteilung des Wohlstandes.

Ist das die ganze Wahrheit über unsere Demokratie? Wenn ja, dann steckt sie in einer tiefen Krise. Demokratie ist freilich mehr als faktische Machtverteilung, auch mehr als ein Entscheidungsprozess in bestimmten geregelten Verfahren wie Wahlen oder Abstimmungen. Demokratie war immer ein Gegenbild zur herrschenden Realität. Sie war immer der normative Entwurf einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Demokratie und Kapitalismus stehen seit langem im Konflikt zu einander: Demokratie ist der Versuch, unser Zusammenleben nach dem Prinzip der Gleichberechtigung aller zu gestalten -„one man – one vote“: Jeder Mensch zählt gleich viel. Der Kapitalismus hingegen ist die Gesellschaftsordnung der Macht des Stärkeren am Markt: Hier zählt jeder Franken gleich viel – nicht jeder Mensch. Wer mehr Geld besitzt, zählt entsprechend mehr – Wer zahlt, befiehlt.

Demokratie bleibt eine Glaubensfrage. Woran glauben wir mehr:  an das ökonomische Prinzip der eigenen Nutzenmaximierung, das den Kapitalismus beherrscht, oder an das staatsbürgerliche Prinzip der Gleichberechtigung aller, das die Demokratie anleitet? Die Umfrage der Stiftung Lucerna will uns alle dazu anregen, über diese Frage nachzudenken.

Hinweise:

  • Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, insb. S. 600 ff.
  • Die Umfrage der Stiftung Lucerna finden Sie auf www.lucerna.ch.

Dieser Text ist erstmals erschienen als Kolumne am 24. 8. 2012 in der Neuen Luzerner Zeitung.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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