Print Friendly, PDF & Email

Gekaufte Aufmerksamkeit – Ein Kommentar zu Wolfgang Streeck’s „Gekaufte Zeit“

Autorin/Autor:

Ich betrachte das Buch von Wolfgang Streeck „Gekauft Zeit“ als Paradebeispiel, wie die Sozialwissenschaften ihre ohnehin begrenzte Kreditwürdigkeit weiterhin aufs Spiel setzen. Die immer noch anhaltende Finanzkrise wird zur Selbstdarstellung benutzt, und wärmt dazu ideologische Argumente der Vergangenheit auf. Jedenfalls bin ich dezidiert gegen die in diesem Buch aufgezeigten Argumentationslinien, und als überzeugter Europäer ist mir die aufgezeigte Lösung ein Weg in die Sackgasse und nicht ein Weg aus der Krise.

Zum einen wird eine aufgewärmte Kapitalismuskritik bemüht. Seit etwa Marx wissen wir, dass der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen krankt und mindestens seit Lenin, dass er deshalb zum Imperialismus neigt. Was hat sich jedoch seit dem konkret getan? Der Kolonialismus hat Nationalstaaten Platz gemacht. Der kalte Krieg wurde ohne dritten Weltkrieg überwunden, und mehrere Entwicklungsländer sind zu Schwellenländern geworden. Europa hat sich dank des „Nie – wieder“ Traumas neu formiert und geht nun Probleme des Zusammenlebens von verschiedenen Kulturen und politischen Systemen friedlich an. Der materielle Wohlstand pro Kopf hat sich weltweit verbessert. Die Unterschiede zwischen den Ländern haben sich angeglichen, obwohl das Einkommens- und Vermögensgefälle weiterhin gross bleibt. Dies ist ein Indiz, dass nicht alles zum Besten steht: in vielen Ländern hat sich der Gegensatz zwischen Arm und Reich verschärft. Umweltprobleme begleiten in zunehmendem Masse das in PIB gemessene Wachstum, und der technische Fortschritt hat Dimensionen angenommen, die unser herkömmliches Rechtsverständnis sprengen. Die Weltbevölkerung wächst weiterhin und bringt eine stetig wachsende Nachfrage für menschenwürdige Lebensbedingungen, die für alle gelten sollten. Angesichts der heutigen Finanzkrise, die eine ungeahnte kriminelle Dynamik dieses Sektors ans Licht brachte, kann man natürlich Altmarxisten nicht ihr Gefühl „es doch immer gewusst zu haben“ nehmen. Sie mussten während des Kalten Krieges etwas zu einseitig leiden, und freuen sich natürlich über ihr vermeintliches Comeback. Auch heute wird jedoch ihr „Wir- Gefühl von damals wegen der verbreiteten Individualisierung in unserer Gesellschaft kaum zur Kenntnis genommen. Die heutige Finanzkrise eignet sich kaum, um wieder eine verstaubte Diskussion um den Kommunitarismus als Wunderwaffe gegen den Liberalismus zu führen. Es geht eher darum, den Finanzsektor derart zu reformieren, dass er seiner wirklichen Rolle als Bindeglied zwischen Ersparnis und produktiven Investitionen gerecht wird.

Zum zweiten wird ein Gegensatz zwischen Markt und Staat bemüht, der ja nicht besser wird, wenn von Staats- und Markt Volk gesprochen wird. Es gibt nur ein Volk und die Bürger sind nun einmal alles in einem: Souverän, Steuerzahler, Konsumenten, Sparer, Angestellter, Beamter und Unternehmer. Diese Funktionen sind komplementär, und es scheint mir nicht zweckmässig, sie auseinanderzudividieren. Etwas zu vereinfachende Gegensätze sind dabei eher hinderlich und helfen kaum, die nötigen Regeln für das soziale Zusammenleben zu verbessern. Markt und Demokratie sind liberale Institutionen. Sie sind immer verbesserungsfähig. In letzter Instanz, setzt sich jedoch immer das Primat der Politik durch. Es muss deshalb ein dringendes Anliegen bleiben, dass dieses Primat auf demokratischen Wegen bestimmt wird. Dies darf aber nicht heissen, dass wieder auf nationalstaatliche Lösungen zurückgegriffen wird. Unsere Probleme sind globaler Natur und müssen deshalb mit einer Stärkung der internationalen Zusammenarbeit angegangen werden. Bis auf weiteres ist eine wünschenswerte Weltregierung Utopie. Es bleibt somit nur ein gangbarer, zugegebener Masse suboptimaler, Weg: eine supranationale Zusammenarbeit auf regionaler Ebene. Deshalb ist die EU eine sinnvolle Konstruktion, die etwas mehr verdienen würde, als eine masslose Kritik von rechts und neuerdings auch von links.

Die immer noch ungelöste Finanzkrise ist sicher eine Systemkrise. Kaum jemand hätte gedacht, wie unstabil dieses System sein kann. Ich war jedoch nicht vergebens Schüler von Charles Kindleberger um seine immer noch unwidersprochene Geschichte der Finanzkrisen („Manien, Paniken, Crashs. Die Geschichte der Finanzkrisen der Welt“), bedingungslos über die von Wolfgang Streeck zu stellen. Die Krisen von morgen kann auch die Schweiz nur international lösen. Sie wird weiterhin Schritt für Schritt mit der europäischen Union zusammenarbeiten. Der Ruf nach einem Zurück zum Nationalstaat erhält heute nur Applaus von Ewiggestrigen.

23. Januar 2014

Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

Comments are closed.