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Das Verursacherprinzip in die Sozialpolitik einbauen

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Von Kontrapunkt* vom 31. März 2008

Im Umweltbereich findet das Verursacherprinzip steigende Akzeptanz. Seine Berechtigung leuchtet unmittelbar ein, auch wenn seine Umsetzung erst im Gange ist. Akteure, deren Verhalten die Umwelt schädigt, sollen dafür Verantwortung, sprich die Kosten seiner negativen Folgen tragen. In Sachen Sozialpolitik ist dem ganz anders. Teils wird die Frage der Verantwortung gar nicht gestellt, so im Fall der Kranken-, Alters- oder Invaliditätsversicherung, teils wird sie apriorisch durch die Unterstellung beantwortet, das Opfer sei selber schuld, z.B. bei der Behandlung von Langzeitarbeitslosigkeit. Diese zweite Variante ist besonders empörend, aber die erste ist nicht weniger unsachgemäss. Die Versicherung sozialer Risiken entspricht dem richtigen Grundsatz der kollektiven Verantwortlichkeit. Deren undifferenzierte Anwendung erlaubt aber vielen Problemverursachern, ungeschoren Verhaltensweisen weiterzuführen, die Externalitäten in Form sozialer Kosten verursachen. Das Problem der gegenwärtig praktizierten Sozialpolitik ist deshalb weniger, dass sie ihre Mittel durch zu wenig selektive Verteilung verschwendet – was ihr oft vorgeworfen wird – als dass sie potentielle Ressourcen vernachlässigt, indem sie es unterlässt, die Kosten ihrer Tätigkeit jenen Sektoren und Akteuren aufzubürden, welche die Probleme hervorbringen, die sie zu bewältigen hat. Um Missverständnissen vorzubeugen: es geht hier nicht darum, einmal mehr die kollektive Verantwortung durch eine generalisierte individuelle – die so genannte Eigenverantwortung der vom Schaden Betroffenen – zu ersetzen ; diese dient allzu oft nur als « Rechtfertigung » für die Verweigerung von Solidarität. Vielmehr soll ein beträchtlicher Teil der Finanzierung der Sozialpolitik umorientiert werden, weg von den Opfern hin zu den Verursachern, weg von den Schäden hin zur Risikogenese. Es geht darum, das Verursacherprinzip auf systemkonforme Weise in die Finanzierung der Sozialpolitik einzubauen.

Das gegenwärtige Versicherungssystem subventioniert die Auslagerung von Problemen aus jenen gesellschaftlichen Bereichen, in denen sie entstehen. Es trägt Kosten, welche der Verursacher tragen sollte und stabilisiert damit jene Praktiken, welche die Probleme schaffen. Die Beteiligung der Verursacher sozialer Kosten an der Finanzierung der Problemlösung soll demgegenüber ein finanzielles Feedback herstellen, das die Schäden  an ihre Entstehungsbedingungen zurückbindet. Das schafft einerseits eine starke Motivation, solche Praktiken zu vermeiden und erhöht die Effizienz der Sozialpolitik durch einen Anreiz zur Prävention. Andererseits wird die Finanzierungsgrundlage sozialer Massnahmen und Institutionen ausgeweitet; das entlastet die Zivilgesellschaft und die öffentlichen Finanzen von einem Teil der Kosten sozialer Reparaturmassnahmen. Wohl gibt es bereits vereinzelt Elemente, die dieser Logik folgen, beispielsweise die Franchisen oder die Kostenbeteiligung in der Krankenversicherung, aber sie zielen einseitig auf die Patienten ab, als ob man im Bereich der medizinischen Leistungen den « Konsumenten » die Verantwortung für eine Nachfrage zuschreiben könnte, die weitgehend von den Leistungserbringern selbst geschaffen wird.

Soziale Probleme verlangen reparierende Interventionen. Diese werden von Institutionen erbracht, die letztlich von den Steuerzahlern und Klienten bezahlt werden. Solche Probleme werden grösstenteils nicht von einer unkontrollierbaren Natur hervorgebracht, sie entstehen auch nicht diffus und anonym aus einem unfassbaren gesellschaftlichen Zusammenhang, sondern haben konkrete Ursachen. Das ist beispielsweise der Fall für einen grossen Teil der immer häufiger diagnostizierten psychosomatischen Erkrankungen. Es ist noch deutlicher der Fall für Berufskrankheiten und Berufsunfälle (in diesem Bereich tauchen allmählich punktuelle Anwendungen des Verursacherprinzips auf, etwa in der SUVA, aber erst zögerlich und oft um den Preis langwieriger und kostspieliger Haftpflichtprozesse). Es gilt ebenfalls für individuelles Risikoverhalten (und die Produzenten, die es erleichtern) wie Alkoholkonsum (die SFA schätzt seine jährlichen sozialen Kosten auf 6.7 Mrd Franken), Tabakkonsum (soziale Kosten 10.7 Mrd Franken) oder stärker « physische » Probleme wie Ausstoss von Feinstaub. Es gilt schliesslich für eine Reihe anderer Beispiele, die oft verschlungene und schwer unterscheidbare Entstehungsbedingungen haben, wie Arbeitslosigkeit (Schätzung der externalisierten Kosten pro Entlassung: 46’000 Franken), Verkehrsunfälle, Burnout, Abbau der Beschäftigungsfähigkeit durch das Älterwerden usw.

Die Umorientierung der Finanzierung der Sozialpolitik soll nicht dazu führen, die ganze Last auf den privaten Sektor bzw. die Wirtschaft umzulagern, das wäre ebenso unrealistisch wie ungerecht, sondern vielmehr dazu, eine ausgeglichene Kostenverteilung zwischen dem unverzichtbaren Sozialstaat und den die Risiken verursachenden Akteuren jeglicher Art zu erreichen. Die Kosten jenes Teils der Probleme, der durch identifizierbare individuelle oder kollektive Akteure verursacht wird (Einzelpersonen, Unternehmungen, Verwaltung, Branche), sollen nach dem Verursacherprinzip von diesen getragen werden, der nicht zurechenbare Teil von der Allgemeinheit nach dem Prinzip der kollektiven Verantwortung oder der  Solidarität.

Die praktische Umsetzung dieser Finanzierungsstrategie wirft freilich ernstzunehmende Probleme auf. Verantwortungsträger zu identifizieren und eine für Kostenpflichtigkeit hinreichende Verantwortung festzustellen fällt nicht immer leicht und ist für gewisse Situationen überhaupt nicht möglich ; ein ausgewogenes und differenziertes Vorgehen ist daher nötig. Die Kausalketten vieler sozialer Probleme sind komplex und verknüpfen eine Mehrzahl von Faktoren. Das Hauptgewicht muss, wie in anderen Fällen juristischer Verantwortungszuweisung, auf der unmittelbaren Zurechnung eines Schadens an jene Handlung oder Massnahme liegen, die das Risiko hervorbringt.

Die so erhobenen Beträge dürfen keine zusätzliche Abgabe werden, mittels derer der Staat « Schädigungsrechte » an jene verkauft, die sie sich leisten können. Sie sollen ein Bonus/Malus-System alimentieren, das risikovermeidende Verhaltensweisen prämiert.

Wird bei einem solchen System nicht die Verursacherbelastung, soweit sie die Privatwirtschaft betrifft, einfach auf die Preise und damit auf die Konsumenten abgewälzt, so dass sich die sozialen Ungleichheiten verschärfen ? Eine solche Überwälzung sollte nur in dem Masse stattfinden, als die Abnehmer keine Alternative haben (Extremfälle : Monopol, Drogenabhängigkeit). Genügend differenzierte Anwendungsregeln können derartige Situationen grösstenteils vermeiden.

Vor allem darf die zusätzliche Einführung des Verursacherprinzips nicht den Grundsatz der Solidarversicherung gegen soziale Risiken unterlaufen. Damit dies nicht geschieht, sind interdisziplinäre Problemanalysen zur Begründung der Kostenverteilung ebenso nötig wie der geduldige Aufbau eines politischen Konsenses. Das Ziel, die Sozialpolitik in Richtung eines menschlich gerechteren und wirtschaftlich effizienteren Funktionierens umzubauen, lohnt zweifelsohne die dafür notwendige Mühe.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 30-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet; Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

Vgl. das Buch von Esteban Piñeiro & Isidor Wallimann, Sozialpolitik anders denken. Haupt, Bern 2004.

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