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Für eine gerechte und dauerhafte Finanzierung der Sozialversicherungen

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Von Kontrapunkt* vom 1. Januar 2010

Am 1. Januar 2011 werden die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 0.2 Prozent auf 2.2 Prozent der Löhne ansteigen. Zudem wird vorübergehend ein Solidaritätsprozent für die Löhne zwischen 126’000 und 315’000 Franken erhoben. Zum selben Zeitpunkt wird der Beitragssatz für die Lohnersatzversicherung von 0.3 auf 0.5 Prozent angehoben. Im Kanton Waadt hat der Grosse Rat soeben Ergänzungsleistungen für Familien mit niedrigen Einkommen angenommen, die ebenfalls mit Lohnbeiträgen finanziert werden. Lohnbeiträge tragen generell auf  zentrale Weise zur Finanzierung der Sozialversicherungen bei. Diese Finanzierungsweise hat nun aber negative Effekte, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht, als auch im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit.

Die meisten Sozialversicherungen befinden sich in einem labilen finanziellen Gleichgewicht. Der Umfang ihrer Leistungen steigt schneller als jener ihrer Ressourcen, d.h. in erster Linie der Lohnprozente. Insbesondere die verlängerte Lebenserwartung, die steigende Langzeitarbeitslosigkeit, und die Zunahme der Invaliditätsfälle erhöhen die finanziellen Anforderungen an die Versicherungen. Gleichzeitig bremsen die wirtschaftliche Stagnation, die staatlichen Budgetkürzungen und der Rückgang des Anteils der Beschäftigten an der Bevölkerung die entsprechende Entwicklung der Ressourcen.

Die kürzlich verabschiedeten und laufenden Revisionen der verschiedenen Zweige der Sozialversicherungen folgen im allgemeinen demselben Szenario, wie das Beispiel der kürzlich vorgenommenen Revision des Bundesgesetzes zur Arbeitslosenversicherung zeigt: einerseits geht es um eine selektive Reduktion der Leistungen, andererseits um eine zusätzliche Ausschöpfung der traditionellen Finanzierungsquellen, v.a. der Lohnprozente. Diese Korrekturen sind oft von begrenzter Art, was den politischen Konsens erleichtert, aber die Finanzierungsprobleme nur kurzfristig löst. Sie basieren auf einer kurzfristigen buchhalterischen Sichtweise, welche das Sparen begünstigt, aber die Wirkung der Entscheidungen auf die Solidarität sowie die wirtschaftliche Aktivität vernachlässigt.

Die soziale Vorsorge umfasst eine Reihe von Versicherungen (für Krankheit, Lohnersatz, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Invalidität, Berufsunfälle, Familienzulagen, Altersvorsorge), die zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt worden sind, und deren Funktionslogik heute veraltet ist. Anstatt an marginalen Anpassungen zu basteln, wäre es angezeigt, sich grundsätzliche Fragen zu dieser Logik zu stellen. Nehmen wir das Beispiel der Lohnprozente, der hauptsächlichen Finanzierungsquelle der Sozialversicherungen. Heute wächst die Lohnsumme weniger schnell als das Bruttosozialprodukt insgesamt. Der Lohnanteil am Volkseinkommen geht tendenziell zurück, auf Kosten der Kapitalgewinne, während die Sozialausgaben steigen. Das heisst, dass die Bemessungsgrundlage für die Finanzierung der Sozialversicherungen mit den steigenden Bedürfnissen nicht mithalten kann, es sei denn, man erhöhe die Beiträge. Vor dem Hintergrund der internationalen Konkurrenz kann aber eine Erhöhung der Lohnbeiträge dazu führen, dass die Unternehmen die Beschäftigung reduzieren, um die Kosten zu drücken. Aufgrund der Tatsache, dass die Beiträge auf den Löhnen erhoben werden, erhalten zudem jene Unternehmen, welche (wie Banken, Versicherungen, internationale Handelsunternehmen) vor allem Kapital einsetzen, gegenüber den Unternehmen, welche relativ viele Arbeitskräfte beschäftigen, einen Vorteil. Schliesslich würde eine antizyklische Politik in Zeiten der Krise eigentlich eine Reduktion der Lohnbeiträge erfordern, um die Budgets der Haushalte und der Unternehmen zu entlasten. Tatsächlich sieht die Praxis aber genau umgekehrt aus, indem die Beiträge zur Finanzierung der gestiegenen sozialen Bedürfnisse erhöht werden. Die Genfer Ökonomen Yves Flückiger und Javier Suarez haben die negativen Effekte der Lohnbeiträge empirisch bestätigt*. Selbst wenn ihre Analyse aus dem Jahr 1995 stammt, verdient sie es, in der heutigen Debatte zur Finanzierung der Sozialversicherungen berücksichtigt zu werden.

Auf der Basis ihrer Ergebnisse haben die beiden Autoren Kriterien für die Finanzierung definiert, welche nicht nur eine ausreichende Finanzierung sicherstellen, sondern auch die Beschäftigung fördern und nicht zu Verzerrungen bezüglich der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen Anlass geben. Sie schlagen vor, die Sozialleistungen, welche in erster Linie einen Versicherungscharakter haben, gemäss dem Kausalitätsprinzip zu finanzieren. So ist es in der beruflichen Vorsorge, wo jeder Versicherte für sein eigenes Rentenkapital spart, logisch, die Beiträge auf den Löhnen zu erheben. Ebenso sollte die Versicherung gegen Berufsunfälle durch Beiträge der Arbeitgeber auf der Lohnsumme finanziert werden, da die Unternehmen für die Sicherheit am Arbeitsplatz verantwortlich sind. Was die Arbeitslosigkeit betrifft, so kann man ebenfalls argumentieren, dass der Arbeitgeber einen Teil der Verantwortung trägt. Wenn er zum Beispiel zu Entlassungen schreitet, um seinen Maschinenpark intensiver nutzen zu können, bürdet er der Gemeinschaft die Kosten seiner Entscheidung auf. Deshalb schlagen die Autoren zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung vor, einen Beitrag auf dem Bruttomehrwert des Unternehmens zu erheben. Dieser umfasst nicht nur die Lohnmasse, sondern auch aus die Amortisationen und das Nettoeinkommen des Unternehmens. Dieses System hätte den Vorteil, dass es die Erhebungsbasis für die Beiträge erweitert, die Unternehmen entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit belastet, die Diskriminierung der Unternehmen mit einem hohen Lohnanteil gegenüber Unternehmen mit einem hohen Kapitalanteil verhindert und keinen Anreiz bildet für den Ersatz des einen Produktionsfaktors (Arbeit) durch den anderen (Kapital).

Die Finanzierung von Sozialversicherungen, welche der Gemeinschaft insgesamt dienen und die einen starken Umverteilungsaspekt haben, sollten sich auf eine breitere Bemessungsgrundlage abstützen. Für die AHV, die Mutterschaftsversicherung und die Familienzulagen denken die Autoren an eine allgemeine soziale Abgabe, d.h. eine proportionale Einkommenssteuer, sowie an die Mehrwertsteuer, d.h. eine Steuer, die unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenzfähigkeit der nationalen Wirtschaft neutral ist und die Umgehungsmöglichkeiten minimiert. Was den militärischen bzw. zivildienstlichen Lohnersatz betrifft, so sollte er nicht die Arbeitgeber und die Lohnempfänger belasten, sondern das staatliche Budget, da der Staat die entsprechenden Verpflichtungen vorschreibt.

Die beiden Genfer Ökonomen nehmen nicht für sich in Anspruch, den Schlüssel für die Lösung aller Probleme geliefert zu haben. Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Vorschläge sollten genau geprüft werden. Aber dieser Ansatz, welcher die spezifischen Ziele jeder Sozialversicherung berücksichtigt und unterscheidet zwischen Sozialwerken, die Versicherungen im engeren Sinne darstellen und solchen, die einen ausgeprägten Umverteilungscharakter haben, könnte eine solide Diskussionsbasis zur dauerhaften und gerechten Finanzierung der sozialen Vorsorge bieten.

*‘Proposition de réforme du financement de la sécurité sociale en Suisse‘, Yves Flücker, Javier Suarez, in La sécurité sociale à l’aube du Xxème siècle, Pierre-Yves Greber (éditeur), Bâle: 1996.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 27-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Gy; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; ETH Zürich; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Liliana Winkelmann, M.A., Zürich.

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