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Thesen zu den blinden Flecken in der Analyse Streecks – Optik des Ökonomen

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1. Allgemeine Einschätzung

Die wichtigsten Aussagen Wolfgang Streecks, die in Deutschland zu einer Debatte geführt haben, kommen in der Buchzusammenfassung nur kurz am Schluss – zu kurz! – zur Geltung. Es sind Streecks kritischen Aussagen zur EU, zum Binnenmarktprojekt und zur Währungsunion: Streeck zeigt auf, dass das Projekt Binnenmarkt, die Personenfreizügigkeit inbegriffen, einem neoliberalen Entwurf entspringen, der auf Friedrich A. von Hayek zurückgeht. Im Grunde hatte das Projekt des „Single Market“ zum Ziel, einen konkurrierenden Staatsabbau unter den kapitalistischen Ländern einzuleiten (S.142 ff). Streeck stellt in seinem Buch das Projekt der Europäischen Währungsunion in Frage und fordert deren Rückbau und generell eine Rückbildung der Binnenmarktliberalisierung im Sinne einer Renationalisierung der Wirtschaftspolitiken.

Diese Folgerungen aus seiner Analyse sind eigentlich das Brisanteste an seinen Ausführungen. Seine Analysen betreffend Demokratiegefährdung, „Marktvolk“, Technokratiedominanz sind nicht neu und von anderen Autoren auch schon formuliert worden.

Es ist gerade dieser – in der verschickten Zusammenfassung nur marginal und beiläufig erwähnte – Teil des Buches, der am stärksten Widerspruch hervorgerufen hat. Auf Streecks Renationalisierungsthese hat z.B. Jürgen Habermas recht intensiv und heftig geantwortet mit dem Tenor: nicht weniger sondern mehr Europa! (Siehe Jürgen Habermas: Im Sog der Technokratie, Band 12 der Kleinen Politischen Schriften, Suhrkamp 2013, Seiten 138 ff). Habermas beklagt „das Elend der nationalstaatlichen Fragmentierung einer kapitalistisch integrierten Gesellschaft“ und fordert noch mehr innereuropäische Transferzahlungen und eine „nationale Grenzen durchkreuzende Interessenverallgemeinerung“ in noch dominanteren EU-Institutionen.

An sich ist die linke EU-Kritik die bedeutendste Debatte, die sich aufgrund des Beitrags Streecks herausgebildet hat. Bisher war dieser Diskurs (vielleicht mit Ausnahme der Schrift Hans Magnus Enzensbergers) ein Diskurs der Rechten.

 

2. Abstrakte Überflieger-Ökonomie

Ich teile die Analyse Streecks über das Verhältnis von (kapitalistischer) Wirtschaft und demokratischem Staat, auch sein Bedauern zum Niedergang der sozialen Marktwirtschaft . Aber sein „breiter Pinsel auf grosser Leinwand“ schaudert den Ökonomen. Einiges an seinen Behauptungen ist schlicht Glaubenssache: Seine „frankfurterianisch“ geprägten Thesen von der Krise des Kapitalismus, sein unterschwelliges Dogma: Staat = gut, und Privat = schlecht, sein nirgends klar definierter Demokratie-Begriff etwa.

Streeck fehlt die Sicht auf die Globalökonomie, zum Beispiel auf den globalen Konkurrenzdruck durch die chinesische (asiatische) Konkurrenz gegenüber Europa. „It’s China, stupid!“, müsste man zu den bedauerten Handelsbilanz-Ungleichgewichten sagen. Die Importe Europas aus China haben ein Produktionspotenziel au dem europäischen Kontinent von mindestens 30 Millionen Arbeitsplätze, wahrscheinlich eher 50 Mio Arbeitsplätze verdrängt. (Man denke an die Massenimporte von Bekleidung, Schuhen, Haushaltartikeln, Haushaltelektronik aus China resp. Ostasien. Vor zwanzig Jahren noch war dies die Produktion Südeuropas!). Streeck macht eine eurozentrische Nabelschau.

Streeck fehlt in seiner abstrakten Überflieger-Ökonomie jede Analyse und Einsicht in die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit. Der Begriff der Produktivität – Produktivitätsunterschiede sind immerhin eine zentrale Ursache der zwischenstaatlichen Disparitäten und der Verschuldung der Staaten – findet auf den 270 Seiten des Buchs von Streeck keine Erwähnung. Auch der Strukturwandel und die Länder-Disparitäten durch den Strukturwandel sind keiner Analyse wert. Dieser Mangel gehört zum „Elend der politischen Ökönomie“ (den findet man allerdings auch bei Flassbeck und andern eurozentrisch analysierenden Linken).

Streecks Analyse der „Krise des Steuerstaates“ (S.107 f) entbehrt jeder Einsicht in die Steuerumgehung, die Steuerschlupflöcher, die Korruption z.B. in Griechenland. Seine Beschreibung von Wirtschaftsschwächen und Staatsdefiziten der südeuropäischen Länder (etwa seine Beschreibung Griechenlands) verdrängt und ignoriert die Unfähigkeit und Korruptheit der (linken und rechten) Eliten Griechenlands, deren Ineffizienz und lamentable Arbeitsmentalität, die tiefe Produktivität der Griechen. Es ist zu simpel, alles den kapitalistischen Strukturfaktoren zuzuschreiben.

 

3. Vorschläge eher dürftig und hilflos

Streeck ist in seiner politischen Analyse sicher stark, eindrücklich dokumentiert und wortgewaltig – deshalb die Faszination seiner Schrift und seiner Vorträge. Aber er ist geradezu hilflos mit Vorschlägen: Wachstum soll „quantitativ wie qualitativ ein anderes sein als in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten“ (S.230). Ja, aber wie?

Fast bösartig oder zumindest verständnislos sind Streecks Vorwürfe betreffend Demokratiemangel und Technokratie gegenüber den Währungsbehörden (z.B. S.214). Gewiss sind die Währungsbehörden wie die EZB (oder die SNB) demokratisch nicht gleichermassen legitimiert. Doch immerhin haben diese staatlichen Währungsinstitutionen (EZB, Fed, IWF, Troika, auch die SNB) das internationale Finanzsystem vor dem Kollaps bewahrt, dieses stabilisiert und eine Wiederholung der Grossen Wirtschaftskrise nach dem Muster von 1929 und Folgejahren verhindert. Gewiss ist die Sanierung der aufgelaufenen Schulden teilweise falsch gelaufen. Aber kann die rasche Stabilisierung des internationalen Finanzsystems überhaupt je durch demokratisch gewählte Institutionen wie Regierungen oder Parlamente gesteuert werden? Nicht, weil bei ihnen die Kompetenz fehlte, aber jede Krisenintervention bei den Finanzmärkten ist nur wirksam, wenn sie unangekündigt erfolgt und geheim vorbereitet wird. Auch die Technokratie-Analyse von Habermas müsste auch diesen Gesichtspunkt in Betracht ziehen.

Ich verstehe und teile Streecks „Lob der Abwertung“ als Denkkonzept (S.246): Im Grunde müssten Griechenland oder andere südeuropäischen Staaten jetzt ihre Währung abwerten können, damit wären unzählige soziale und demokratiepolitische Fragen leichter lösbar. Diese Ansicht ist an sich Gemeingut unter den Ökonomen. Nur können sie es nicht ohne Austritt aus der Währungsunion, und einen solchen Austritt kann (vielleicht mit einer Ausnahme Griechenland) niemand ernsthaft in Erwägung ziehen.

Am interessantesten ist Streecks Idee (die er von Scharpf abkupfert) eines europäischen Bretton Woods, also einer Art von europäischem Währungsfonds in Anlehnung an die ursprünglichen Ideen Keynes’ mit einer denationalisierten Ankerwährung und mit Rückkehr zu einem Set von Kapitalverkehrskontrollen. Die beachtlichen, hochgradig interventionistischen Pläne für eine Bankenunion und eine Fiskalkontrolle gehen allerdings in diese Richtung. Sie sind erst im Aufbau begriffen und bedeuten zweifellos „mehr Europa“, wie dies Habermas gefordert hat.

Streecks Analyse, dass die Europäische Währungsunion die Völker nicht stärker zusammenbringt, sondern politisch stärker spaltet, muss unwidersprochen im Raum stehen bleiben.

23. Januar 2014

Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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