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Requiem auf „Mehr Markt, weniger Staat“

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 22. Februar 2011

Die Gehirnwäsche dauerte mehr als dreissig Jahre: der Markt werde es schon richten, hiess die immer wiederholte Botschaft, die uns die Globalisierung schmackhaft zu machen hatte, deren Segen von rechts gepriesen und deren Schaden von links gebrandmarkt wurde.

Heute dämmert es uns langsam, dass es bei dieser Botschaft nicht um eine Neuauflage des Liberalismus, sondern um private Profitsteigerung ging. Profite sind höher, wenn der Wettbewerb gepredigt, aber nicht gelebt wird. Je weniger Wettbewerb, desto stärker der Ruf nach ihm. Marktmacht ist die Folge. Der Machtanspruch der Wirtschaft wurde allgegenwärtig und im Finanzsektor zur neuen Religion.

Ein einfacher Trick besteht darin, Sachzwänge zu schaffen und davon eine Logik abzuleiten, die den Slogan «Mehr Markt, weniger Staat» als vernünftig erscheinen lässt. Die Globalisierung erscheint dann als Sachzwang und der Aufstieg von Schwellenländern als Ausdruck von neuer Konkurrenz, der wir uns zu stellen haben. Dies verlange Opfer. Der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar, die öffentlichen Dienste seien zu privatisieren und auf Befindlichkeiten im Arbeitsmarkt könne nicht mehr Rücksicht genommen werden. Reformen zur Stärkung der Marktkräfte müssten her, lautete die neoliberale Botschaft, die ihre ideologische Ausrichtung mit Wissenschaftlichkeit zu begründen versuchte.

Tatsächlich wurde selten eine solche Botschaft von so vielen Vertretern der Wirtschaftswissenschaften unterstützt und eifrig mitgetragen. Es schien, als wären alle Wirtschaftswissenschaftler an der Universität von Chicago ausgebildet worden. Manager mit wirtschaftlichen Machtansprüchen gingen Hand in Hand mit einer Schar von (Finanz-) Theoretikern, die auch einmal gerne aus der Hand der Grossen essen wollten.

Dabei geht es wie so oft um das liebe Geld. So hiess es, um die Zentralbanken allein für die Preisstabilität verantwortlich zu machen, müssten sie autonom gegenüber der Regierung sein und so wenig wie möglich Geld drucken. Geldpolitik sei nicht wirklich Sache von Regierungen sondern von neoliberalen Experten. Damit versuchten sie mit ihren monetaristischen Theorien, sämtliche Zentralbanken zu unterwandern, oder sogar abzuschaffen. Ihre Begründung war, dass der private Markt in jedem Fall einem staatlichen Monopol vorzuziehen sei. Sie sahen sich besser geeignet, dem Gemeinwohl zu dienen, als demokratisch legitimierte Regierungen. Der Konflikt zwischen Wirtschaft und Demokratie wurde damit vorprogrammiert.

Arbeitslose sind Wähler. Sie verlangen nicht nur Preisstabilität, sondern Arbeit. Die Zentralbanken wurden deshalb ziemlich schnell angehalten, mit billigem Geld die Wirtschaft anzukurbeln. Die Autonomie der Zentralbank und deren alleinige Ausrichtung auf die Inflationsbekämpfung blieb Wunschdenken. Der Konflikt zwischen Wirtschaft und Demokratie musste ja entschärft werden. Die wirklich praktizierte Geldpolitik versuchte daher Wachstum zu schaffen, Inflation hin oder her. Sie lud geradezu zum Schuldenmachen ein.

Dass sich in der Praxis Wirtschaftstheorien nur schwer umsetzen lassen, hat mit der Natur und Methodik der Humanwissenschaften zu tun, zu denen die Wirtschaftswissenschaften selbstredend zugeordnet bleiben. Gesellschaftliche Entscheidungen, auch im Bereich der Geldpolitik, gehorchen nicht mechanischen Abläufen und sind historisch einzigartig, in dem Sinne, dass sie sich nicht einfach unabhängig von Raum und Zeit wiederholen lassen. Trotz allen Versuchen, die Wirtschaftswissenschaft nach der Methodik der Naturwissenschaften auszurichten, bleibt sie normativ und somit ideologischen Strömungen unterworfen. Das Verhalten der Zentralbanken kann nie und nimmer nach einer allgemein selig machenden einzigen Theorie ausgerichtet werden. Der Monetarismus entpuppte sich als eine Religion, die gepredigt, aber nicht wirklich angewandt wurde. Ein Sündenfall für neoliberale Prediger, ein Segen für die andern.

Der private Finanzsektor seinerseits unterlief die gesetzlich verankerte Zielsetzung der restriktiven Geldpolitik, indem er seine eigene Geldschöpfung ausweitete. Kredite waren damit noch einfacher zu haben, und Risiken stiegen ins Uferlose. Die theoretisch verlangte Autonomie der Zentralbank wich einer immer stärker werdenden Abhängigkeit von den Finanzmärkten, deren Funktionieren wiederum als Sachzwang benutzt wurde, um den Zentralbanken keine andere Wahl zu lassen, als auf Kosten des Steuerzahlers die Rolle des Retters in letzter Not zu spielen. Anstelle der Regierungen wurde der Finanzmarkt zum Regulator der Zentralbanken. In den siebziger Jahren galt noch der Zinssatz von Staatsobligationen als Richtschnur. Heute ist es der Libor, ein Zinssatz, der zwischen Banken gilt und nicht vom Staat beeinflusst wird. Der vorprogrammierte Konflikt zwischen Wirtschaft und Demokratie verschärfte sich erneut. Obwohl die Staatshilfe für marode Banken gemeinhin als systemwidrig verstanden wird, hiess nun die offizielle Botschaft, sie solle mit Fatalismus hingenommen werden. Krisen gäbe es immer wieder, und das Beste sei, so schnell wie möglich zur Tagesordnung überzugehen. Der Versuchung zur Regulierung, die ja in neoliberaler Sicht nur eine Überregulierung sein kann, müsse widerstanden werden, heisst es nun selbstbewusst von Bankenvertretern. Die Brandstifter von gestern wurden Feuerwehrmänner von heute, die sich bei jeder passenden Gelegenheit wieder feiern lassen. Dies widerspricht jedoch nicht nur den Prinzipen einer liberalen Wirtschaftsordnung, sondern schafft neue Privilegien für wenige, die für ihre eingegangenen Risiken nicht gerade stehen müssen.

Der Neoliberalismus entlarvte sich als rechtspopulistischen Versuch, gesellschaftliche Entscheidungen vermehrt der Wirtschaft anzuvertrauen. Die perfide Taktik dazu war die gelebte Praxis des Schuldenmachens und nicht die theoretisch vorgebetete Inflationsbekämpfung. Der Neoliberalismus neigt deshalb nicht zu einer Renaissance des Liberalismus, sondern zum Neonepotismus und ist in diesem Sinn gewöhnungsbedürftig. Er benötigt deshalb so viel Propaganda wie möglich. Zu diesem Zweck wurden die Medien eingespannt und der Logik der Finanzmärkte unterworfen. Finanzielle Abhängigkeit trat an die Stelle eines redlichen Journalismus. Buchverlage, Fernsehanstalten, Film, Sport, Kultur und Kunst folgten und wurden ebenfalls im grossen Stil der Marktlogik unterworfen. Von den USA ausgehend, wurde der Versuch, Neoliberalismus als einzige Denkform zu propagieren, von mehreren erzkonservativen Denkfabriken generalstabsmässig geplant und umgesetzt. In der Schweiz zeugt „Avenir Suisse“ von solchen Versuchen der Einflussnahme. Dieser Gralshüter des „alles dem Markt“ trägt auf seine Weise eher zur Verschärfung des Konflikts zwischen Wirtschaft und Demokratie bei, als dass er versucht, diesen abzubauen.

Dennoch besteht Hoffnung. Das politische System der Schweiz huldigt dem Pragmatismus derart, dass es bis jetzt immer Gegengifte zum propagierten Dogmatismus entwickelte. Trotz allen Bemühungen gelang der neoliberalen Bewegung der endgültige Durchbruch nicht. Die Meinungsvielfalt besteht weiterhin und wird immer wieder zu neuen Denkanstössen Anlass geben.

Es ist jedoch nicht sicher, dass nach 30 Jahren Neoliberalismus der Staat sich wieder definitiv zurückmeldet. Es könnte durchaus noch schlimmer kommen. Zurzeit sind folgende negativen Tendenzen absehbar:

Zum ersten ist es durchaus möglich, dass der Neoliberalismus sich weiter ausbreitet und die politische Abhängigkeit von den Finanzmärkten zunimmt. Die bis jetzt erfolgreichen Bestrebungen, so schnell wie möglich zum wirtschaftlichen Alltag zurückzukehren, ohne den Finanzsektor wirklich an die Leine zu nehmen, bestätigen diese Vermutung. Trotz allen Beteuerungen, dass man es mit der Regulierung der Banken ernst meine, sind die dazu erforderlichen politischen Entscheidungen noch immer nicht gefallen.

Zum zweiten besteht heute ein Nährboden für Katastrophenszenarien und ähnlichen Angstmachereien, die weit über den Finanzmarkt hinausreichen. Schliesslich ist es einfach, überall Gefahren zu sehen. Dieser Nährboden fördert nicht nur neue Abhängigkeiten und Bevormundungen, sondern führt zu neuen lukrativen Wirtschaftszweigen im Bereich der Be- und Überwachung. Sogar ein Polizeistaat kann privatisiert werden. Was die Verbreitung von Angst angeht, so gehört sie schon lange zum üblichen Arsenal der Machtausübung.

Zum dritten ist es denkbar, dass als Folge der allgemeinen Verunsicherung und der spürbaren negativen Folgen der Globalisierung eine Welle nationaler Abschottung auf uns zukommt. Protektionismus ist immer dann Mode, wenn sich wirtschaftliche Probleme häufen. Für eine kleine und international offene Volkswirtschaft wie die schweizerische würde eine solche Entwicklung grössere Wohlstandseinbussen mit sich bringen.

Zum vierten schliesslich gibt es Anzeichen, dass unter dem Deckmantel eines weiter propagierten Neoliberalismus sich eine neue Form von Wirtschaftskorporatismus verbreitet. Neoliberalismus meint ja nicht etwa mehr Freiheit für den einzeln, sondern für die Wirtschaft. Der Aufruf, immer mehr soziale Gruppen auszugrenzen, wie Ausländer, Scheininvalide, oder faule Arbeitslose, will das Stimmvolk dort abholen, wo es am emotionalsten betroffen ist. Gleichzeitig orientiert sich diese Taktik an einem Nationalismus, der sämtliche politischen Versuche zur internationalen Konfliktlösung in Frage stellt. Die Absicht ist klar. Konfliktlösungen sollen allein dem Markt überlassen werden. In alle Himmelsrichtungen abzuschliessende Freihandelsverträge sollen nur nach den Interessen der Wirtschaft ausgerichtet werden. Das eitle Gebaren von Managern, die sich als Unternehmer wähnen, lässt nichts Gutes erahnen. Es war ja schon einem Joseph Schumpeter in den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Gräuel, zusehen zu müssen, wie ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wirtschaftselite die Massen populistisch ausnützte, um ihre Pfründe zu sichern.

Um solche Tendenzen abzuwehren, kennen wir die Rezepte aus der Geschichte. Stärkung der Demokratie, Einhaltung des Gesellschaftsvertrages und Besinnung auf die Werte der Aufklärung helfen uns besser, den Konflikt zwischen Wirtschaft und Demokratie zu entschärfen. Der Slogan „Mehr Markt und weniger Staat“ muss ausgewechselt werden gegen „Mehr Freiheit dank wirksamem Staat“.

 

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 27-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Gy; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Beat Sitter-Liver, Praktische Philosophie, bis 2006 Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Rudolf H. Strahm, Herrenschwanden; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., Zürich.
Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4051 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10; www.rat-kontrapunkt.ch

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