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„Rentenalter 67“ wieder im Gespräch – was sollte getan werden?

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Von Kontrapunkt* vom 14. März 2007

Das Rentenalter 67 für die AHV ist wieder im Gespräch. Grossbritannien und Deutschland, deren Regierungen ihre Völker allerdings nicht fragen mussten, werden als Vorbilder zitiert. In der Schweiz lässt sich diese Massnahme derzeit politisch kaum durchzusetzen. Demnächst wird über die Gewerkschaftsinitiative „Rentenalter 62 für Alle“ abgestimmt. Sollte diese nicht angenommen werden, sollten Bund und Kantone in ihren Bereichen zeigen, wie die notwendigen Voraussetzungen für ein höheres Rentenalter geschaffen werden können.

Existenzsicherung – das eigentliche Ziel der AHV

Das Ziel unseres Rentensystems ist das Wohlergehen älterer Menschen. Es ist abgeleitet aus der für die Schweiz zentralen gesellschaftlichen Wertvorstellung der Solidarität (vgl. die Präambel der Bundesverfassung: „… und die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen“). Dazu wurde seinerzeit die AHV geschaffen. Sie ist von hohem instrumentellem und Symbolwert für die Solidarität mit den Älteren und trägt bei niedrigem Einkommen wesentlich zur Existenzsicherung bei (bei höherem Einkommen ist die „Betriebliche Vorsorge“ (BV) wichtiger). Ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist die finanzielle Sicherung der AHV. Obwohl dem eigentlichen Ziel untergeordnet, gewinnt diese wegen der Wichtigkeit der AHV beinahe Eigenwert und wird als sekundäres Ziel behandelt. Aber jede AHV-Reform muss darauf achten, dass der übergeordnete Zweck des Systems nicht gefährdet wird.

Zur Ausgangslage

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz lässt sich längerfristig nur schwer voraussagen. Heute noch unbekannte weltpolitische und weltwirtschaftliche Entwicklungen, technologische Innovationen, Veränderungen des Klimas und der Umwelt und Veränderungen gesellschaftlicher Wertvorstellungen können unerwartete Einflüsse ausüben. Die gilt auch für die Bevölkerungsentwicklung, den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft, das künftige Sozialprodukt oder die Lage der öffentlichen Haushalte. Selbst über den gegenwärtigen Zustand und die nähere Zukunft gehen die Meinungen, meist auch von Interessen geleitet, auseinander. Aber getroffene Annahmen können mehr oder weniger plausibel sein.

Aus der gegenwärtigen Sicht kann man annehmen:

• Bei der (auf dem Umlageverfahren beruhenden) AHV entstehen Finanzierungsprobleme. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung steigt, wenn auch in deutlicher Abhängigkeit vom Einkommen; zugleich gibt es immer weniger Jugendliche und Kinder. Immer weniger Einzahlende werden immer mehr Bezügern gegenüberstehen.

• Aus der Bevölkerungsentwicklung ergibt sich auch ein steigender Bedarf der Wirtschaft an älteren Arbeitskräften.

Aber schwer voraussagbare Faktoren wie die weitere Entwicklung der Wirtschaft, der Produktivität, der Beschäftigungsquote der Frauen und der Zuwanderung können diese Entwicklungen beeinflussen. Es ist durchaus anzunehmen, dass die Wirtschaft sich ihre Arbeitskräfte irgendwie beschaffen, und die Politik sie dabei unterstützen wird.

• Viele Arbeitnehmende sind mit 65 Jahren prinzipiell weiterhin arbeitsfähig; andere sind es je nach Beruf und persönlicher Gesundheit nicht mehr. Viele sind sogar schon vorher invalid. Dabei dürften zunehmende Belastung und Stress bei der Arbeit eine erhebliche Rolle spielen.

• Die Leistungsfähigkeit älterer Menschen ist hoch, aber es zeigen sich grössere Unterschiede als bei den Jüngeren (grössere statistische Streuung der Leistungsdaten).

• Viele ältere Menschen würden gern weiterarbeiten, wenn sie ihre Arbeit als sinnvoll erleben, die Arbeitsbedingungen altersgerecht sind und ihr Betrieb eine gute soziale Umgebung darstellt. Gesicherte Daten dazu scheinen aber zu fehlen.

• Die Bereitschaft der Unternehmen zur Beschäftigung älterer Menschen ist nach wie vor gering. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:

1. falsche Vorstellungen über die Leistungsfähigkeit älterer im Vergleich zu jüngeren Menschen

2. die höheren Kosten der Älteren (Löhne und Nebenleistungen, z.B. Pensionskassen-

Beiträge).

• Zurzeit haben ältere Menschen schon ab 50 Jahren Schwierigkeiten bei der Stellensuche.

Schliesslich noch eine paradox anmutenden Tatsache: Obwohl es immer wieder Bundesräte sind, die ein höheres Rentenalter fordern, hat der Bund im eigenen Hause noch wenig dafür getan; bisher galt für die Mitarbeiter der Bundesbehörden sogar noch das Rentenalter 62 !

Massnahmen und ihre Folgen

Prognosen über die Auswirkung einzelner Massnahmen in vernetzten Systemen sind immer schwierig, aber wer handeln will, muss es versuchen. – Gegen eine einfache Erhöhung des AHV-Alters spricht:

• Jeder Versuch dazu bedeutet eine gesellschaftliche Zerreissprobe mit ungewissem Ausgang. Schon die blosse Forderung fördert bereits die Polarisierung und verunsichert die Bevölkerung.

• Solange ungewiss bis unwahrscheinlich bleibt, dass ältere Arbeitnehmende überhaupt Arbeit finden, bedeutet die Erhöhung lediglich eine Verschiebung der Kosten für den Unterhalt der Älteren, vor allem in die Sozialhilfe. Ausserdem werden den älteren Menschen erhebliche Belastungen (Existenzangst, Verlust an Lebensqualität und Ansehen, Stress) aufgebürdet. Dies steht im Widerspruch zum eigentlichen Ziel der AHV, ihr Wohlergehen durch Existenzsicherung zu fördern.

Häufig wird gefordert, das Pensionsalter flexibler (individuellen Wünschen angepasst) zu gestalten und die weitere Entwicklung dem Markt zu überlassen. Bei dieser Überlegung sollten wir zwischen Flexibilisierung nach unten und nach oben unterscheiden.

• Starre Altersgrenzen (62 bis 65 Jahre) gab es bisher vor allem bei den Kantonen und dem Bund. In der Privatwirtschaft sind immer Sonderabmachungen möglich gewesen.

• Flexibilisierung nach unten gibt es bereits, und zwar unter Inkaufnahme von Rentenkürzungen (AHV und BV) und fortlaufender Beitragspflicht (AHV). Diese Möglichkeit war bisher insbesondere bei gut Verdienenden und Vermögenden beliebt; eine Einschränkung wäre ein Entzug von Freiheitsrechten. Wichtig wäre aber, dass die Möglichkeit früherer Pensionierung im Sinne der Gewerkschaftsinitiative bei Bedarf auch den weniger Verdienenden (und hier ohne Einkommensverlust) eröffnet wird. Denn viele Menschen können, ohne direkt invalide zu sein, nicht mehr voll arbeiten. Die Einführung einer Alters-Teilzeitarbeit könnte hier die Lösung sein.

• Flexibilisierung nach oben kann nur dann eine längere Beschäftigung älterer Menschen bewirken, wenn der Arbeitsmarkt diese Entwicklung begünstigt. Das würde voraussetzen:

1. Die hohen Kosten älterer Arbeitnehmender müssen gesenkt werden. Das betrifft sowohl den Lohn als auch die Lohnnebenkosten. Vom Bedarf her wäre es ohnehin gerechtfertigt, wenn das Lohnmaximum in der Lebensmitte liegen würde. Die Summe des Lebenslohns insgesamt sollte nicht gesenkt, wohl aber die Verteilung über das Lebensalter verändert werden.

2. Im bisherigen System gesellschaftlicher Bewertungen sind sozialer Status und Selbstwertgefühl u.a. auch an die Lohnhöhe gekoppelt. Erforderlich wäre daher die Entwicklung einer neuen sozialen Kategorie des noch arbeitenden älteren Menschen, damit der geringere Lohn nicht als Statusverlust, sondern (wie die Pensionierung) als neuer Status (etwa im Sinne von „senior expert“) erlebt wird .

3. Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung einer allgemeinen und standardisierten Alters-Teilzeit als Regelfall.

4. Die Arbeit für ältere Menschen muss altersgerecht gestaltet sein.

5. Ob die Älteren von der Möglichkeit längerer Lebensarbeit tatsächlich Gebrauch machen, hängt von der Gesamtheit realisierter Bedingungen ab; hier kann der Arbeitsmarkt tatsächlich spielen.

Was könnte in näherer Zukunft getan werden?

1. Vom Versuch, zur Sicherung der AHV einfach das Rentenalter zu erhöhen, ist aus den oben genannten Gründen dringend abzuraten.

2. Für besonders belastete Berufsgruppen sollte, bei etwaiger Ablehnung der Renteninitiative, über die GAV das Rentenalter 62 eingeführt werden. Bei Vorliegen gesundheitlicher Gründe sollte die individuelle Frühpensionierung erleichtert werden.

3. Bund und Kantone sollten mit ihrem Beispiel vorangehen und dadurch Entwicklungen anstossen. Insbesondere sollten sie in ihren Verwaltungen

• die starren Altersgrenzen abschaffen

• bedarfsgerechte Lohnskalen entwickeln, die ein Einkommensmaximum in der Lebensmitte vorsehen

• eine Kategorie des „älteren Mitarbeiters“ mit besonderen Anforderungen lancieren

• altersgerechte Arbeitsbedingungen schaffen und

• die standardisierte Altersteilzeit als Regelfall einführen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 25-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Dr. Gabrielle Antille Gaillard, Ökonomin, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Jacques Pasquier-Dorthe, Betriebswissenschafter, Universität Freiburg; Prof. Dr. Franz Schultheis, Soziologe, Universität Genf; Prof. em. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.
Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4001 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10.

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