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Marktwirtschaft und Wohlstand: was lehrt uns die Geschichte?

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 6. Oktober 2008

In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird häufig argumentiert, „…dass Marktwirtschaft und Kapitalismus …. ganz real Milliarden von Menschen historisch beispiellosen Wohlstand gebracht haben. Deren Leistungen, nach dem Krieg in Westeuropa und über die letzten 20 Jahre auf der Welt, sind überwältigend“ (Th. Held und B. Zürcher in der Sonntagszeitung vom 18.05.08; ähnlich andere Feststellungen). Und die Argumentation wird oft weiter zu dem Schluss geführt, dass die Marktwirtschaft möglichst frei von gesellschaftlicher Kontrolle funktionieren soll: das allein könne unseren künftigen Wohlstand sichern. „In zentral gelenkten Wirtschaftssystemen leiden die Menschen meist unter Unfreiheit, Mangel und Not.“ (avenir aktuell+ August 2008, S.8). Nun soll weder bestritten werden, dass Marktwirtschaft** unter den Bedingungen der globalisierten modernen Wirtschaft das beste bekannte wirtschaftliche Funktionsprinzip darstellt, noch soll einem staatlichen

Dirigismus das Wort geredet werden. Aber es könnte sich lohnen, die historischen Bedingungen vergangener wirtschaftlicher Erfolge in Erinnerung zu rufen. Denn Wirtschaft kann nicht abstrakt verstanden werden; sie steht immer in einem historischen, gesellschaftlichen und politischen, heute weltpolitischen Kontext.

Der Erfolg der Marktwirtschaft in den westlichen und asiatischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beruhte auf den gegebenen Bedingungen grossen Bevölkerungswachstums, des Nachholbedarfs nach dem kriegsbedingten Niedergang, der Finanzhilfe durch den von den USA finanzierten Marschallplan und schliesslich der Konkurrenz mit dem sowjetischen System im kalten Krieg.

Für eine längere Zeitdauer gelang es, die Probleme des Wachstums und der Verteilung zugleich zu lösen; dieses System stand im Einklang mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen, es wurde als fair empfunden, motivierte die Bevölkerung und belebte den Konsum. Der Aufschwung wurde von einer optimistischen und leistungswilligen Bevölkerung erarbeitet, die ihr Leben verbessern wollte. Die als hinreichend gerecht empfundene Verteilung erwies sich als wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Eine wirklich „freie“ Marktwirtschaft hat es in den „goldenen Jahrzehnten“ zwischen 1950 und 1970 (einer Epoche, in der ökologische Kriterien weniger wichtig schienen als heute) nirgends gegeben; ganz im Gegenteil haben überall unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Regulation oder Steuerung zur Steigerung des allgemeinen Wohlstandes beigetragen. In den grossen Ländern West- und Mitteleuropas geschah der Aufschwung nach der Katastrophe des 2. Weltkriegs überall in einer Form der „gemischten Wirtschaft“ , einer Mischung von Marktprozessen und staatlichem Einfluss; dabei war, im Rahmen des Keynesianischen Konzeptes der Nachfragewirtschaft, die „Vollbeschäftigung“ das dominierende Ziel. In Deutschland, dem „Wirtschaftswunderland“, versuchte die Soziale Marktwirtschaft „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs in der Gesellschaft“ zu verbinden; kein direkter Einfluss auf die Marktprozesse, aber gezielte staatliche Massnahmen zur sozialen Absicherung der Bevölkerung wie auch die gewerkschaftliche Mitbestimmung in den Aufsichtsräten gehörten zum Rezept. – In der Schweiz gingen der staatliche Einfluss und die soziale Absicherung weniger weit, andererseits kümmerte sich eine sozial verantwortliche Unternehmerschaft um das Allgemeinwohl. Die politische Stabilität, die traditionellen Werten entsprechenden Formen wirtschaftlicher Kooperation (wie in der „Sozialpartnerschaft“ von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, aber auch in den verbreiteten kartellartigen Strukturen), eine starke Währung, eine gut ausgebaute und staatlich geschützte Finanzwirtschaft sowie das traditionelle Qualitätsbewusstsein der exportierenden Industrien machten das Land zu einem bevorzugten Hafen für Anlagen und wirtschaftliche Partnerschaften. – Im Frankreich des Monnet-Plans spielte der Staat eine bedeutende dirigistische Rolle in der Entwicklung und Kontrolle der Marktwirtschaft. – Italien führte die dirigistische Wirtschaft des Faschismus fort und schuf in der ENI ein dominierendes, die übrige Wirtschaft stimulierendes staatliches Energieunternehmen. – In England verstaatlichten sozialdemokratische Regierungen grosse Teile der Wirtschaft und etablierten einen staatlich gelenkten Wohlfahrtsstaat. Auch in den skandinavischen Ländern, insbesondere in Schweden, wurde die Wirtschaft nach sozialdemokratischen Prinzipien dirigiert. – Und selbst was die osteuropäischen Länder anbelangt, war z.B. die sowjetische Planwirtschaft trotz grossen Nachholbedarfs des Landes bis in die achtziger Jahre so erfolgreich, dass man im Westen ernsthaft befürchtete, überholt zu werden.

Aufsehen erregt hat in dieser Zeit die unerhörte Wirtschaftsentwicklung Japans, Koreas, Taiwans und verschiedener südostasiatischer Staaten. Auch hier spielten viele Faktoren eine Rolle, aber wichtig war in allen diesen Ländern, in jeweils verschiedener historisch bedingter Form, die Kooperation einer lenkenden staatlichen Bürokratie mit Unternehmern und Politikern ( z.B. das sog. „eiserne Dreieck“ Japans – damals wirkungsvoll, aber hier nicht etwa zur Nachahmung empfohlen). Und die Wirtschaftspolitik dieser Länder realisierte ungehemmt eine aggressive Aussenwirtschaft mit hohen Exporten, verbunden mit einer protektionistischen Binnenwirtschaft, was vor allem von den USA unter den Bedingungen des kalten Krieges toleriert wurde. Von der Realisierung einer freien Marktwirtschaft waren die so erfolgreichen asiatischen Länder weit entfernt.

Aber in vielen der genannten Länder kam es nach den Jahrzehnten des Aufschwunges, auch hier durch das Zusammenspiel vielfacher Bedingungen, zu erheblichen Schwierigkeiten. Für die europäischen Länder wurde es unter den sich verändernden Rahmenbedingungen (Ende des kalten Krieges) immer schwieriger, den Sozialstaat zu finanzieren. Die Politik der Vollbeschäftigung brachte immer wieder die Gefahr der Inflation mit sich. Die zunehmende Globalisierung gefährdete mit dem einsetzenden Standortwettbewerb die überkommene Sozialpolitik, und die durch den zunehmenden Wohlstand eintretende Sättigung schwächte mancherorts den Leistungswillen. Die asiatischen Länder gerieten in tief greifende Strukturkrisen vor allem ihrer Finanzsysteme. Das alles trug zum Erstarken eines kapitalistischen Wirtschaftsliberalismus bei, der den Staat zurückdrängen, das Ziel der Wirtschaft allein in der Gewinnmaximierung der Unternehmen sehen und das Allgemeinwohl der „unsichtbaren Hand“ des Marktes überlassen wollte. Aber erst der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten liess den Verzicht auf staatliche Massnahmen für den sozialen Ausgleich auch realisierbar erscheinen. In einer rein kapitalistischen Marktwirtschaft sollten die Interessen des Kapitals nun Vorrang vor allen anderen Bedürfnissen besitzen, der allgemeine Wohlstand durch Wirtschaftswachstum erreicht werden. Aber damit öffneten sich in den letzten 20 Jahren die Einkommens- und Vermögensscheren (in der Schweiz besitzen nun die oberen 3% der Bevölkerung 50% des Volksvermögens). Die Wirtschaftskrisen wurden häufiger, aber auch sie haben meist vielfache Ursachen.

Die Wirtschaftsgeschichte lehrt uns, dass zahlreiche und jeweils verschiedene Faktoren den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg eines Landes zu einer bestimmten Zeit bestimmen. Was gestern gut war, kann morgen schlechter sein und umgekehrt (die Privatisierung der argentinischen Staatsbetriebe hat zur katastrophalen argentinischen Wirtschaftskrise von 2002 beigetragen, aber das bedeutet nicht, dass Venezuelas aktuelle Politik der Verstaatlichung richtig ist). Neue Bedingungen erfordern neue Strategien: wir wissen heute noch nicht, wie wir etwa die Risiken des globalen Finanzmarktes oder der immer gigantischer werdenden Konzerne kontrollieren, und den aus dem globalen Standortwettbewerb für unsere Sozialstandards resultierenden Gefahren begegnen können.

Sicher gehört die Marktwirtschaft zum unverzichtbaren Repertoire der modernen Wirtschaftspolitik entwickelter Länder; gleichzeitig finden wir bei ihnen heute fast überall gemischte Systeme aus öffentlicher Wirtschaft, Privatwirtschaft und dem 3. Sektor unbezahlter Arbeit.

Viele Schwierigkeiten erwachsen daraus, dass einer globalen Weltwirtschaft nationale Regierungen einerseits und eine schlecht koordinierte Vielfalt internationaler Organisationen anderseits gegenüberstehen. Es gibt schon eine Weltwirtschaft, aber noch keine moralisch gerüstete und rechtlich verfasste Weltgesellschaft, und es sieht nicht so aus, als ob es sie bald geben wird.

Was aber staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsprozesse anbelangt, sollten wir mindestens zwischen drei verschiedenen Handlungsebenen unterscheiden: den Massnahmen zur Gestaltung und dem Schutz der Marktordnung (z.B. Kartellrecht), den Eingriffen in die Marktprozesse selbst (wie etwa in die Gestaltung von Preisen oder Löhnen) und der Korrektur der Ergebnisse der Marktprozesse (z.B. Verteilung des Sozialproduktes). Sie alle können, je nach den Umständen, gute oder schlechte Auswirkungen haben, werden aber in jedem Fall unterschiedliche Interessen berühren und daher Unterstützung oder Widerstand hervorrufen. Eine gute Wirtschaftspolitik muss sorgfältig erwägen, auf welchem Niveau ein gegebenes Problem liegt: Fehler der Marktordnung können z.B. nicht durch Eingriffe in die Marktprozesse dauerhaft gelöst werden.

Wir entscheiden und handeln oft in Ungewissheit. Aber die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft, die wir weder neu erfinden müssen noch können, zeigen uns die Richtung, wenn Wege und konkretere Ziele unsicher sind; vor allem sollten wir nicht gegen sie handeln. Zu diesen Wertvorstellungen gehören die Freiheit (auch der Wirtschaft), aber auch der soziale Ausgleich. In unserer direkten Demokratie werden sie sich letzten Endes behaupten.

Um Erfolg zu haben, muss eine Wirtschaftsordnung auch als gerecht empfunden werden. Es ist weder aussichtsreich noch wünschenswert, das Volk durch Agitation, Angstmacherei und wirtschaftlichen Druck quasi umzuerziehen; allzu grosse Ungleichheit wird es nicht akzeptieren. – Zu den traditionellen Handlungsmaximen unseres kleinen Landes gehören auch die Vorsicht und die Sorge, bei der Reise ins Unbekannte möglichst niemanden zurückzulassen. Damit sollten wir auch in Zukunft sicherer fahren.

 

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 22-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.
Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4051 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10; www.rat-kontrapunkt.ch

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