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Eigenverantwortung erfordert Befähigungen

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Von Kontrapunkt* vom 14. Juli 2006

Für verschiedene Bereiche öffentlicher Leistungen an Private wird aus liberalen Kreisen mehr Eigenverantwortung der Individuen gefordert, vor allem um den Sozialstaat zu entlasten. Dazu bedarf es aber spezifischer Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik und vonnöten sind Bildung und Ausbildung der Menschen.

Die Schweiz ist ein demokratischer Bundesstaat, sie ist zudem ein freiheitlicher und ein sozialer Staat. Sie betrachtet ihre Bevölkerung einerseits als autonome Menschen und anderseits als Wesen, die der Gemeinschaft bedürfen. In diesem Spannungsfeld gestaltet sie ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Einrichtungen des Sozialstaates widerspiegeln die demokratisch gefundene Balance zwischen der Eigenverantwortung der Menschen und ihrer staatlichen sozialen Sicherung.

Aktuelle Parteiprogramme plädieren für mehr Eigenverantwortung der Bevölkerung und geringere öffentliche Leistungen, um den Staatsaufwand und damit auch die Steuerlast zu senken. Jede gemischte Wirtschaftsordnung bietet Spielräume für das Ausmass der Eigenverantwortung und jenes einer kollektiven Verantwortung. Ich frage hier nach den Voraussetzungen und Bedingungen für die Eigenverantwortung und nach ihrem wohlverstandenen Inhalt.

Zum Modebegriff Selbstverwirklichung in der Psychologie hat sich in der politischen Philosophie jener der Eigenverantwortung gesellt und beide schwimmen im Trend eines neuen Individualismus. In der politischen Debatte wird dieser Begriff zur Reduktion der Staatsverantwortung strategisch eingesetzt. Nun ist es dringend notwendig geworden, im öffentlichen Diskurs dazu einen Kontrapunkt zu setzen, ohne die berechtigten Anliegen auszuhebeln. Nichts gegen die Emanzipation des Menschen von Fremdbestimmung und nichts gegen die Verfolgung persönlichen Glücks. Aber Selbstverwirklichung, auch Eigenverantwortung und Streben nach Glück können scheitern, dann fällt der Mensch in Not, Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Auch wer bereit ist, mit seinem Lebensentwurf  heroisch unterzugehen, ist letztlich auf Hilfe angewiesen. Und dafür setzt die Gesellschaft Schranken.

Wofür soll der Mensch verantwortlich sein, wenn er eigenverantwortlich handelt? Für seine Gesundheit, für seine Lebenszeit, für seinen Lebensunterhalt, für das Wohlergehen seiner Familie, eigentlich für alles, was nicht einer höheren Gewalt unterstellt werden kann? Als soziales Wesen trägt der selbstverantwortliche Mensch auch Verantwortung für die Andern. Er handelt selbstgerecht, wenn er in seinem Handeln die Konsequenzen für die Andern nicht in Rechnung stellt. Und die Andern handeln selbstgerecht, wenn sie nicht bereit sind, die Risiken mitzutragen, welche ein Mensch trägt, wenn er auf Eigenverantwortung baut. Somit gibt es auch eine kollektive Verantwortung.

In der Tat lässt der schweizerische Sozialstaat den schwerwiegendsten Lebensrisiken der Menschen eine kollektive Sicherung zuteil werden. Im Vordergrund stehen die Risiken von Alter, Tod, Krankheit und Erwerbslosigkeit. Auf ihre zugehörigen diversen heutigen  Sozialversicherungen soll hier nicht näher eingegangen werden. Indessen stelle ich zunächst generell die Frage, worauf zu achten wäre, wollte man der Eigenverantwortung mehr zumuten, allenfalls auch um den Gefahren des Missbrauchs  kollektiver Sicherung präventiv zu begegnen.

In diesem Sinne ist prinzipiell nach der eigentlichen Entscheidungsmacht in allen Bereichen menschlichen Handelns zu fragen. Liegt sie beim Individuum und wieweit ist dieses in seinem Handeln bedingt, begrenzt oder mitbestimmt durch die Familie, das Erwerbsumfeld, die Umwelt oder das Staatsganze mit seinem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem? Der Mensch kann nicht verantwortlich sein für etwas, das nicht in seiner wirklichen individuellen Entscheidungsgewalt liegt.

Um die Abstraktion aufzubrechen, verweise ich illustrativ auf  eine Handvoll konkreter Beispiele sozialversicherter Risiken:

o  Lungenkranke Raucher und Nichtraucher: Seit wir wissen, dass auch Passivrauchen krank machen kann, gefährden Raucher auch nichtrauchende Dritte, was die Verantwortlichkeiten ändert.

o  Psychisch Invalide: Jede psychische Invalidität ist komplexer Natur, abhängig von der biologischen und sozialen Beschaffenheit des betroffenen Individuums. Welche sind echte Invalide, welche sind Scheininvalide? Wer und was macht Menschen zu psychisch Invaliden?

o  Arme Alte und arme Junge: Das Armutsrisiko differenziert sich unter anderem nach dem Alter. Es gibt arme Alte und arme Junge, je nach Kausalität ein spezifisches Phänomen. Welches Risiko kann und soll wie versichert werden? Sind die modernen working poor selbstverschuldet oder fremdverschuldet?

o  Arbeitslose: Die Organisation der Arbeitslosenversicherung zeigt interpretiert nach dem Verursacherprinzip eine gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern insoweit als diese je hälftig für die Prämien aufkommen. Im Blick auf die Existenzsicherung der Langzeit-Arbeitslosen verändert sich das Bild, weil diese nicht mehr von der Wirtschaft getragen werden; auch der Bund stiehlt sich aus der Verpflichtung und überlässt diese den Kantonen und Gemeinden.

Diese knapp beleuchteten Beispiele lassen erkennen, wie unterschiedlich sich die Entscheidungsmacht und damit die Verantwortlichkeit der Individuen bei den verschiedenen Risiken ausnehmen. Dabei ist auch zu beachten, dass die mündigen Menschen einerseits Wirtschaftsakteure und anderseits – gemäss demokratischer Ordnung –  Politikakteure bilden. Daraus ergibt sich eine doppelte Struktur der Verantwortlichkeit der Individuen für ihr Leben.

Neben die wirtschaftliche Eigenverantwortlichkeit gesellt sich eine kollektive politische Verantwortlichkeit, wobei das Kollektiv ein familiäres Netzwerk oder ein staatliches Auffangnetz sein kann. Als Politikakteur kann die Bürgerschaft kollektive Verantwortung organisieren und institutionalisieren, die den Wirtschaftsakteuren Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Eigenverantwortung schafft. Auch hier gibt es ein grosses Spektrum von Möglichkeiten. Auf einige Voraussetzungen oder Befähigungen oder Rahmenbedingungen will ich noch hinweisen.

Bezüglich des Risikos Krankheit lässt sich die Problematik einfach aufzeigen. Wenn die Werbung für Medikamente dem Konsumenten empfiehlt: Lassen Sie sich von einer Fachperson beraten oder/und lesen Sie die Packungsbeilage, dann geht es vornehmlich um eine Haftungsabwehr. Für mich steht aber das Befähigungsproblem zur Eigenverantwortung

im Vordergrund. Die Menschen müssen lesen können, sie müssen überdies verstehen können, was sie lesen. Wie die jüngsten PISA-Studien (Programme for International Student

Assessements) lehren, gibt es diesbezüglich grosse Defizite. Auch Teile der schweizerischen Bevölkerung haben ein Ausbildungs- und Bildungsdefizit; es gibt Zertifikatsarmut und Kompetenzarmut. Wer der Bevölkerung mehr Eigenverantwortung verpassen will, muss bereit sein, Massnahmen zu fordern, die den Menschen helfen, diese echt befähigt wahrzunehmen. Beim gewählten Beispiel des Krankheitsrisikos können die Krankenkassen als Institutionen einer teilweise delegierten Eigenverantwortung begriffen werden. In den Versicherungsordnungen werden die Kassenleistungen festgehalten und die Eigenverantwortlichkeiten abgesteckt.

Ich möchte es der Leserschaft überlassen, meine Argumentation noch etwa auf das komplexe Problem der Arbeitslosigkeit in Anwendung zu bringen. Sind die Arbeitslosen schlechte Schmiede ihres Glücks? Oder sind die Politiker und Politikerinnen des Bundes zu wenig befähigt oder zu wenig willig, den Verfassungsauftrag zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit zu erfüllen? Oder fehlt es den Verbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern an der Einsicht und dem Willen als verantwortungsvolle Sozialpartner endlich eine effiziente und gerechte Ordnung für die Erwerbsarbeit zu finden und umzusetzen?

Den Menschen auf  ideologischem Hintergrund  Eigenverantwortung zu predigen, ist offensichtlich leichter, als sie mit einer qualitativen Bildungsoffensive dafür als Individuen oder Gemeinschaften zu befähigen. Ueberall, wo mehr Eigenverantwortung für die Menschen  eingefordert wird, müssen die notwendigen Voraussetzungen vorhanden sein oder erst geschaffen werden. Das ist Gegenstand der kollektiven Verantwortung. Bildungspolitik ist auch Sozialpolitik. Für die Handlungsfreiheit der Individuen entsteht dadurch keine Gefahr und für die Wohlfahrt der Gesellschaft ein Gewinn.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:

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