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Arbeitsstatistik in der Schweiz : wird wirklich gezählt, was zählt?

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 28. Januar 2015

Arbeit ist den Schweizern wichtig. Gegenüber Bestrebungen, den Arbeitstag auf weniger als acht Stunden zu verkürzen, sind sie skeptisch: gerade mal die Hälfte der Befragten von „Point de Suisse“ sprach sich im Juni 2014 dafür aus, und 2012 wurde die Initiative für sechs Wochen Ferien hochkant verworfen (zu zwei Dritteln und in allen Kantonen). Tatsächlich ist Arbeit, genauer Erwerbstätigkeit, nicht nur unter Wertgesichtspunkten wichtig. Vieles im Leben hängt davon ab, worin sie besteht und unter welchen konkreten Bedingungen sie ausgeübt wird. Ohne Arbeit und das von ihr stammende Einkommen könnte der grösste Teil der Bevölkerung nicht leben und die Wirtschaft nicht funktionieren. Auch „wer“ man ist, wie man von den Anderen angesehen wird und wie man sich in der Gesellschaft positioniert, wird wesentlich von ihr beeinflusst. Die Frage liegt deshalb auf der Hand, wie die offizielle Statistik dieses zentrale Phänomen moderner Gesellschaften abbildet. Beschränken wir uns hier auf die nationale Statistik, die dabei mit Abstand die Hauptrolle spielt und eine Vielzahl unerlässlicher Informationen liefert, seit einiger Zeit endlich auch über unbezahlte Arbeit. Aus Raumgründen konzentrieren wir uns aber auf bezahlte Arbeit, wohl wissend, dass diese auf verschiedene Weisen mit unbezahlter Arbeit – in der Familie, in der Verwandtschafts- und Nachbarschaftshilfe, im Vereinsleben, in der Politik usw. – verbunden und auch von ihr abhängig ist.

„Arbeit und Erwerb“ ist eine der 21 grossen Themengruppen, die auf der Homepage des Bundesamts für Statistik zum Weitersuchen einladen. Verfolgt man diese Spur, so findet man eine breite Palette nicht nur von Einzelinformationen, sondern auch von Erhebungen, aus denen sie hervorgehen (Beispiele: die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung SAKE, die Erwerbstätigenstatistik ETS, die Lohnstrukturerhebung LSE, die Beschäftigungsstatistik BESTA, die Eidgenössische Betriebszählung BZ und viele andere mehr).

Bei näherem Zusehen fällt jedoch auf, dass Erwerbstätigkeit praktisch nur als Menge ohne spezifischen Inhalt oder qualitative Unterschiede bemessen wird: wie viele Personen sind erwerbstätig, wie viele davon voll- oder teilzeitlich, in wie viele Stellen teilen sich die Erwerbstätigen, wie verteilt sich all dies auf Branchen und Wirtschaftssektoren, auf Betriebe verschiedener Grössen, auf das nationale Territorium, auf die Geschlechter, zwischen Einheimischen und Eingewanderten. Ergänzt wird das Panorama durch die Erhebung von Ausbildungsberufen und ausgeübten Berufen. Was die Leute tun, kommt dabei nicht vor. Welches Bild entsteht so von Erwerbsarbeit? Das Raster, das dieser Beschreibung von Arbeit zugrunde liegt, entspricht einer auf die Menge orientierten ökonomischen Optik: Arbeit wird als vorwiegend mengenmässig interessierender Produktionsfaktor beschrieben, als „Menschen mal Zeit“, nicht als qualitativ unterschiedlich zu fassende Grösse. So konzipierte Statistiken sagen nichts darüber aus, worin die getane Arbeit besteht, wie sie organisiert ist oder in welchem Bezug sie auf die komplexe Wirklichkeit der sie ausübenden Menschen steht, ganz zu schweigen davon, welche subjektive Bedeutung sie für diese hat. Ganz so, als ob sie entweder ein durchgehend gleichförmiges Phänomen wäre, das man nur nach Umfang und Verteilung beschreiben kann – wie Geld oder physikalische Energie – oder aber eine black box, die nicht aufgeschlüsselt zu werden braucht. Weil der Inhalt gar nicht interessiert? Oder nicht interessieren soll? Oder weil man nicht richtig weiss, nach welchen Kriterien er zu beschreiben wäre?

Es gibt wissenschaftliche Disziplinen, die dazu Konzepte und Messverfahren liefern. In den 80er Jahren lief eine internationale Diskussion über Sozialindikatoren, die auch die Qualität der Arbeit betraf. Viele der erarbeiteten Indikatoren sind seither in regelmässige – nationale und internationale – Erhebungen eingegangen; die Schweiz ist dabei in einen beträchtlichen Rückstand geraten. So gibt es etwa seit 1990 eine europaweite periodische Erhebung über Arbeitsbedingungen, die heute mehr als die 27 Ländern der Europäischen Union umfasst, bei der aber die Schweiz fehlt. Für 2010 hat das Seco eine Vergleichserhebung veranlasst, allerdings mit einer bescheidenen Stichprobe von lediglich 1006 Erwerbstätigen, die keine auch nur minimal nuancierten Analysen erlaubt (aber zeigt, dass die Schweizer Arbeitswelt sich insgesamt im Europavergleich nicht schlecht ausnimmt). Zum Vergleich: die offizielle Schweizerische Arbeitskräfteerhebung SAKE des Bundesamts für Statistik wird vierteljährlich durchgeführt und beruht auf 126’000 Befragten pro Jahr.

Wie vergleicht sich das den Arbeitsstatistiken zugrundeliegende Raster mit dem Bild, das etwa die Arbeitspsychologie oder die Arbeitssoziologie zeichnen? Von ihnen stammen Leitbegriffe für eine menschenwürdige, entwicklungsfördernde Arbeitsgestaltung – beispielsweise die bekannte Trias von Job enrichment, job enlargement und job rotation. Sie umreisst eine Alternative zur rein kostenreduzierend konzipierten Aufstückelung der Arbeit in Portionen, die ohne jede Qualifikation erfüllt werden können und bei denen dann vielleicht wirklich nur noch die reine Menge beschreibenswürdig wäre. In einer Sicht, die Arbeit als menschliche Tätigkeit und nicht nur als buchhalterische Grösse fasst, interessiert etwa auch die inhaltliche Komplexität der Tätigkeit – um eine etwas verstecktere Komponente von Arbeit ins Blickfeld zu rücken, bei der es darum geht, wie psychisch anspruchsvoll eine Tätigkeit ist. Die Arbeitenden sind relativ leicht in der Lage, über diesen Aspekt quantifizierende Auskunft zu geben, etwa, indem sie schätzen, in welchen Anteilen ihre Arbeit eine Beschäftigung mit physischen Dingen, mit Symbolen oder mit anderen Menschen einschliesst. (Wenn man von einem Minimalwert von 60%  für das Vorherrschen einer dieser drei Arbeitsarten oder Komplexitätsstufen ausgeht, so ist nach den Daten der Befragung MosaiCH von 2013 die Arbeit von 27.9% der Erwerbstätigen vorwiegend manuell, bei 31.5% beruht sie vor allem auf dem Umgang mit Symbolen und 17.0% arbeiten in erster Linie in und mit sozialen Beziehungen; 23.7% haben gemischte Arbeitskonfigurationen.)

Von ihrer inhaltlichen Komplexität hängt unter anderem das Potential der Arbeit ab, die sie Ausübenden persönlich zu befriedigen und zu motivieren, ihre kognitive Entwicklung und Selbststeuerung zu fördern, ihre Tätigkeiten und Interessen in anderen Lebensbereichen positiv zu beeinflussen (beispielsweise, ob sie in ihrer Erziehungspraxis eher den Gehorsam der Kinder oder ihre Selbständigkeit in den Vordergrund stellen – dieselbe Auswirkung hat sie auch auf das Verhalten in der Arbeitswelt selbst). Diese Faktoren beeinflussen in Rückwirkung ihrerseits die Qualität der geleisteten Arbeit, eine wirtschaftlich nicht zu vernachlässigende Grösse. Ebenfalls wichtig sind in diesem Zusammenhang die isolierte oder in Teams integrierte Situation der Arbeitenden sowie ihre sonstigen Arbeits- und auch Anstellungsbedingungen bis hin zu Weiterbildungsmöglichkeiten und persönlichen Beeinflussungsmöglichkeiten der Arbeitszeit und -organisation (etwa zur Verbindung der Erwerbstätigkeit mit Familienpflichten oder Weiterbildung).

Sehr wenig von all dem hat im Erhebungsraster der offiziellen Arbeitsstatistik Platz. Sie scheint unausgesprochen davon auszugehen, dass ein eng definierter ökonomischer Blick zur angemessenen Erfassung des Phänomens Arbeit in der heutigen Gesellschaft ausreicht, auch zuhanden der Politik, für die solche Statistiken ein unerlässliches Steuerungsinstrument sind.

Was hier gesagt wird, ist nicht etwa als Kritik am Bundesamt für Statistik aufzufassen. Das BfS hat gerade im Bereich Arbeit in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Es ist der wichtigste Lieferant von Informationen über die Arbeitswelt in der Schweiz. Dank seinen Erhebungen sind in den internationalen Statistiken die Einträge, bei denen Angaben zur Schweiz fehlen, immer weniger geworden. Nur: sein spezifisches Aufmerksamkeitsraster widerspiegelt vor allem die Interessen seiner gewichtigsten Kunden, zu denen vor allem die eidgenössische Verwaltung und das Parlament sowie die Wirtschaft zählen (das Bundesstatistikgesetz erwähnt in seinem Zweckartikel fünf Zielgruppen: die Kantone, die Gemeinden, die Wirtschaft, die Sozialpartner und die Öffentlichkeit – der Bund fehlt merkwürdigerweise in der Aufzählung). Dieses Raster steuert die Auswahl der erhobenen und präsentierten Informationen. Durch seine Selektivität wirkt es ausserdem bestärkend zurück auf die Aufmerksamkeitsstruktur der BenützerInnen statistischer Informationen – was nicht in den Statistiken auftaucht, bleibt weitgehend unsichtbar oder legt zumindest den Schluss nahe, sein Fehlen sei durch Unwichtigkeit gerechtfertigt. Viele Datenkonsumenten vertrauen allzu leicht der Maxime „man zählt, was zählt“, und auch dem trügerischen Umkehrschluss, das nicht Gezählte zähle eben nicht. Insofern wirkt das statistische Raster ein Stück weit weltbildprägend, gerade weil die politische und auch mediale Rolle der amtlichen Statistik so gewichtig ist.

Dass in Sachen Arbeit die Sichtweise der Statistik in erster Linie makroökonomisch ist, spezifische Gehalte und Bedingungen verschweigt und damit bevorzugt die Interessen von Arbeitgebern und Inverstoren bedient, ist problematisch. Aus demokratischer Sicht sollte das offizielle statistische Aufmerksamkeitsraster zwischen den Interessenlagen verschiedener Stakeholders besser ausgeglichen werden, damit die schweizerische Gesellschaft und besonders ihre Arbeitswelt nicht nur für ausgewählte – und bereits privilegierte – Gruppen transparent wird.

 

Januar 2015

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. em. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Bern; Prof. Dr. Thomas Kesselring, Universität Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Peter Seele, Universität Lugano; Prof. em. Dr. Dr. h.c. Beat Sitter-Liver, Philisophischer Ethiker, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., MAS MDI - Managing Diversity, Zürich.

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