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Schweizer Steuerpolitik und internationale Ordnungspolitik

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Eine wirtschaftsethische Perspektive und ihr „realistischer“ Orientierungs­gehalt für eine kluge Politik des schweizerischen Finanzplatzes

Referat, gehalten an der Kontrapunkt-Tagung zur schweizerischen Steuerpolitik vom 12. März 2009 in Bern

Seit Jahren gerät die Schweiz mit ihrer Steuerpolitik immer wieder in die Kritik von EU-Politikern und OECD-Experten. Am OECD-Treffen vom 21. Oktober 2008 in Paris wurde der Druck auf die Schweiz deutlich erhöht. Spätestens seit dem Hearing im US-Senat am 4. März 2009 ist klar, wie ernst es auch den USA mit dem Kampf gegen die Steuerflucht ist. Und nun steht anfangs April 2009 der G20-Gipfel vor der Tür. Höchste Zeit also, vonseiten der Schweiz eine klare, zukunftsfähige Strategie vorzulegen.

Worum geht es? An verschiedenen Fronten – derzeit v.a. der nicht gewährten Amts- bzw. Rechtshilfe bei Steuerhinterziehung, aber beispielsweise auch bei der privilegierten Holding-Besteuerung – wird der Schweiz vorgeworfen, mittels unfairer Steuerpraktiken Kapital bzw. Kapitalerträge aus Ländern anzulocken, denen gemäss dem Domizilprinzip die Steuerhoheit zusteht, und so im Steuersubstrat der betroffenen Länder zu „wildern“. So hat es die OECD schon 1998 in ihrer Dokumentation Harmful Tax Competition: An Emerging Global Issue benannt. Als „schädliche“ und insofern unfaire Formen des internationalen Steuerwettbewerbs werden Praktiken bezeichnet, die „in erster Linie … auf Fiskalgewinne zu Lasten ausländischer Steueraufkommen abzielen“. Nach den OECD-Grundsätzen darf die Steuerpolitik eines Staates nicht darauf zugeschnitten sein, mit steuerrechtlichen Anreizen die Abwanderung steuerpflichtigen Kapitals oder seiner Erträge aus dem Domizilland zu unterstützen, würde dies doch den legitimen Anspruch der betroffenen Staaten auf ihr heimisches Steuersubstrat aushöhlen.

Die Freiheit jedes Bürgers oder Unternehmens zur grenzüberschreitenden Standortverlagerung, also zur Auswanderung, ist damit nicht in Frage gestellt. Denn es gilt völkerrechtlich das Wohnsitzprinzip: Die Steuerhoheit jedes Staates über die in seinem Staatsgebiet Niedergelassenen ist gewährleistet, und dementsprechend die nationale Steuerautonomie. Jedes Land soll selber darüber entscheiden können, welche Regie­rung und welche Staatsquote es (samt der entsprechen­den Steuer­last) will.

Länder, die diesen Grundsätzen systematisch zuwider handeln, bezeichnet die OECD als „Steuerhäfen“. Seit dem Jahr 2000 führt sie eine periodisch angepasste schwarze Liste nicht-kooperierender Staaten. Die Schweiz, notabene selbst OECD-Mitglied, ist daran wiederholt nur knapp vorbei­geschrammt und jetzt erneut ein heisser Kandidat für diese zweifelhafte Auszeichnung. Und was tut die offizielle Schweiz? Sie hat bis vor wenigen Wochen fast unisono mit Zurückweisung aller Kritik reagiert und die Ausarbeitung einer klugen Vorwärtsstrategie in fahrlässiger Weise verschlafen. Die in gewissen Kreisen vorherrschende (oder gespielte) Entrüstung über die angebliche „Einmischung“ von EU und USA in „schweizerische Angelegenheiten“ ist fehl am Platz – es verhält sich genau umgekehrt: Es ist die Schweizer Steuerpolitik, die sich in illegitimer Weise in die Steuerautonomie „befreundeter“ Staaten einmischt! Das schleckt keine noch so gierige Geiss weg – weder der rechtspositivistische Verweis auf die bestehenden Doppelbesteuerungs- und Zinsbesteuerungsabkommen noch die absurde Forderung, den Status quo des Bankgeheimnisses in seiner bisherigen Form in der Bundesverfassung festzuschreiben – und diese damit geradezu zu „verschmutzen“.

Nicht alles was positiv-rechtlich legal ist, ist damit im ethischen Sinn auch schon legitim. So gibt es in unserem Zusammenhang kein Menschen- oder Bürgerrecht auf Steuerhinterziehung! Wäre dies so, so wären Steuern von Spenden nicht mehr zu unterscheiden. Gegenüber den zuständi­gen (und selbst an den Datenschutz gebundenen!) Steuerbehörden sein gesamtes Einkommen offenzulegen, ist in jedem Rechtsstaat eine ganz normale Bürgerpflicht, welche die schützenswerte Privatsphäre ehrlicher Bürger in keiner Weise tangiert. Deswegen vom „gläsernen Bürger“ zu faseln ist unredlich und auf internationaler Ebene, als Rhetorik zur Protektion von Steuerflüchtlingen jeder Art, nur noch peinlich. Ich kann ja als Lohnempfänger auch nicht dem Steuerkommissär meinen Lohn­­ausweis vorenthalten mit dem Argument, ich wolle kein „gläserner Bürger“ sein….

Worauf beruht die hierzulande bis anhin dominierende, buchstäblich weltfremde (also den Rest der Welt befremdende) Problem­einschätzung? Nun, natürlich mächtige Interessen und sie rhetorisch verdeckende Ideologien. Gleichwohl lässt sich ein systematischer Denkfehler oder ein blinder Fleck in der schweizerischen Steuerpolitik gegenüber dem Ausland erkennen: der Kurzschluss zwischen Interessen- und Ordnungspolitik. Vermischt werden zwei prinzipiell auseinander zu haltende Ebenen: jene der Vertretung eigener Interessen im Wettbewerb und jene der Bestimmung der für alle Wettbewerber geltenden ordnungspolitischen Spielregeln des Wettbewerbs. Auf dieser zweiten, übergeordneten Ebene geht es darum, nach unparteilichen Gesichtspunkten die Voraussetzungen eines fairen Wettbewerbs zu sichern. Staaten, die sich geschäftstüchtig als Steuerflucht­häfen anbieten, missachten diese Zweistufigkeit des Problems und übernehmen keine angemessene ordnungspolitische Mitverantwortung für faire internationale Wettbewerbsbedingungen.

Eine übergeordnete Wettbewerbsordnung als notwendig zu befürworten ist seit langem die politisch-ökonomische Standardsicht von tragfähiger marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik – auch und gerade seitens des neo- und  ordoliberalen Verständnisses. Der Begriff der Wettbewerbsordnung stammt selbst von einem der neoliberalen Vordenker, Walter Eucken. Im fairen Wettbewerb soll nichts als die bessere Leistung gewinnen. Walter Eucken schrieb dazu schon 1946 klipp und klar:

„In der Wettbewerbs­ordnung kann sich der Leistungswettbewerb entwickeln. Schädigungs- und Behinderungswettbewerb fehlt.“

Diesbezüglich stellt der Steuerwettbewerb, falls man denn diesen an sich fragwürdigen Begriff nicht gleich ganz vermeiden mag, heikle ordnungsethische und -politische Anforderungen. Aus ordoliberaler Sicht ist er nur so weit zu begrüssen, wie er auf die Anbieter – das sind im Fall des internationalen Steuerwettbewerbs die staatlichen Behörden – Anreize ausübt, die Leistungen ihres service public und der Staatsverwaltung zu steigern. Hingegen liegt, mit Eucken gesprochen, ein „Schädigungs- oder Behinderungswettbewerb“ vor, soweit dem ausländischen Kapital schlicht im definierten Sinn unfaire Steuervorteile offeriert werden. Dies vermindert die Leistungsfähigkeit der betroffenen Staaten, soweit sie das ihnen entzogene Steueraufkommen nicht  einfach den weniger mobilen Steuerpflichtigen auferlegen, was aber zu einem landesinternen Fairnessproblem führt. (Im innerschweizerischen Steuerwettbewerb wird dieses Problem bekanntlich mittels des Finanzausgleichs gelöst. Dieser gleicht nicht-leistungsbasierte Standortnachteile oder standortbedingte Sonderlasten wenigstens teilweise aus.)

Aus dieser neo- und ordoliberalen Standardsicht ist die schweizerische Steuerpolitik gegenüber dem Ausland auf altliberalem Niveau, also im 19. Jahrhundert, stehen geblieben. Man wittert hinter der Kritik von EU und OECD regelmässig nichts als den „Neid“ auf die Stärke des eidgenössischen Finanzplatzes oder eine wettbewerbsfeindliche eurokratische Regulierungs- und Steuerharmonisierungswut („Steuerkartell“).

In Wirklichkeit ist es vor allem die Schweiz, die hier eine wettbewerbsfeindliche Politik betreibt. Ihre Steuerpraktiken müssen zum Teil als eine Form von staatlichem Protektionismus betrachtet werden. Indem unsere Gesetzgebung steuerflüchtigem Kapital „Finanzasyl“ bietet, d.h. es vor dem Zugriff der rechtsstaatlich legitimierten und zuständigen Steuerbehörden ihres Herkunftslandes schützt, gewährt sie dem einheimischen Bankenplatz einen nicht leistungsbasierten Wettbewerbsvorteil. Genau das ist die wettbewerbspolitisch und völkerrechtlich fragwürdige Funktion der schweizerischen Unterscheidung zwischen „einfacher Steuerhinterziehung“ und Steuerbetrug (definiert durch Dokumentenfälschung). Aus ihr wird die Doktrin abgeleitet, im ersten Fall anderen Staaten die Amts- und Rechtshilfe aufgrund der nicht gegebenen doppelten Strafbarkeit in jeweils beiden Staaten zu verweigern:

„Einem Ersuchen wird nicht entsprochen, wenn Gegenstand des Verfahrens eine Tat ist, die auf eine Verkürzung fiskalischer Abgaben gerichtet erscheint… Jedoch kann einem Ersuchen um Rechtshilfe entsprochen werden, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Abgabebetrug ist.“ (Art. 3, Abs. 3, des Schweizerischen Bundesgesetzes über interna­tio­nale Rechtshilfe in Strafsachen)

Kann es verwundern, dass eine solche Steuerpolitik vom Ausland zunehmend als höchst unfair betrachtet wird und unter Gegendruck gerät? Die wenig solidarische Position, die die schweizerische „Realpolitik“ in internationalen Verhandlungen vertritt, ist aus ordnungsethischer Sicht argumentativ dermassen schwach fundiert, dass es vor allem „realistisch“ ist, ihr bis zum baldigen definitiven Zusammenbruch weitere Reputationsschäden für das internationale Ansehen der Schweiz vorauszusagen. Klüger ist es, sehr rasch eine zukunftsfähige Neuorientierung der schweizerischen Steuerpolitik gegenüber EU und OECD suchen, mit der sie zwar nicht alle, wohl aber ihre legitimen volkswirtschaftlichen Interessen als leistungsfähiger Finanzplatz weiterhin erfolgreich vertreten und ihrem bröckelnden internationalen Ansehen neue Ausstrahlung verleihen kann. Wie könnte diese überfällige Neuorientierung aussehen?

Ein neues „Geschäftsmodell“ für den Finanzplatz Schweiz

Ich schlage fünf Grundsätze für eine nachhaltige schweizerische Steuerpolitik vor. Sie setzen notabene voraus, dass die verantwortlichen Behörden die längerfristigen Interessen der ganzen Volkswirtschaft ins Zentrum stellen und jeder einseitigen Orientierung an kurzfristigen Interessen einzelner Branchen oder gar Firmen widerstehen.

(1) Die Schweiz hält zwar am Bankgeheimnis als Schutz der legitimen Privatsphäre von Bankkunden fest, definiert aber ab sofort ohne Wenn und Aber, dass der Missbrauch des Bankgeheimnisses für Steuerbetrug und willentliche Steuer­hinterziehung davon nicht mehr gedeckt wird. Diese neue Position wird ausdrücklich als Basis für eine konstruktive Kooperation mit der Staatengemeinschaft kommuniziert.

(2) Die Schweiz hebt als Tatbeweis der neuen Position die fragwürdige rechts­technische Unterscheidung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung auf und bietet demzufolge nicht nur den USA, sondern auch der EU die Amtshilfe in allen plausibel begründeten Fällen erheblicher Steuerhinterziehung an. (Der Versuch, diesen Schritt durch das Angebot einer erweiterten Zahlstellensteuer zu vermeiden, ist wenig chancenreich, da er den Druck auf die Schweiz nur für kurze Zeit abzuschwächen vermöchte.)

(3) Die Schweiz bekennt sich generell zu einem leistungsfähigen Finanzplatz, der wettbewerbsfähig genug sein soll, um ohne Protektionismus und unfaire Wettbewerbsverzerrungen Erfolg zu haben. Neben der Protektion ausländischer Steuerhinterzieher werden auch Steuerprivilegien für ausländische Holdinggesellschaften u.ä. aus den schweizerischen Steuergesetzen eliminiert. Diese Massnahmen werden gegenüber OECD, EU und USA samt verbindlichen Fristen für ihre Umsetzung kommuniziert.

(4) Die Schweiz anerkennt als weltgrösster Offshore-Finanzplatz ihre ordnungs­politi­sche Mitverantwortung für faire internationale Steuerverhältnisse. Statt wie bisher nur defensiv im „autonomen Nachvollzug“ zu reagieren, engagiert sie sich aktiv in kooperativen Bemühungen um weltweite Standards und Spielregeln der Finanzmarktaufsicht und des Steuerwettbewerbs (also um die Einbindung auch von Finanzplätzen wie Singapur, Hongkong, usw.).

(5) Auf dieser Basis – und erst dann – kann die Schweiz Reziprozität verlangen. Sie braucht sich, gerade angesichts der volkswirtschaftlichen Bedeutung ihres Finanzplatzes, keine einseitigen Schritte ohne die gleichzeitige Einbindung aller Steuerhäfen unter EU-Hoheit (inkl. britische Kanal- bis Karibikinseln) zumuten zu lassen. Daraus ergeben sich voraussichtlich die nötigen Übergangsfristen, um den Finanzplatz für die Zeit nach dem anrüchig gewordenen „Steuerhinterziehungs­geheimnis“ fit zu machen.

Letztlich steht – weit über volkswirtschaftlichen Interessen hinaus –  auch unser nationales Selbstverständnis, unsere Identität in Frage: Nehmen wir es hin, in Zukunft noch mehr als bisher dem Stereotyp inter­nationaler „Rosi­nen­picker“ nachzuleben und uns auf schwarzen Listen in Gesellschaft von „Bananenrepubliken“ oder „Schurkenstaaten“ wiederzufinden? Oder ist es unserem Land mit seiner humanistischen, humanitären und friedensfördernden Tradition auch in Zukunft ein Anliegen, weltweit geschätztes, solidarisches Mitglied der Völkergemeinschaft zu sein? Wir werden uns sehr bald entscheiden müssen, und ich hoffe wir tun es im Sinne von Altbundesrat Joseph Deiss, der die wohl richtige Wahl wie folgt auf den Punkt gebracht hat:

„Die Schweiz ist nicht nur ein Bruttosozialprodukt. Sie ist ein Land, dessen Zusammenhalt auf gemeinsamen Werten gründet.“ (Tages-Anzeiger, 29.12.2003)

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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