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Die Entwicklung der Geldvermögen als Systemfehler der Finanzwirtschaft

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 10. November 2009

Das Problem

Wirtschaftskrisen werden häufig durch wirtschaftsexterne Ereignisse wie Kriege, soziale Unruhen, Epidemien oder Naturkatastrophen hervorgerufen. Anders die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise: ihre tiefere Ursache liegt in einem grundlegenden Systemfehler der globalen Finanzwirtschaft, nämlich der ungeheuren Masse von Buchgeld und Buchwerten, die in den Märkten umlaufen; sie übersteigen die Basis wirtschaftlicher Wertschöpfung, die Produktion der Realwirtschaft, um ein Vielfaches und haben insofern virtuellen Charakter. Dabei sind zwei Faktoren zu unterscheiden: die gewaltigen   angehäuften, grossenteils in Buchgeld und Buchwerten angelegten Geldvermögen und die Grösse ihres Umsatzes in den Finanzmärkten. Auf dieser Blase bauten kaskadenartig weitere Entwicklungen (wie die Erdöl-, die Nahrungsmittel- und die Subprime- und Hypothekenkrise) auf, welche schliesslich zuerst die Finanzkrise und dadurch die Weltwirtschaftskrise auslösten. Und natürlich trugen auch die grosse Verschuldung einiger Länder, ihre Niedrigzinspolitik und die übertriebene Kreditschöpfung der Banken zu dieser Entwicklung bei. Aber es sind diese letzteren Ursachen, die nun beachtet und bekämpft werden; die zugrunde liegende Blase der Geldvermögen bleibt unbeachtet.

Die Entwicklung der Blase

Wie kam es zu dieser exzessiven Entwicklung der Geldvermögen? Ein Grundprinzip des Kapitalismus fordert, dass sich das Kapital durch seinen Einsatz in wirtschaftlichen Prozessen vermehrt: das Gewinnprinzip. Das so gewachsene Kapital wird wieder mit Gewinn eingesetzt und so fort; daraus entsteht das „Wachstum“  der Wirtschaft. Gewinnerwartungen sind der Grund für den Kapitaleigentümer, sein Kapital dem Risiko der Investition auszusetzen: ohne Gewinnaussichten kein Kapitaleinsatz, also kein Geldumlauf. Aber die Realwirtschaft ist auf Kapital angewiesen; so entsteht der „Wachstumszwang“. Der Kapitaleinsatz geschieht überwiegend als Darlehen. Das hat zur Folge, dass dem wachsenden Kapital wachsende Schulden gegenüberstehen.

Der deutlichste Ausdruck des Gewinnprinzips und seiner Folgen ist die Mechanik des Zinseszinses. Bekanntlich entwickelt sich das verzinste Kapital exponentiell: zunächst erfolgt eine langsame Zunahme, dann (je nach Höhe des Zinssatzes) ein explosionsartiges Wachstum. Die Explosion ist (je nach Berechnung etwas verschieden) in allen entwickelten Ländern in den  letzten Jahrzehnten erfolgt.  Heute übersteigt die Grösse allein der privaten  Geldvermögen die Leistung der Realwirtschaft um ein Vielfaches. In Deutschland betrugen sie (nach Daten der Deutschen Bundesbank) im Jahre 1975 das eineinhalbfache,  im Jahre 2000 bereits das dreifache, im Jahre 2006 mehr als das siebenfache des BIP (die exponentielle Entwicklung wird sichtbar). In der Schweiz dürfte dieses Missverhältnis noch erheblich grösser sein.  Und die Geldvermögen bestehen zu etwa je einem Drittel aus Buchgeld und Buchwerten.

Wer besitzt diese Vermögen? In der Regel werden kleine und mittlere Einkommen, meist Arbeitseinkommen, mehr oder weniger verbraucht; überwiegend die grossen Einkommen, meist aus Kapital, werden als Kredit oder Beteiligungskapital angelegt. Von der Explosion der Geldvermögen profitieren überwiegend die Eigentümer der ganz grossen Vermögen, private und institutionelle Anleger. Die kleinen Einkommen können über ihre Pensionskassen am Gewinn teilnehmen. Das Kapitalwachstum selbst aber bezahlen alle Verbraucher über die in allen Preisen enthaltenen Schuldzinsen, eine gigantische Umverteilung von unten nach oben.

Der zweite Faktor, der erhöhte Umsatz, ergibt sich aus der mit der elektronischen Revolution realisierten Transaktionsgeschwindigkeit in globalen Märkten. Das Kapital wird in Echtzeit häufig und vielfältig umgesetzt. Im Jahr 2007 war (nach Erhebungen des Oesterreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung) das tägliche Volumen der Finanztransaktionen 73,5 mal  so hoch wie das nominelle Tages-Welt-BIP.

Die Folgen

Die gravierendsten Folgen dieses Missverhältnisses bestehen in der fehlenden Unterlegung des Buchgeldes, im erhöhten Anlagedruck und in dem durch die Schuldenhöhe bedingten Risiko für die Realwirtschaft. Im Einzelnen:

Seit der Abschaffung der Golddeckung werden moderne Währungen, so die verbreitete Auffassung, durch die Wirtschaftsleistung ihrer Länder und, darauf basierend, durch  das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer   unterlegt.  Übersteigen die Geldvermögen das BIP um ein Mehrfaches, ist die realwirtschaftliche Unterlegung entsprechend geringer. Dabei ist diese Rechnung noch geschönt, da das BIP ja auch Leistungen umfasst, die nicht zum Wohlstand beitragen (fliessen 100 Tonnen Gift in den Rhein, zählen sie für das BIP, denn sie sind ja produziert worden; und genauso zählen die bei der anschliessenden Reinigung anfallenden Kosten).  Der zweite Faktor aber, das Vertrauen, wird in Krisen flüchtig wie ein Nebel.

Des Weiteren sucht das Buchgeld entsprechend dem Gewinnprinzip nach gewinnversprechenden Anlagemöglichkeiten: es entsteht ein gewaltiger Anlagedruck. Die Folgen haben wir erlebt: unrealistische Preissteigerungen bei Anlagegütern, z.B. Hypotheken und Aktien; die Spekulation auf Grundstoffe, wie Erdöl und Nahrungsmittel, mit entsprechenden Preissteigerungen; und die Erfindung phantasievoller „Finanzprodukte“,  deren Verkäufer und Käufer den Sinn für die Realität verlieren.

Die dritte Folge schliesslich ist die Destabilisierung auch der Realwirtschaft durch die gewaltigen Schuldenberge. Schulden, da auf Vertrauen basierend, führen leicht zu katastrophalen Kettenreaktionen und plötzlichen Abstürzen  ganzer Wirtschaftssysteme (Vertrauensverlust, Kreditverknappung, Konkurse und Panikreaktionen etc).

Was sollte man tun?

Es wäre nicht unmöglich, die künftige Neuentstehung oder Weiterentwicklung dieser Geldblase zu verhindern, wenn man es denn wollte. Zwei Wege dazu müssten wahrscheinlich gleichzeitig beschritten werden.     Die Entstehung übergrosser Kapitalvermögen müsste verhindert werden,  etwa  durch die Beschränkung von Kapitalgewinnen (bei gleichzeitiger Sicherstellung, dass die Kapitaleigner ihr Geld nicht aus dem Umlauf ziehen) etwa durch steuerliche Massnahmen, eine gegenüber dem Kapital stärkere Beteiligung der Arbeit an den Produktionsgewinnen oder eine stärkere Beteiligung des Kapitals an der Finanzierung der Sozialwerke.  Und die Umlaufgeschwindigkeit liesse sich durch Karenzfristen für den Handel mit Finanzwerten oder durch negativ mit der Besitzdauer korrelierte Abgaben senken.

Aber alle denkbaren Massnahmen würden in etablierte Eigentumsrechte und in die Wirtschaftsfreiheit eingreifen, die zu den Grundpfeilern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gehören.  Das wären keine leichten Entscheidungen. Aber wenn unsere Diagnose richtig ist, dass der Kapitalismus quasi am eigenen Erfolg zu ersticken droht, brauchen wir einen anderen, reformierten Kapitalismus;  dieser wird auch eine Neukonzeption der Finanzwirtschaft enthalten müssen. Allerdings, in einem globalen Wirtschaftssystem, in dem die Nationalstaaten im Wettbewerb  um Finanzmärkte und Kapital stehen, sind grundlegende Änderungen nicht leicht zu erreichen.

Künftige Entwicklungen

Die aktuelle Krise hat weltweit zu einer Verringerung der Kapitalvermögen um ca. 12% geführt (DER BUND online vom 15.9.09). Es ist nicht klar, ob das ausreicht, um eine längere Ruhepause einzuleiten. Jedenfalls wird es über kurz oder lang wieder zuviel Kapital geben.  Und es spricht wenig dafür, dass Regierungen und internationale Organisationen die Blase der Geldvermögen, ihre Ursachen und gefährlichen Folgen erkannt hätten; sie beschäftigen sich lieber mit weniger grundsätzlichen, aber populären Massnahmen wie den Löhnen für Bankmanager. Die vieldiskutierte Begrenzung der Kreditschöpfung der Banken durch erhöhte Eigenmittelanforderungen wird zwar das Buchgeldvolumen begrenzen, aber kaum in ausreichendem Mass.  Also dürfen wir erwarten, dass bald von neuem ein grosser Anlagedruck entstehen wird. Er wird sich wahrscheinlich ein neues Ventil suchen – welches, ist kaum vorauszusehen. Banken und Finanzinstitute suchen dann nach „sicheren Werten“ – zur Zeit nach Gold. Vielleicht wird es auch bald zu Preisanstiegen in den Rohstoff-, Energie- und Wertpapiermärkten kommen, mit den entsprechenden sozialen Folgen. Und die hoch verschuldeten Staaten sind schlecht gerüstet, einer neuen Krise zu begegnen.

Das Versagen der Ökonomie

Um die oben vorgestellte Analyse zu widerlegen, müsste man das Wachstum der Geldvermögen und den überhöhten Umsatz der Finanzmärkte   gestützt auf Fakten bestreiten; oder zeigen, dass die  Folgen der dadurch verursachten Schwemme unschädlich sind. Die Wirtschaftswissenschaften haben es bisher vorgezogen, das Problem zu ignorieren, wohl weil (nach Christian Morgenstern)  „nicht sein kann was nicht sein darf“. Dabei sind diese Gedanken nicht neu; Aussenseiter wie Margret Kennedy oder Helmut Creutz haben schon vor 10 Jahren auf den Überhang an Geldvermögen hingewiesen, politisch aktive Fachleute wie Heiner Flassbeck (UNCTAD) immer wieder auf die Folgen. Hätte die Ökonomie eine genügend entwickelte Geldtheorie, müsste sie das heutige kapitalistische Geldwesen infrage stellen. Aber an den Grundfesten der bestehenden Finanzwirtschaft oder gar des Kapitalismus zu rütteln ist tabu.

Wissenschaften versagen, wenn sie aus ideologischen Gründen wichtige Sachverhalte aus der Diskussion verbannen, so wie es die Ökonomie hier zu tun scheint. Dann ist es Zeit für Laien, für Nachbardisziplinen und für die Öffentlichkeit, sich mit dem Problem zu beschäftigen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 27-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet; Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Gy; Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Kurt Imhof, Soziologe, Universität Zürich; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Franz Schultheis, Soziologe, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Beat Sitter-Liver, Praktische Philosophie, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

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