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Wirtschaftliche Globalisierung ohne politische Governance provoziert Krisen, Kriege und Elend

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Von Kontrapunkt* vom 26. Mai 2017

Ein Baum soll nicht den Wald verdecken

Täglich, im Rhythmus seiner Tweets, servieren uns die Medien Trump. Aus analytischer Distanz betrachtet gehört das „Phänomen Trump“ in dieselbe Kategorie wie die vielen anderen Erscheinungen von Populismus, die in zahlreichen europäischen Ländern Verbreitung gewonnen haben. Dabei steht die Schweiz mit der von einem guten Drittel der WählerInnen bevorzugten SVP alles andere als abseits; hätten wir auf Bundesebene ein Majorzsystem, wären wir schon seit Jahren nicht weit von einer SVP-Regierung entfernt. Auch in vielen nichteuropäischen und weniger reich gewordenen Ländern existieren solche Strömungen z.T. schon länger und haben häufig auch dort in den letzten Jahren zunehmend Aufwind erfahren.

Nicht die unterschiedlichen Erscheinungsformen solcher potentiell autoritärer, meist nationalkonservativer und oft rassistischer Tendenzen scheinen erklärungsbedürftig, sondern ihre relative Gleichzeitigkeit und die Merkmale, die sie gemeinsam haben: Vorliebe für undifferenzierte Erklärungsschemata mit einfachen Schuldzuschreibungen und Abwehrreflexen, die regelmässig auf die verstärkte Diskriminierung schwacher Bevölkerungskategorien hinauslaufen. Viel spricht dafür, dass die derart Mobilisierten Globalisierungsverlierer sind oder befürchten, solche zu werden. Das gilt für weite Teile der unterprivilegierten Schichten (vor allem IndustriearbeiterInnen), immer mehr aber auch der Mittelschichten. Sie sehen, wie Arbeitsplätze ins lohngünstigere Ausland abschwimmen (Produktionsauslagerungen erfolgen inzwischen auch schon aus China) oder durch Automation verschwinden, wie die jüngeren Generationen z.T. trotz verbesserter Ausbildung nur schwer befriedigende Stellen finden, und wie Superreiche im Gegenteil immer weiter zulegen.

Zu reden ist deshalb nach wie vor über die Globalisierung und ihre Folgen.

Globalisierung und ihre Folgen

Die bisherige Globalisierung hat – neben anderen – drei höchst problematische Konsequenzen hervorgebracht. Erstens wird sie von einer Dynamik getragen, die auf Weltebene jene Bedingungen herstellt, die Krisen und Katastrophen „normal“ machen. Die Wirtschaft, aber nicht nur sie, ist zu einem weltumspannenden System geworden, dessen Struktur aktiv zu einer immer lückenloseren Vernetzung fortentwickelt wird. Dazu trägt die immer weiter gehende Verwendung von internet-basierten Analyse- und Kommunikationstechnologien wesentlich bei (Illustration: digital automatisierter Güter-, Währungs- und Wertpapierhandel), ist aber bei weitem nicht der einzige Motor. Ähnliches gilt für die Politik, für die Medien, die Entwicklung einer aus nichtgouvernementalen Organisationen bestehenden internationalen Zivilgesellschaft und weitere Aspekte des sich „mondialisierenden“ Zusammenlebens. Das bedeutet namentlich auch, dass lokal oder regional auftretende Themen zunehmend auch internationale Akteure tangieren und sie zur Intervention motivieren. Mit anderen Worten nimmt auch die Komplexität des Weltsystems ständig zu. Das heutige weltweit vernetzte, hochkomplexe und interdependente Wirtschafts- und vor allem Finanzsystem, in dem Reglementierungen und strukturelle Pufferzonen weitgehend abgebaut worden sind und weiter abgebaut werden und bestehende Machtstrukturen an Stabilität verlieren, erscheint als Haupttreiber dieser Dynamik.

Enge Kopplung der Teilsysteme und hohe Komplexität sind die beiden Grundbedingungen, die Unstabilität und Krisenanfälligkeit von Systemen strukturell festschreiben, insbesondere von Grosssystemen. Dank der extremen Vernetztheit (zu der namentlich auch das Fehlen von Pufferzonen gehört) können sich lokale Turbulenzen schnell und praktisch ungehemmt über das ganze System oder mindestens weite Teile davon verbreiten, und dank seiner Komplexität mehren sich die Faktoren exponentiell, welche solche Turbulenzen hervorbringen und sich wechselseitig aufschaukeln können.

Dies sind jene problematischen Folgen der auf die Spitze getriebenen internationalen Vernetzung, die hier besonders interessieren. Mindestens zwei weitere sind erwähnenswert, sollen aber nicht weiter behandelt werden: der systemische Druck auf die Homogenisierung der Funktionsweisen, welcher die kulturelle, politische und wirtschaftliche Vielfalt im internationalen Raum untergräbt, unter anderem, was die endogene Entwicklung betrifft, sowie der Abbau, wenn nicht gar die Ausschaltung funktionaler Alternativen, also von „struktureller Redundanz“, welcher ebenfalls die Krisenanfälligkeit erhöht, weil beim Ausfallen beispielsweise einer Technologie nicht mehr auf andere zurückgegriffen werden kann.

Zweitens hat die Globalisierung für internationale Akteure weite Handlungsräume eröffnet, die für nationale, vor allem politische Strukturen und ihre Entscheidungsreichweite weitgehend unzugänglich und deshalb deren allenfalls demokratischem Funktionieren entzogen sind. Im internationalen Bereich hat sich ein massives Ungleichgewicht zwischen enormer Aktionsfreiheit vor allem für gewinngetriebene privatwirtschaftliche Organisationen und weitgehender Abwesenheit von Strukturen politischer Gegenmacht entwickelt. Ein folgenreicher Ausdruck der dadurch ermöglichten Machtverhältnisse ist, dass bereits seit einigen Jahrzehnten die Zahl multinationaler Firmen immer grösser wird, deren Jahresumsatz das Bruttosozialprodukt nicht nur kleiner Nationen übersteigt.

Drittens hat die Globalisierung die Verschärfung der sozialen Ungleichheiten sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen ihnen gefördert, vor allem durch eine zunehmende Umverteilung des geschaffenen Reichtums nach oben bis ganz oben, die nicht zuletzt auch auf dem Ausnützen der eben genannten internationalen Aktionsmöglichkeiten beruht. Wichtig an diesen Ungleichheiten ist weniger, ob sie pro Jahr um einige Dezimalpunkte zu- oder abnehmen, sondern dass sie existieren, wie sie funktionieren und wie weit sie noch sozial legitim, d.h. akzeptiert sind. Was dabei nicht übersehen werden darf: die Privilegierten in vielen wenig und mittelentwickelten Ländern profitieren noch massloser als in reichen Ländern wie der Schweiz. Etwas salopp gesagt, sind die Reichen in der Dritten und in der Ersten Welt ungefähr gleich reich, während die Armen der Dritten Welt unglaublich viel ärmer sind als jene der Ersten.

Bei all dem ist die mediale Fokussierung auf einige superreiche Milliardäre nur der Vorhang, der das systematische Absahnen durch grosse Unternehmungen zugunsten ihrer Investoren (grossenteils Fonds) und Topmanager verhüllt.

Globalisierungsfolgen untergraben demokratisches Funktionieren

Vor allem die Denationalisierung der Machtstrukturen und die zunehmende nationale und internationale Ungleichheit untergraben die Demokratie. Erstens, weil die demokratische Teilhabe im gleichen Mass an Relevanz und deshalb Motivierungskraft verliert, wie die als wichtig wahrgenommenen Probleme ihrem Einfluss entzogen werden. Zweitens, weil die politische Gleichstellung der Bürger die immer offensichtlicher werdenden wirtschaftlichen Ungleichheiten nicht mehr kompensieren kann, weder symbolisch noch materiell-politisch.

Diese Mechanismen laufen auf internationaler Ebene ab, und dort vor allem im Konzerninnenbereich oder sonst über diskrete juristische und finanzielle Kanäle, wo sie vor Beobachtung weitgehend abgeschirmt sind und von den Medien kaum beachtet werden. Die Steueroptimisierung durch multinationale Konzerne ist ein typisches Beispiel dafür. Ihr Problemcharakter, insbesondere ihr direkter und indirekter Beitrag zur Verstärkung von Ungleichheit wird erst nach jahrzehntelanger, bisher eher geförderter als gebremster Entwicklung öffentlich und auch politisch thematisiert. Innenpolitisch problematisch an diesen Vorgängen ist auch, dass dadurch die Aussenpolitik aufgewertet wird, die meist ein Exekutivprivileg und deshalb demokratischer Kontrolle entzogen ist. Ausserdem verkoppeln diese Mechanismen Regierungen mit multinationalen Unternehmungen und mit der Finanzindustrie, was die Intransparent politischer Entscheidungen zusätzlich verstärkt und die Demokratie schwächt.

Angesichts dieser Prozesse machen die Menschen die Erfahrung, dass ihre demokratische Teilnahme die aus den Machtgefällen und der Globalisierung resultierenden Alltagsprobleme kaum beeinflusst, weil die nationalen Instanzen, welche sie wählen können, darüber gar keine Entscheidungskompetenz haben; dasselbe gilt weitgehend für die schweizerische Möglichkeit der Sachabstimmungen (wie gerade die Masseneinwanderungsinitiative illustriert). So driften auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger die akuter werdende Problemerfahrung und die abnehmende Glaubwürdigkeit der offiziellen Interpretationsmodelle auseinander, bei gleichzeitiger Intransparenz der Zusammenhänge. Das verstärkt die Nachfrage nach eingängigen, deshalb tendenziell unterkomplexen „alternativen“ Erklärungsangeboten und bildet den Boden für Vorstellungen, die man unter dem Stichwort populistisch zusammenfassen kann.

Strukturelle Schwächen des Weltsystems

Vor allem zwei strukturelle Schwächen kennzeichnen die gegenwärtige Situation der Globalisie­rung. Einerseits die bereits angesprochene Kombination hoher Komplexität mit enger Vernetztheit der Interaktionen im Weltsystem, andererseits dessen enormes politisches Machtvakuum. Es gibt keine wirksame, d.h. auch sanktionsmächtige globale Gover­nance; die meisten internationalen politischen Organisationen sind von Grossmächten leicht blockierbar, wenn sie deren Interessen zu tangieren drohen, und haben kaum Sanktionierungsmacht (Beispiel: Weltsicherheitsrat). Dieses Machtvakuum wird von Staaten und von privaten Akteuren ausgenützt und lässt Raum für grosse Instabilität.

Alles in allem und etwas vereinfachend gesagt verlagert sich also ein wichtiger (und nach Wirtschaftsstärke des Landes variabler) Teil nationaler Macht von den nationalen Territorien weg in den internationalen Raum. Dort kommt sie nicht einer universalistischen politischen Steuerungsinstanz des Weltsystems zugute, sondern privaten, vor allem wirtschaftlichen Akteuren ohne obligatorische territoriale Verankerung, ohne demokratische Legitimationsnotwendigkeit und ohne die daraus resultierenden Hemmungen bei der Verfolgung ihrer Interessen.

Globalisierung fördert Anomie bei der Bevölkerung

Viele Menschen erfahren diesen teilweise realen, teilweise erst noch drohenden Wohlfahrts-, Macht- und Demokratieverlust, ohne dass dafür klare Verantwortlichkeiten sichtbar würden. Sie sehen aber, dass ihre nationalen Machtträger sie davor nicht bewahren (können), und sind deshalb für populistische Diskurse und Versprechen ansprechbar. Je nachdem, wie reich ein Land ist („entwickelt“, „industrialisiert“ oder sogar „postindustrialisiert“ – oder eben nicht), sind die sozialen Schmerzstellen und die betroffenen Bevölkerungsteile nicht dieselben und nehmen die so zustande kommenden Mobilisierungen andere Inhalte auf und Formen an. Dasselbe Makrophänomen provoziert unterschiedliche Folgen, weil es Länder und Bevölkerungen betrifft, die im internationalen Ungleichheitssystem unterschiedlich positioniert sind.

Die skizzierten strukturellen Entwicklungen begünstigen das Entstehen verbreiteter Anomie in der Bevölkerung. Anomie heisst, dass allgemein anerkannte Normen ihre Steuerungskraft für praktisches Handeln verlieren und damit unverlässlich werden. Dadurch wird das Vertrauen in ein bisher als normal geltendes Funktionieren der Welt untergraben, ebenso das Vertrauen in bisher geteilte Interpretationsmodelle und in die Möglichkeit, Machtausübung durch Normen zu kanalisieren. Daraus resultieren grundlegende Verunsicherung und Rückzugstendenzen auf vertraute Positionen, der Eindruck, dass nur noch Macht zählt, und damit eine massive Schädigung der Grundlagen der Demokratie. Populismus, „Trumpismus“, also die Zuflucht zu starken Führungsfiguren, finden in einer solchen Situation leicht Anhänger. Eine gewisse Ratlosigkeit ist auch bei vielen Politikern festzustellen, vielleicht auch, weil das Ungenügen der bisher weithin geglaubten Rezepte des Marktfundamentalismus offensichtlich wird.

Mögliche „Ausgänge“, Optionen für die Schweiz

Niemand kann in der jetzigen Situation klar voraussehen, in welche Richtung sich das Weltsystem entwickeln wird und wir in ihm. Namentlich vier Szenarien werden diskutiert: die (bisher unwahrscheinliche) Einrichtung einer Weltregierung, die (bereits in Entwicklung befindliche) Pluralisierung der wichtigen Mächte (Multipolarität), die (ansatzweise ebenfalls schon stattfindende, zum Teil mit Kriegen verbundene) Errichtung neuer Grenzen zwischen Einflusszonen, die (teilweise angestrebte) Rücknahme der Globalisierung für eine erneute Stärkung nationaler Autonomie (Brexit u.ä.). Alle dieser Möglichkeiten haben eine gewisse Plausibilität. Sie schliessen sich nicht gegenseitig aus, sondern könnten sich auch kombinieren oder aufeinander folgen. Allerdings gibt es Argumente dafür, dass sich diese Entwicklungen nicht beliebig kombinieren können; so postuliert die These vom Globalisierungstrilemma, dass sich von den drei Elementen Demokratie, nationale Souveränität und Globalisierung nur jeweils zwei auf Kosten des dritten kombinieren lassen. Was dabei mit den Ungleichheiten passiert, wird offen gelassen, und ein immer krisenhafteres Weitergehen der Globalisierung mit erhöhtem Kriegsrisiko gehört wohl ebenfalls zu den realistischen Möglichkeiten. Klare Anzeichen für das Vorherrschen der einen oder anderen dieser Entwicklungen sind gegenwärtig nicht zu erkennen.

Plausibel ist deshalb die Vermutung, das Weltsystem befinde sich zur Zeit in einer besonders instabilen Phase mit mehreren möglichen Ausgängen und entsprechend geringer Planbarkeit. Für die Schweiz als kleines und besonders privilegiertes Land legt dies nahe, auf die Erhaltung der Legitimität ihrer (internen) politischen Struktur besonderes Gewicht zu legen und sich nicht auf eine einzige der denkbaren makropolitischen Entwicklungsrichtungen festzulegen. Die Reduktion der internen Ungleichheiten (nicht nur bei Einkommen und Vermögen, sondern auch bei Ausgaben, etwa für Gesundheit) und die Vertiefung der Demokratie (u.a. auch in der Wirtschaft, beispielsweise durch die Aufwertung der Rolle der Gewerkschaften) müssten dabei eine zentrale Rolle spielen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. em. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter, ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Prof. em. Dr. Wolf Linder, Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. Dr. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

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