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Der Finanzmarkt ist ein Service Public

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Von Kontrapunkt* vom 28. Januar 2010

Die Finanzmarktkrise hat auch ihr Gutes. Sie hilft uns, das Verhältnis von Markt und Staat zu klären. Der demokratische Rechtsstaat ist nicht nur Rahmen, sondern auch legitimierende Grundlage der Wirtschaft.  Im Fall des Finanzmarktes ist er sogar mehr: Er ist Garant für das Funktionieren unserer Geldwirtschaft. Während Staat und Recht ansonsten nur eine Polizeiaufsicht über die Fairness  im Markt auszuüben haben, müssen sie hier zusätzlich dafür sorgen, dass der Markt überhaupt funktioniert und dass seine Wirkungen das öffentliche Interesse wahren. Der Staat hat hier eine Gewährleistungsverantwortung, nicht nur eine Polizeifunktion. Das ist ein ganz anderes Paradigma für die Aufgabe der Politik.

Der Finanzmarkt ist kein gewöhnlicher Markt

Die herrschende Volkswirtschaftslehre behandelt den Finanzmarkt grundsätzlich wie einen gewöhnlichen Markt, in welchem der Vorteilstausch nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage über den Wert von Geld und Kapital bestimmt. Es sollen die gleichen Regeln gelten wie auf dem Markt für Güter und Dienstleistungen. Die Juristen folgen dieser ökonomischen Lehre und behandeln die Banken und Börsen als Unternehmen, welche sich für ihre privatwirtschaftliche Tätigkeit auf die Wirtschaftsfreiheit berufen können und damit durch ein liberales Grundrecht vor dem Zugriff des Staates geschützt sind. Banken und Börsen unterstehen zwar besonderen Gesetzen, welche sie regulieren, aber grundsätzlich ist das nichts anderes, als was wir von der Marktpolizei her kennen: Es braucht für jeden geordneten Markt eine gewisse Polizeiaufsicht.

Die Finanzbranche ist aus dieser herrschenden Sicht eine privatwirtschaftliche Tätigkeit, gleich wie sie der Bäcker um die Ecke oder der Gastwirt an der Kreuzung wahrnimmt: Diese unterstehen einem Lebensmittelinspektorat, weil ihre Tätigkeit die öffentliche Gesundheit gefährden kann und die Konsumenten selbst nicht in der Lage sind, die Gefahren, welche ihnen aus verdorbenen Lebensmitteln erwachsen können, rechtzeitig wahrzunehmen. Bei den Banken geht es bei dieser Betrachtungsweise letztlich um das Gleiche: Ziel ist der Konsumentenschutz, hier als Anlegerschutz oder als Schutz der Realwirtschaft vor Risiken im Geld- und Kreditmarkt.

Die Branche nennt sich denn auch selbst „Finanzindustrie“, ganz als ob sie ein Produkt herstellen würde, welches etwa der Maschinenindustrie vergleichbar wäre. Das trifft jedoch nicht zu. Treffender ist der Ausdruck „Finanzdienstleistung“. Die Branche erbringt eine Dienstleistung, welche im Kernbereich eine Reduktion von Transaktionskosten zwischen Anlegern und Investoren herstellt. Wenn ich mehr Geld habe, als ich selbst verbrauche, möchte ich das sicher und gewinnbringend anlegen. Damit ich nicht selbst mit allen Produzenten und Händlern Kontakt aufnehmen muss, welche für ihr Unternehmen von Dritten Geld brauchen, kann ich zu einer Bank (und einer Börse) gehen, welche mir die Anlage vermittelt. Das gleiche Interesse am Finanzsektor hat der Unternehmer, welcher nach Leuten sucht, welche ihm Geld leihen oder mit ihm zusammen das Risiko seiner Firma tragen könnten. Der Finanzsektor ist somit in einem engen Sinne unproduktiv, hilft aber bei der rationellen Abwicklung von Geldgeschäften und verdient für diese Senkung der Transaktionskosten gewiss einen Anteil am Zuwachs an Wohlstand, den er ermöglicht. Er bleibt aber in wesentlichen Teilen ein Hilfsmittel, eine Infrastruktur der Realwirtschaft, weil er diese nur mit der notwendigen „Energie“ – dem Geld – versorgt, damit sie ihren Motor zum Laufen bringen kann.

Der Finanzmarkt ist Teil der Wettbewerbsordnung

Der Finanzsektor ist damit einem „Inneren Dienst“ der Wirtschaft vergleichbar, welcher Voraussetzungen schafft, auf denen das Wirtschaften beruht.  Geld und Kredit sind Institutionen, welche der Staat der Wirtschaft zur Verfügung stellt, genau so wie er ihr garantiert, dass Strassen, Elektrizität oder Postdienste angeboten werden, damit sie sich entfalten kann. Jeder Staat errichtet eine Nationalbank, welche die Wirtschaft mit dem nötigen Bar- und Buchgeld versorgt. Die Finanzmarktkrise zeigt deutlich, dass das auch Kredite und Bürgschaften umfasst, für welche die Zentralbank Risiken auf sich nimmt, welche die Geschäftsbanken nicht selbst tragen wollen. Geld und Kredit sind die „Energieversorgung“ des Kapitalmarktes. Sie gehören zur Infrastruktur, auf welche die Realwirtschaft zählen können muss. Sie dürfen daher nicht ganz dem egoistischen Interessenspiel der Marktteilnehmer überlassen werden, sondern müssen im Gesamtinteresse der Allgemeinheit nach Grundsätzen der Solidarität und Fairness dem Markt vorgegeben werden. Sie sind Teil der übergeordneten Ordnungspolitik, nicht der Interessenpolitik. Sie gehören zu den Spielregeln, nicht zum Spiel des Marktes.

Der Fehler der bisherigen privatwirtschaftlichen Marktordnung, der mit der Krise erkennbar wird, ist, dass die bisherige Konzeption den Geld- und Kreditmarkt als Bestandteil der privaten Konkurrenz am Markt verstanden hat. Der Finanzmarkt wurde als privater Bereich innerhalb des Wettbewerbs der Märkte behandelt. Dabei ist er wesentlich ein Teil der Wettbewerbsordnung, welche über die Rahmenbedingungen entscheidet, unter welchen sich die private Konkurrenz abspielen kann und darf.  Das Geld, mit dem der Finanzmarkt spielt, wird ihm ursprünglich vom Staat zur Verfügung gestellt. Stillschweigend setzt der Staat dabei voraus, dass dieses Geld so verwaltet werde, dass es allen als Zahlungs- und Kreditmittel für die privaten Geschäfte dient. Eigentlich wird dabei ein Leistungsauftrag vorausgesetzt, der aber nicht ausgesprochen ist, nämlich ein Auftrag zur Grundversorgung mit Finanzdienstleistungen – ganz so, wie Bahn-, Post-  oder Telefondienste einen Grundversorgungsauftrag zu erfüllen haben. Der Finanzmarkt ist damit ein Service Public, welcher nicht nur private, sondern auch öffentliche Interessen wahrzunehmen hat. Er ist sogar Bestandteil unseres Ordre Public, d.h. der fundamentalen Rahmenordnung, welche Staat und Recht nach den Grundsätzen einer liberalen und zugleich gerechten Ordnung des Zusammenlebens dem Markt vorgeben.

Der blinde Fleck des Glaubens an den Markt

Vertreter einer Selbstheilungskraft des Marktes werden dem entgegenhalten, dass der Markt eine gesellschaftliche Ordnungskraft sei, welche nur subsidiär durch den Staat korrigiert werden dürfe. Es sei übertrieben, aus der aktuellen „Ausnahmesituation“ auf eine grundsätzliche Fehlkonzeption zu schliessen. Der Markt werde mittelfristig alles wieder richten. Wer diese Sicht vertritt, will den blinden Fleck nicht anerkennen, der ihm den Blick auf die Rangordnung der Werte eines liberalen – d.h. auf der gleichen Freiheit aller Menschen gründenden – Weltbildes verdeckt. Er sieht am Liberalismus nur noch den Freipass für Egoismus statt die Verantwortung für eine Ordnung, welche auf gegenseitigen Rechten und Pflichten freier Individuen beruht. Er will nicht sehen, wie die faktischen Machtverhältnisse sein Ideal verzerren, falls er nicht bereit ist, sein „freies Spiel der Interessen“ einer Ordnung mit fairen Spielregeln zu unterstellen. Er kann zwar heute kaum mehr bestreiten, dass der Finanzmarkt die von Geld und Kredit abhängige Realwirtschaft nach spekulativen Interessen steuert, ohne von dieser selbst wiederum hinreichend kontrolliert werden zu können. Er muss zwar insgeheim froh sein, dass der Staat heute bereit ist, die Verluste kollektiv zu tragen. Er will aber die Gewinne weiterhin privatisiert wissen. Er macht seinen Individualismus damit zum Schmarotzer des Kollektivs.

Der – sogenannt neoliberale – Vertreter eines „freien Marktes“, der den Finanzmarkt heute noch vor staatlicher Steuerung bewahren will, wird daher klug tun, sich gar nicht so grundsätzlich zu äussern, wie oben angenommen. Er wird sich – insbesondere, wenn er juristisch geschult ist – lediglich auf die in der Schweiz geltende Verfassungsordnung berufen und uns versichern, die Behauptung, der Finanzmarkt sei ein Service Public, verstosse gegen den „ordnungspolitischen Grundentscheid der schweizerischen Wirtschaftsverfassung für eine prinzipiell wettbewerbsgesteuerte Privatwirtschaft“. Der schweizerische Ordre Public habe eben gerade zum Inhalt, dass die Geldwirtschaft im wesentlichen Sache der Privatwirtschaft sein solle. Wer wie viel Geld und Kredit erhalte, sei nicht Sache des Staates, sondern des Wettbewerbs. Unsere Bundesverfassung unterstelle die Banken in Artikel 98 nur einer polizeilichen Regulierung, überlasse sie sonst aber der Privatwirtschaft (eben wie den Bäcker und den Gastwirt). Das Monopol, das der Bund in Artikel 99 der Bundesverfassung zugesprochen erhalte, betreffe nur das Bargeld, also das Drucken von Münzen und Notenscheinen. Die Geldpolitik, welche die Nationalbank betreiben dürfe, beschlage nur die Funktion des Geldes als Zahlungsmittel, nicht aber als Medium des Kapitalmarktes. Der Teilnehmer an diesem Markt sei durch das Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit vor staatlichen Eingriffen geschützt.

Falsche faktische Voraussetzungen

Das alles ist juristisch vertretbar, entspricht es doch nicht nur der herrschenden Meinung, sondern auch dem historischen Willen des Gesetzgebers und der bisherigen Politik der Behörden. Zumindest die letzteren haben nun aber eine grundsätzliche Kehrtwende gemacht. Die Finanzmarktkrise macht deutlich, dass sowohl die Verfassungsgebung wie die juristische Dogmatik und die politische Praxis von faktischen Voraussetzungen ausgegangen sind, die nicht (mehr) zutreffen. Eine zeitgemässe Interpretation nach Sinn und Zweck der Verfassung kann zu anderen Schlüssen gelangen: Das „Geld- und Kreditwesen“ (so der Begriff in Artikel 100, Absatz 3 der Bundesverfassung) muss als Einheit verstanden werden; unter heutigen Verhältnissen müssen die Begriffe Geld und Kredit umfassend als jene Steuerungsmedien verstanden werden, mit welchen der Finanzmarkt die Realwirtschaft beeinflusst. Die im Monopol des Bundes liegende Geldpolitik muss auch Kreditpolitik in einem weiten Sinne umfassen. Nicht nur der Zahlungsverkehr ist von hinreichendem öffentlichen Interesse, sondern der ganze Kapitalmarkt gehört zur staatlich festzulegenden Rahmenordnung der privaten Wirtschaft. Der Bund ist somit verfassungsrechtlich befugt, das Banken- und Börsenwesen nicht nur im Sinne polizeilicher Schutzgüter zu regulieren, sondern sie auch so weit zu steuern, als dies im Interesse einer lebensdienlichen Privatwirtschaft erforderlich erscheint.

Damit ist freilich erst gesagt, was der demokratische Rechtsstaat in der Schweiz in Bezug auf den Finanzmarkt tun darf – nicht was er tun kann noch was er tun soll. Was er tun kann, hängt zum einen davon ab, wie sich der beweglichste aller Märkte durch Regulierungen überhaupt steuern lässt. Sodann  hängt es weitgehend von der internationalen Verflechtung des Finanzmarktes ab: Alle Steuerungsversuche einer schweizerischen Finanzmarktpolitik müssen international abgestimmt werden. Was er tun soll, muss ferner sorgfältig abgewogen werden: Wie alles staatliche Handeln wird auch die Steuerung des Finanzmarktes verhältnismässig sein müssen, also öffentliche und private Interessen gegeneinander abzuwägen haben. Der Bundesgesetzgeber kann aber bei der Ordnung des Banken- und Börsenwesens einen politischen Ausgleich schaffen, welcher den neuesten Erkenntnissen der Gefährlichkeit eines privaten Finanzmarktes entspricht. Insbesondere kann er den Finanzmarkt als Service Public seiner Gesamtverantwortung unterstellen, die Erfüllung dieser Verantwortung aber an Behörden und Private delegieren. Dabei kann er diesen einen Leistungsauftrag erteilen, an welchen sie auch im privaten Wettbewerb gebunden bleiben.

Die Gewährleistungsverantwortung des Staates

Damit ist klar, dass Service Public nicht Verstaatlichung heisst. Staatsverantwortung zwingt nicht zu Etatismus. Das Muster für die angemessene Aufgabenteilung zwischen Staat und Markt gibt vielmehr das Konzept des Gewährleistungsstaates ab: Der Finanzmarkt ist eine öffentliche Aufgabe, die von Privaten erfüllt wird. Der Staat hat dabei zu gewährleisten, dass der Finanzmarkt funktioniert. Er muss die Leistung des Finanzsektors aber nicht selbst erbringen. Das Geld- und Kreditwesen bleibt im Rahmen des öffentlichen Auftrags Sache der privaten Banken und Börsen. Sie tragen dafür die Erfüllungsverantwortung. Wenn sie aber in ihrer Verantwortung versagen, greift die Auffangverantwortung des Staates: Dann muss er selbst eingreifen und die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe sicherstellen. Das ist genau das, was heute geschieht, wenn die Staaten als „Retter“ der Grossbanken auftreten. Nur tun sie das ohne ein Konzept für ihr grundsätzliches Verhältnis zum Markt.

Gefordert ist ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von Staat und Markt, soweit es um den Finanzmarkt geht: Der Finanzmarkt muss – im Interesse der privaten Marktwirtschaft – durch den demokratischen Rechtsstaat gesteuert werden. Die zur Zeit von vielen Seiten geforderte neue Finanzmarktverfassung muss nicht vom alten Paradigma der polizeilichen Regulierung eines privaten Marktes ausgehen. Sie kann zum Paradigma der Staatsverantwortung wechseln, welche so weit wie möglich mit privaten Mitteln wahrgenommen werden soll.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 22-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. em. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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