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Steueroptimierung oder Steuerstreik?

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 29. Januar 2014

In der EU wie auch in den USA und anderen Ländern der OECD geht eine staatliche Schuldenkrise um. Ihre Ausgabenseite ist in aller Munde, von ihrer Einnahmenseite ist selten die Rede. Die zunehmenden Ungleichgewichte zwischen wachsenden Staatsausgaben und stagnierenden oder gar zurückgehenden Staatseinnahmen können aber nicht einseitig nur durch Sparen zurechtgerückt werden. Eine besonders folgenreiche Rolle spielt in dieser Ungleichgewichtsdynamik die seit den 70er Jahren zunehmende Tendenz von Privaten und Unternehmungen, um jeden Preis Steuerzahlungen zu reduzieren. Diese Tendenz hat sich inzwischen zu einer eigentlichen Steuerstreikbewegung der Privilegierten entwickelt und wird im Folgenden durchleuchtet.

 

Im medialen und auch politischen Dauerwirbel um Dinge wie das bald schon museale Bankgeheimnis, Steuerwettbewerb, Finanzkrise, too-big-to-fail-Banken und ihre staatliche Rettung, Enthüllungen von Wikileaks, Jagd nach entgangenen Steuermilliarden, Steuerparadiese – in diesem Wirbel taucht gelegentlich auch der Begriff der Steueroptimierung auf. Er verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm gewöhnlich gewidmet wird. Neben der fast überall illegalen Steuerhinterziehung gibt es auch eine weit verbreitete legale Steueroptimierung, die eben nicht gesetzeswidrig ist und insofern auch nicht verfolgt werden kann. Gemeint ist damit die systematische Ausnutzung gesetzlicher Lücken und fiskalischer Unterschiede bei Besteuerungspraktiken und Steuersätzen, vor allem im internationalen Rahmen, mit dem Ziel, gesamthaft so wenig Steuern wie möglich zu bezahlen, am besten gar keine.

Wie passiert das? Wer sind die wichtigsten Akteure? Welchen Umfang hat das Ganze? Was sind die Folgen?

Beginnen wir mit dem Wie. Eine erschöpfende Aufzählung der verwendeten Mittel dürfte kaum möglich sein und ist hier auch nicht nötig, einige Beispiele können genügen. Eine „einfache“ Technik besteht beispielsweise darin, mit einem grösseren Kredit eine Lebensversicherung zu kaufen. Kredit und Guthaben gleichen sich dabei mehr oder weniger aus, der Kredit schlägt in der Steuererklärung als Schuld zu Buche und reduziert das zu versteuernde Vermögen. Fiskalisch interessanter ist dabei, dass der für den Kredit zu bezahlende Zins ausserdem das steuerbare Einkommen reduziert – und zudem oft geringer ist als der Abzinsungsfaktor des Versicherungsbetrages, sodass die Operation sogar noch einen direkten Gewinn abwirft. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mit einem Teil des Vermögens eine Familienstiftung zu gründen, deren Zweck es ist, den Lebensunterhalt der Familienmitglieder zu gewährleisten. Stiftungen haben oft eigene Steuerregimes und erlauben es, Steuern zu „sparen“, auch wenn sie nicht schlechthin steuerbefreit sind. Dies sind Mittel der Steuerreduktion innerhalb eines Landes, etwa der Schweiz. Wesentlich folgenreicher sind jedoch die Möglichkeiten, wenn mehrere Länder mit unterschiedlichen Steuersystemen ins Spiel gebracht werden können. Dies gibt vor allem multinationalen Konzernen fast unbeschränkte Optimierungsmöglichkeiten, die alle mit der gezielten internationalen Verschiebung von Kosten und Gewinnen oder von Kapital zu tun haben. Zu denken ist vor allem an die optimale Gestaltung und Verrechnung sogenannter Management Fees, an Lizenzgebühren, gezielt festgelegte Preisdifferenzen oder fiskalisch motivierte Kredite zwischen Konzernfilialen. Ein konkretes Beispiel: Amazon hat ihren Firmensitz in Luxemburg, einem Land mit wesentlich tieferen Konzernsteuern als etwa England, Frankreich oder Deutschland. Am offiziellen Konzernsitz lagern weder Bücher noch werden Rechnungen geschrieben oder einkassiert. Bestellt, erhält und bezahlt ein Kunde in England ein Buch, so erfolgen die physische Operationen in England: dort, also in der Nähe des Kunden, wird das Buch verpackt, verschickt und ausgeliefert. Rein buchhalterisch läuft die Operation jedoch über den Konzernsitz, weshalb die Steuern dafür nicht in England anfallen, sondern im Sitzland Luxemburg. Dieses Beispiel illustriert auch unmittelbar, dass die internationalen Optimierungstechniken lokalen Buchhändlern unzugänglich sind und insofern eine massive Verzerrung der Konkurrenzsituation schaffen.

Eine andere Möglichkeit, die besonders häufig benützt wird, beruht darauf, dass heute zwischen 40% und über 60% des Welthandels konkret Konzerninnenhandel sind. Dies ermöglicht es beispielsweise, die Preise für Rohstoffe oder Zwischenprodukte je nach dem Steuerverhältnis zwischen Produktions-, Weiterverarbeitungs- und Endproduktionsland so festzulegen, dass in steuerhohen Ländern keine Gewinne oder sogar Verluste anfallen, während die entsprechenden Gewinne in steuertiefen Ländern entstehen und entsprechend günstig versteuert werden können. So macht etwa der französische Erdölkonzern Total jährlich 10 Mrd. Gewinn und versteuert davon gar nichts in Frankreich, dasselbe oder analoges gilt für Saint-Gobain, Suez, Colgate-Palmolive (hat den offiziellen Konzernsitz nach Genf verlegt), Starbucks und viele andere mehr. Obwohl sie grundsätzlich bekannt sind, bleiben derartige Praktiken weitgehend im Dunkeln, weil die veröffentlichten Buchhaltungen der Multis verschweigen, welche Aktivitäten in welchen Ländern in welchen Umfängen getätigt werden. Nur die Kenntnis dieser Angaben würde erlauben, die effektiv getätigten Operationen mit den bezahlten Steuern zu vergleichen und die Verzerrungen aufzudecken. Ein Anfang von Reglementierung des transfer pricing besteht in der OECD.

Diese Beispiele führen auch zur Antwort auf die Frage nach den wichtigsten Akteuren. Solche internationale Steueroptimierungen sind einfachen Steuerzahlern und lokal arbeitenden Unternehmungen von vorneherein unzugänglich, sie kommen nur für Inhaber grosser Vermögen und für internationale Firmen in Frage. Blicken wir zum Kontrast auf die Vermögensverhältnisse in der Schweiz: 58% der erwachsenen Männer und 75% der erwachsenen Frauen verdienen in ihrem Erwerbsleben nicht genug, um überhaupt eine 3. Säule zu haben, von der Äufnung eines eigenen Vermögens ganz zu schweigen; rund 20% haben überhaupt kein Vermögen. Zu den wichtigen Akteuren gehören ausserdem Banken (UBS, BNP-Paribas u.a.) und Beratungsfirmen (namentlich KPMG, Ernst & Young, PriceWaterhouseCooper, Deloitte, die zu diesem Thema vor einem Untersuchungsausschuss des englischen Parlaments aussagen mussten). Nur sie haben die nötigen Kenntnisse der internationalen Steuer-, Verfahrens- und Gesetzesunterschiede, entsprechende Geschäftsbeziehungen, und können die nötigen Rechtskonstrukte für ihre steuersparwilligen Kunden aufbauen. Dafür werden über 60 „safe havens“ auf der ganzen Welt benützt, etwa die europäischen Kanalinseln (Jersey, Guernsey, die zu Grossbritannien gehören), die Cayman-Inseln, die Bermudas, der USA-Staat Delaware (beim grössten Beherbergungsbüro dort sind allein über 285’000 Unternehmungen eingetragen, mehr als die Hälfte der an der Wall Street kotierten Firmen „sitzen“ in Delaware), Schweiz, Luxemburg, Monaco, Singapur, Panama, Bahrain, Jungferninseln, u.v.a.m. Zu den Akteuren dieses Spiels sind auch die politischen Autoritäten (Parlamente, Regierungen) zu rechnen, die durch ermässigte Steuersätze und Veranlagungsregeln mehr oder weniger aktiv den sogenannten Steuerwettbewerb (race to the bottom) anheizen.

Eine weltweite Evasionsindustrie wird so sichtbar, die die Nachfrage nach Steueroptimierung befriedigt. Deren Umfang lässt schon die Tatsache erahnen, dass zwischen 40% bis über 60% des Welthandels heute Konzerninnenhandel sind. Nach Schätzungen entsprechen die in Steuerparadiesen domizilierten, unversteuerten Vermögen 2/3 der kumulierten Schulden der Welt, also rund 21’000 – 30’000 Mrd. US-Dollars! Es existiert sogar ein International Tax Award für die erfolgreichste Steuerberatung, sprich Steuermontage. Kehrseite dieser Medaille ist eine Serie von schwergewichtigen Verurteilungen, die oft in die hunderte von Millionen Dollars gehen (z.B. KPMG für über 400 Mio., UBS für 789 Mio.). Die zu machenden Gewinne sind so viel höher, dass derartige Bussen als normale Transaktionskosten erscheinen.

Griechenland gehört als konkretes Beispiel unmittelbar in diesen Zusammenhang: in keinem anderen europäischen Land werden so wenig Steuern bezahlt wie dort. Grosse Vermögenskategorien wie Reeder oder auch die Kirche sind offiziell steuerbefreit; die Schätzung der jährlichen Steuerhinterziehung beläuft sich auf 40-45 Mrd. € pro Jahr, das entspricht 15-20% des Bruttoinlandprodukts. Ausserdem beläuft sich die Schätzung der nicht fiskalisierten griechischen Auslandguthaben auf 200 Mrd. €, also ungefähr so viel wie das nationale Bruttoinlandprodukt. Diesem massiven Manko auf der Einnahmenseite wird unter EU-Druck einseitig mit staatlichen Sparmassnahmen begegnet (Ausgabenseite). Das Resultat kann ohne Übertreibung als administriertes Staatsversagen bezeichnet werden (z.B. im Gesundheitssystem, bei den Renten, den Infrastrukturen, im öffentlichen Dienst allgemein) und drängt grosse Teile der Bevölkerung in die Verarmung.

Der Unterschied zwischen Optimierung und Hinterziehung (wie er von vielen Banken, u.a. der UBS, praktiziert wurde, mit aktiver Akquisition reicher Kunden, namentlich über mondäne Events wie Regatten, Tennistourniere, Konzerte u.ä.) verliert angesichts dieser Fakten weitgehend seinen Sinn, denn beides hat sozial und ökonomisch dieselben Folgen: den Staaten werden wichtige Einnahmen entzogen, die sie entweder bei den übrigen, weniger begüterten Steuerzahlern zu holen versuchen, die nicht ausweichen können, durch Einsparungen kompensieren (vor allem durch Reduktion des öffentlichen Dienstes, wie sie gegenwärtig in den problematischeren Mitgliedländern der EU stattfindet, etwa in Portugal oder Spanien) oder indem sie ihre Verschuldung noch weiter erhöhen. So oder so ziehen die Unter- und Mittelschichten den Kürzeren, weil die Privilegierten sich „legal“ ihrer Bürgerpflicht entziehen. Die Annahme scheint zumindest plausibel, dass dies heute im internationalen Rahmen einer der wichtigsten Ungleichheitsmechanismen ist, die am Werk sind. Steuerflucht erweist sich als eine versteckte Plünderung nationalen Reichtums, denn nicht nur decken in vielen Fällen die dennoch bezahlten Steuern nicht einmal die Nutzung staatlich finanzierter Infrastrukturen (man denke ans Transportsystem, aber auch an rechtsstaatliche Dienstleistungen usw.), sondern ein grosser Teil des im Land erzeugten Mehrwertes wird dergestalt ins Ausland transferiert. Dementsprechend falsch fallen denn auch die Statistiken über die nationale Wertschöpfung und über Einkommens- und Vermögensungleichheiten aus.

Zu den Folgen der weltweiten Steueroptimierung gehört nicht nur die massive Konkurrenzverzerrung zu Ungunsten lokaler und zugunsten internationaler Firmen, auf die bereits anhand des Buchhandels hingewiesen wurde. Auch die Steuergerechtigkeit wird durch solche Praktiken untergraben. Noch schwerwiegender ist die daraus resultierende Gefahr für die Demokratie und allgemeiner für den Vorrang der Politik (nationale Regierungen und Parlamente) vor der Wirtschaft (vor allem in Gestalt der Multis). Wir erleben hier eine massive Machtverschiebung, zum Einen von der nationalen auf die internationale Ebene und zum Anderen von politisch verfassten Gemeinschaften zu gewinnmaximierenden Privatunternehmungen. Diese Machtverschiebung ist ein integrierter Bestandteil der Globalisierung: die Steueroptimierer profitieren vom Graben, der zwischen globaler Marktöffnung und der gleichzeitigen Inexistenz globaler Regulierungen aufgerissen wurde, und vom dadurch ermöglichten internationalem Steuerwettbewerb. Dazu gehört auch, dass die in einigen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte Sozialpartnerschaft nach 30 „glorreichen Jahren“ aufgekündigt wurde, nach welcher Produktivitätsgewinne gleichmässig zwischen Arbeit und Kapital zu verteilen waren. Nach neuer Managementdoktrin sind Löhne nur noch Kosten, die zugunsten der Kapitaleinkünfte minimisiert werden müssen.

Problematisch ist an diesen Vorgängen weniger die Illegalität gewisser Praktiken als ein Rechtssystem, das systematischen legalen Steuerentzug ermöglicht. Kofi Annan hat das in einer Ansprache am Genfer IHEID (Equity in extractives: managing Africa’s mineral wealth, 26.9.2013) klar auf den Punkt gebracht: „Tax avoidance may be legal, yes, but its extremes have become immoral, unconscionable, and unacceptable.“ Daran sollten Schweizer Politiker denken, wenn sie zum Budgetausgleich einmal mehr nach „mehrheitsfähigen Sparideen“ suchen (Titel der NZZ am 9.10.2013).

Dieser Artikel wurde erstveröffentlicht (in gekürzter Fassung) in der NZZ vom 29. Januar 2014.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Universität der italienischen Schweiz; Prof. em. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. em. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Dr. h.c. Beat Sitter-Liver, Philosophischer Ethiker, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Dr. h.c. Rudolf H. Strahm, Herrenschwanden; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., Volkswirtschaftlerin, Universität Zürich.

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