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Die vertagte Krise der Krisentheorie

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1. Zu Streecks Anspruch einer „Krisentheorie“ (Methodischer Ansatz)

Gegenstand der „Krisentheorie“ (S. 7), die Streeck zu erneuern beansprucht, ist eine normative Ordnung, die es in ihrer historischen Genese zu verstehen und kritisch-normativ zu beurteilen gilt: „Kapitalismus ist, anders als ökonomische Theorie und Ideologie glauben machen wollen, kein Naturzustand, sondern eine zeitgebundene, gestaltungs- und legitimationsbedürftige gesellschaftliche Ordnung“ (S. 51). Ganz richtig. Dazu hatte die akademische Soziologie der letzten Jahrzehnte aufgrund ihrer vorwiegend positivistischen Prägung wenig zu sagen; sie kann und will grossenteils nur empirische Phänomene „wertfrei“ beschreiben und anhand theoretischer Konzepte zu erklären versuchen. Mit gutem Grund greift Streeck deshalb auf die normativ-kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule zurück. Wie kritische Ökonomen (der Schreibende eingeschlossen) allerdings schon vor Jahrzehnten moniert haben, hat diese die Marx’sche Linie einer Kritik der politischen Ökonomie weitgehend auf eine „Kritik der instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer), also auf Technokratiekritik, ausgedünnt. Diese Kritik blieb politisch-ökonomisch ratlos und kulturpessimistisch, weil sie der neuen Herrschaftsform, die in der ideologischen Form technokratischer Ratio auftritt, sich also hinter systemischen „Sachzwängen“ verbirgt, keine Idee praktischer Vernunft entgegenzuhalten vermochte.

Erst Habermas durchbrach mit seinen Thesen zur Legitimationskrise des „Spätkapitalismus“ (1973) und vor allem mit seiner zweidimensionalen Gesellschaftstheorie von 1981 (kommunikative Rationalität der modernen Lebenswelt vs. funktionale Systemrationalität) diese „eindimensionale“ (Marcuse) Denkwelt. Habermas verschenkte jedoch das Potenzial einer neuen Kritik der politischen Ökonomie, indem er sich von Luhmanns ebenso eindimensionaler Systemtheorie der Wirtschaft über den Tisch ziehen liess und gleich am Anfang seines magistralen Hauptwerks (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 19) die politische Ökonomie fast neoklassisch als eine von normativen Fragen entlastete, rein funktionale (System-) Ökonomik einordnete. Auf den weiteren 1100 Seiten kam er auf die ausgegrenzte ethisch-politische Dimension der Ökonomik nicht mehr zurück; ihr wandte sich Habermas erst in jüngerer Zeit, wenn auch nie in vergleichbar systematischer Weise, zu.

Streeck erfasst diese systematische Lücke treffend (S. 24 u. 41), löst aber den Anspruch, sie durch eine tragfähige normativ-kritische Durchdringung des Verhältnisses von Demokratie und Kapitalismus zu füllen, m.E. nicht wirklich ein. (Insofern kann ich Karl Webers Eindruck, Streecks Buch sei „stark theoriegeleitet“ [S. 3 seiner Zusammenfassung] ebenfalls nur teilweise zustimmen.) Zwar ordnet Streeck, seiner ausdrücklichen Intention (S. 19) entsprechend, das fleissig versammelte empirische Material in durchaus beeindruckender und erhellender Weise in die grossen historischen Zusammenhänge ein, doch die normativen Tiefenstrukturen der herrschenden politisch-ökonomischen Denk- und Ordnungsmuster lassen sich auf diese Weise nicht restlos ausleuchten. Schon Streecks Begriffsarbeit ist ideengeschichtlich sowie gesellschafts- und ordnungstheoretisch unzureichend: Schlüsselkonzepte wie der angeblich die Nachkriegszeit prägende „demokratische Kapitalismus“ (S. 9ff.) und seine schrittweise Auflösung durch den „Neoliberalismus“ (S. 54ff.) bleiben systematisch weitgehend unbestimmt.

 

2. Zu Streecks „fiskalpolitischer“ Krisendiagnose (Inhaltliche Analyse)

Gut herausgearbeitet werden die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte, die einer zur Marktgesellschaft überdehnten Marktwirtschaft unweigerlich innewohnen, sowie ihre fortschreitende Zuspitzung im Laufe der „langen Wende zum Neoliberalismus“ (S. 58), mit der die mässigenden und sozial ausgleichenden Momente der Nachkriegszeit zugunsten einer fragwürdigen „Marktgerechtigkeit“ (S. 95) schrittweise beseitigt wurden. Um fast jeden Preis sollte „das Monster ausgehungert“, d.h. der Staat zurückgeschnitten werden, um konsequenter denn je dem „privaten Besitzindividualismus“ huldigen zu können (S. 97ff.). In diesem Zusammenhang vermag auch Streecks Diagnose des Dreischritts vom „Steuerstaat“ zum „Schuldenstaat“ und schliesslich zum „Konsolidierungsstaat“ (Austeritätspolitik) zu überzeugen, wiewohl sie etwas gar pauschal skizziert wird und beispielsweise für die Schweiz so nicht zutrifft.

Trefflich charakterisiert wird durchaus auch die „Mediatisierung der Demokratie durch die Finanzmärkte“. Die Geschäftsbanken werden gebrandmarkt als „Geldfabriken“, die „für die von ihnen produzierten Schuldscheine das Leben der kleinen Leute beschlagnahmen dürfen“ (S. 220). Eine tiefer gehende Analyse des in der Tat fehlkonstruierten Geldsystems wird jedoch nicht vorgenommen. Ähnlich verhält es sich mit der den Kapitalismus charakterisierende Dominanz des Eigentumsrechts über fast alle weiteren Bürgerrechte und dem ordnungspolitischen Strukturbruch, der interessenpolitisch gezielt vollzogen wurde mittels der Verkehrung der nationalen Rahmenordnungen des Wettbewerbs in einen internationalen Wettbewerb der Rahmenordnungen („Globalisierung“ der Märkte). Sie hat – besonders symptomatisch in der Krisenpolitik der EU – dazu geführt, dass tendenziell die „Demokratie durch Märkte domestiziert wird statt umgekehrt Märkte durch Demokratie“ (S. 163). Aber weder kommen Ansatzpunkte für eine wirksame Besteuerung des Kapitals in den Blick noch werden weiter greifende gesellschafts-, eigentums- und ordnungspolitische Leitideen entwickelt, von denen her die verkehrte normative Ordnung der Dinge wieder richtiggestellt werden könnte. Wie ein demokratisch eingebundener und insofern gemässigter Kapitalismus ausgestaltet werden soll, bleibt weitgehend offen, er wird nur grundsätzlich postuliert (S. 235ff.).

Die Lücke zwischen diesem vagen normativen Horizont und der titelbestimmenden Krisendiagnose, wonach das „buying time“ das wesentliche Merkmal der gegenwärtig dominierenden Politik zur Bekämpfung der Finanz-, Schulden- und Sozialkrise sei, bleibt gross. Ein explizit begründetes normatives Leitbild für die Gestaltung des Verhältnisses von Bürgergesellschaft und Marktwirtschaft ist als kritisch-normativer Massstab spätestens dann unverzichtbar, wenn es um praktische Folgerungen und Forderungen geht. Diesbezüglich verwundert es, dass Streeck sich nicht eingehender mit der Entwicklung der in Deutschland hochgehaltenen ordnungspolitischen Leitideen und ihrer offenkundig fraglich gewordenen Tragfähigkeit auseinandersetzt. Überhaupt nicht in den Blick kommt der Tatbestand, dass das einst von Alfred Müller-Armack konzipierte und von Ludwig Erhard realpolitisch mehr oder weniger umgesetzte Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft heute keineswegs nur von aussen, also durch den gemeinsamen Markt der EU und die Globalisierung, in Frage gestellt ist, sondern von Anfang an unter massiven inneren ordnungspolitischen Inkonsistenzen und gesellschaftspolitischen Defiziten litt. So wurde zwar die „Marktkonformität“ der Sozialpolitik, nicht aber die (ordnungspolitisch vorrangige, aber durch Konfusionen zwischen Markt- und Bürgerfreiheit vernebelte) „Sozialkonformität“ der Wettbewerbspolitik postuliert – mit verheerenden Spätfolgen in der deutschen Wirtschaftspolitik der jüngsten Zeit. Deshalb konnte die Soziale Marktwirtschaft die ihr verheissene Rolle als „irenische Formel“ (Müller-Armack) zur gesellschaftlichen Integration nicht nachhaltig erfüllen (vgl. dazu P. Ulrich: „Marktwirtschaft in der Bürgergesellschaft. Die Soziale Marktwirtschaft vor der nachholenden gesellschaftspolitischen Modernisierung“, in: 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel, hrsg. von M.S. Assländer & P. Ulrich, Bern 2009).

 

3. Zu Streecks europapolitischen Suggestionen („Was als Nächstes?“)

Als fragwürdige Konsequenz solcher krisentheoretischen Defizite projiziert Streeck m.E. im dritten Teil seines Buches – teilweise merkwürdig nah an der traditionell politikskeptischen Problemsicht mancher neoklassisch-neoliberaler Ökonomen – m.E. allzu viel an angeblichen Problemursachen in die symptomatisch nötig gewordenen Rettungsmassnahmen der Europäischen Zentralbank, mit denen die Krise nur in die Zukunft „vertagt“ und womöglich verschärft werde. Das ist weder besonders originell noch hilfreich für eine gründlichere Therapie. Stattdessen wird eine europapolitische Lösung in Richtung der Renationalisierung der Wirtschaftspolitik suggeriert, ohne dass die weltanschauliche Normativität hinter dieser angeblich sich von der Sachlage her (objektiv?) aufdrängende Suggestion explizit gemacht und reflektiert wird.

Nicht diskutiert wird übrigens von Streeck, wie von vielen deutschen (Mainstream-)Ökonomen, dass neben den Finanzmärkten und den Strukturschwächen der südeuropäischen Länder auch die extrem neoliberale Tieflohn- und Exportförderungspolitik Deutschlands die aussenwirtschaftlichen Ungleichgewichte in der EU wesentlich mitverursacht hat, was ohne weiteres innenpolitisch, durch eine dezidiert andere, den Produktivitätsfortschritt an die Arbeitnehmer weitergebende Lohnpolitik ein Stück weit korrigiert werden könnte. (Keynesianisch argumentierende Stimmen in diese Richtung werden von der neoklassisch geprägten Fachwelt der Standardökonomik fast notorisch verächtlich gemacht; erst jüngst scheinen sie, ermutigt durch entsprechende Stellungnahmen renommierter angelsächsischer Ökonomen zur EU-Krise und dem ursächlichen Anteil der deutschen Wirtschaftspolitik, etwas an Boden zu gewinnen.)

Alle erwähnten, tiefer greifenden gesellschafts- und ordnungspolitischen Reformpotenziale (Eigentumsrecht, Geld- und Finanzmarktverfassung, Prinzipien der Erwerbsarbeits-, Einkommens- und Vermögensverteilung) werden ebenso wenig entfaltet wie die in ihrem Lichte dringend zu klärenden Horizonte einer politischen Rahmenordnung der europäischen Märkte, welche die neoliberalen Engführungen des Lissaboner Vertrags hinter sich lässt und damit Europa eine wirklich demokratische und bürgergesellschaftliche Zukunftsperspektive bieten könnte.

Am Ende bleibt es das Verdienst von Wolfgang Streeck, für eine Leserschaft, die den Überblick über die geschichtlichen Entwicklungslinien bis zur aktuellen Krise des noch nie besonders „demokratischen Kapitalismus“ verloren hat, einen solchen in rhetorisch glänzender Weise zu bieten und damit immerhin einen anregenden Beitrag zur Sensibilisierung für die epochal anstehenden politisch-ökonomischen Herausforderungen zu leisten. Deren Kern bildet die ungelöste Aufgabe, die zukünftige normative Ordnung des Verhältnisses zwischen demokratischer Bürgergesellschaft und internationalem Kapitalismus überzeugend zu konzipieren und mit tragfähigen Reformideen ihrer schrittweisen Umsetzung zuzuarbeiten.

Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin (trotz verkaufter Zeit) so klug fast wie zuvor…

23. Januar 2014

Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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