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Freiheit und Verantwortung im „freien Markt“

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Von Kontrapunkt* vom 23. September 2009

Immer wieder steht die Politik vor der Frage, wie gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme zu lösen sind: durch staatliche Steuerung oder durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb? Soll der Ölpreis den Ausstoss von CO2 reduzieren oder soll eine Lenkungsabgabe dazu motivieren, den Verbrauch von Erdöl zu reduzieren?  Soll der Weltmarkt die Bauern zu wettbewerbsfähigen Unternehmern machen oder soll die Landwirtschaftspolitik einen sozial verträglichen Strukturwandel herbeiführen? Sollen die Unternehmen die arbeitslosen Jugendlichen zu Marktbedingungen beschäftigen oder soll der Staat die Jugend bis zu ihrer Erwerbsfähigkeit unterstützen? In unserer liberalen Rechts- und Staatsordnung neigen wir oft unwillkürlich dazu, Probleme unserer Gesellschaft primär dem Markt anzuvertrauen, weil wir den Markt als Freiheit und den Staat als Zwang verstehen. Das ist allerdings ein doppelter Irrtum.

Die Marktwirtschaft ist gewiss jene Wirtschaftsordnung, welche dem Einzelnen die grösste Entfaltungschance gewährt. Sie ist die Wirtschaftsform der individuellen Freiheit und der Eigenverantwortung des Einzelnen. Zugleich ist sie ein Erfolgsmodell für kollektives wirtschaftliches Wachstum. Diese Überlegenheit freier Märkte gegenüber anderen Wirtschaftsformen wird oft damit begründet, dass im sogenannt „freien Markt“ anstelle zentral gesteuerter Prozesse die „unsichtbare Hand“ des Marktes nach Adam Smith wirken könne (so die Broschüre von avenir suisse: „Wirtschaftspolitische Mythen, Argumente zur Versachlichung der Debatte, Zürich 2006, S. 8). Das klingt gut und deckt sich mit der Erfahrung, dass unser Wirtschaftssystem sowohl individuellen Nutzen wie kollektiven Erfolg möglich macht. Stimmt es aber wirklich?

Die These, der freie Markt bewirke aus eigener Gesetzmässigkeit Wohlstand für alle, ist so, wie sie heute vertreten wird, ein Mythos. Adam Smiths „unsichtbare Hand“ ist nämlich kein Marktgesetz, kein dem Markt immanentes Funktionsprinzip, welches das Gemeinwohl fördert. Sie ist vielmehr die Hand Gottes, an welche Smith noch glaubte. Die „Vorsehung“, die „Natur“, das „göttliche Wesen“ oder auch „Gott“ standen neben der „unsichtbaren Hand“ für das Bild einer prästabilisierten Harmonie. Die Sorge für das allgemeine Glück war die Aufgabe Gottes und nicht jene der Menschen. Damit war für ihn die göttlich gewährleistete Harmonie in Kosmos und Gesellschaft die glaubensmässige Voraussetzung für die Freilassung des ökonomischen Eigeninteresses und der Marktkräfte. Ganz anders die moderne Ökonomik: Sie streicht Gott aus ihren Grundlagen und verkehrt Ursache und Wirkung: Harmonie ist nicht mehr Voraussetzung, sondern Ergebnis des „freien Marktes“. Der Markt übernimmt die Aufgabe Gottes. Der Ökonomismus ist damit verdeckte Metaphysik. Die „Glaubensgemeinschaft der Ökonomen“ (Hans Christoph Binswanger) beruht selbst auf einem Mythos (dem nicht mehr reflektierten  stoischen Gleichgewichtsglauben).

Die Rede vom „freien Markt“ ist ohnehin doppeldeutig: Wer ist da eigentlich frei, der Markt oder die Marktteilnehmer – das System oder die Menschen?  Falls es der  Markt ist, der frei sein soll: Wird da eine Marktwirtschaft ohne Grenzen gefordert, ist da ein entfesselter Markt als eine Form von Sozialdarwinismus gemeint, in dem das Recht des Stärkeren zählt? Falls es der Mensch ist, der im Markt frei sein soll: Kann das stimmen? Macht Wettbewerb den Einzelnen wirklich frei?Wettbewerb ist ja keine Freiheit, sondern ein Zwang. Er ist eine Marktinstitution, welche die Menschen zur Konkurrenz zwingt. Die Freiheit, die wir mit der Marktwirtschaft eigentlich anstreben, muss eine Freiheit der Menschen sein, nicht eine Freiheit der Institutionen. Ziel ist die freie und gleiche Entfaltungsmöglichkeit aller in Gesellschaft und Wirtschaft. Diese Freiheit als Eigenverantwortung ist sicher zentral für unser Menschenbild. Aber schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass alle eigenverantwortlich am Markt handeln können? Besteht Chancengleichheit? Auch sie ist ein Postulat, keine Realität. Wir dürfen die eigenen Ideale nicht mit der Realität verwechseln. Voraussetzung realer Freiheit und Gleichheit ist aber eine gerechte Sozialordnung und dafür brauchen wir den Staat. Der erste Irrtum liegt also darin, dass wir verkennen, dass unsere Freiheit durch den Staat gesichert wird.

Wenn wir den Markt als Institution verantwortungsloser „Freiheit“ (sprich: Macht) organisieren, zerstören wir unsere gesellschaftliche Freiheit. Wenn und soweit wir nicht bereit sind, unsere Pflichten freiwillig wahrzunehmen, müssen wir den Staat damit beauftragen, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Wer Macht hat, ist immer in Versuchung, seine Freiheit zu missbrauchen, wenn von ihm keine Verantwortung eingefordert wird.  Je mehr wir uns als Egoisten verstehen (sog. rationale Nutzenmaximierer), desto mehr Staat braucht es, um unsere Freiheit vor der Freiheit der andern zu schützen und zu bewahren. Es ist paradox: Gerade die ökonomistische Ideologie vom Menschen als reinem Marktwesen (die sich ja liberal nennt), führt zum Anwachsen des Staates. Der Staat erweist sich dann als Freiheit, der Markt als Zwang. Das zu verkennen ist der zweite Irrtum.

Der Markt schafft nur Freiheit, wenn in der Wirtschaft verantwortungsvoll gehandelt wird. Insbesondere die Manager und die Eigentümer von Kapital sind daher verpflichtet, in der Nutzung ihrer wirtschaftlichen Freiheit auch Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgen ihres Handelns wahrzunehmen. Wird hingegen Freiheit von Verantwortung getrennt (wie das die erwähnte Broschüre von avenir suisse tut), wird Freiheit auf ein Privileg jener Mächtigen reduziert, welche die Möglichkeit haben, Kapital zu generieren und damit andere Märkte – insbesondere den Arbeitsmarkt – zu steuern. Dann kann die Freiheit, die uns der Markt gewährt, nicht von allen genutzt werden. Sie schrumpft zu einer Freiheit der „Kapitalisten“ und ist nicht mehr eine Freiheit der ganzen Wirtschaft (geschweige denn eine Freiheit der Gesellschaft und der Menschen, die in ihr leben). Je mehr die Mächtigen aber ihre Freiheit als Privileg ausbeuten, desto eher muss der Staat dafür sorgen, dass Freiheit (gerade auch wirtschaftliche Freiheit) „verfasst“ wird, d.h. politisch zu Verantwortung und zu Solidarität verpflichtet. Der Missbrauch der Freiheit führt zu ihrer Beschränkung.

Gegenüber ökonomistischer Einseitigkeit gibt es zwei Abhilfen: Entweder erkennen die Führer der Wirtschaft ihre soziale und ökologische Verantwortung an und schliessen einen umfassenden Global Compact mit griffigen gegenseitigen Verpflichtungen, oder die Politik muss die Wirtschaft dazu zwingen, indem sie ethische Verantwortung in Rechtspflichten umsetzt. Die Wirtschaft kann aus eigener Einsicht in ihr langfristiges Interesse Massnahmen ergreifen (wie dies etwa im Anschluss an neue Erkenntnisse über die ökonomischen Folgen des CO2-Ausstosses Firmen wie Swiss Re, Shell oder BP nun tun), oder es braucht staatlich verordnete CO2– Abgaben zur Rettung der Umwelt. Das gleiche gilt für die Strukturerhaltung in der Landwirtschaft zur Senkung der Zahl von Working Poor unter den Bauern oder für die Schaffung von Bundesausbildungsplätzen für Jugendliche ohne Perspektive am Markt. Ohne freiwillige Verantwortung  der Wirtschaft zerstört sonst der Markt die Umwelt und schafft Armut unter den Verlierern der Globalisierung.

Das Paradoxon spitzt sich zu: Je ungezügelter die Marktfreiheit, desto stärker das Staatswachstum. Denn dort, wo wir unsere Verantwortung in der Wirtschaft verletzen, muss der Staat an unserer Stelle Verantwortung übernehmen. Wenn wir nicht immer mehr Staat wollen, müssen wir eine Wirtschaft wollen, die soziale Verantwortung trägt.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 25-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Dr. Gabrielle Antille Gaillard, Ökonomin, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Jacques Pasquier-Dorthe, Betriebswissenschafter, Universität Freiburg; Prof. Dr. Franz Schultheis, Soziologe, Universität Genf; Prof. em. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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