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Bürgerfreiheit und zivilisierte Marktwirtschaft

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 19. Oktober 2005

Wider den falschen Gegensatz von „liberal“ und „sozial“

Es war einmal in der frühen Moderne, da hatten die Vordenker des aufgeklärten Bürgertums einen Traum: den Traum einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die sich als solche achten und sich deshalb wechselseitig das Recht zuerkennen, selbstbe­stimmte Entwürfe des guten Leben zu verfolgen und gemeinsam als mündige Bürger die „res publica“, die öffentliche Ordnung des Zusammenlebens, zu gestalten. Wo ist dieses bürger­gesellschaftliche Projekt der allgemeinen Freiheit in republikanischer Gleichheit und Solidarität geblieben? Haben sich die Parteien, die sich hierzulande als „bürgerlich“ zu bezeichnen pflegen, nicht längst davon verabschiedet? Nicht mehr das Credo „Freiheit in bürgerlicher Gleichheit“, sondern das Zwei-Welten-Konzept von „Freiheit oder Gleichheit“ bestimmt heute den realpolitischen Zeitgeist. Im Namen des Liberalismus wird fast pauschal „mehr Freiheit – weniger Staat“ gefordert. In der entsprechend polarisierten realpolitischen Debatte sind die emanzipatori­schen Ideale der bürgerlichen Vordenker aus dem Blick geraten. Dieser Beitrag möchte die durchaus soziale Perspektive des Bürgerliberalismus erneuern; er zielt auf grundsätzliche Klärung, nicht auf die Lösung konkreter Einzelprobleme.

Zur Geschichte des bürgerlichen Emanzipationsprojekts

In keinem anderen Land Europas war die bürgerliche Revolution von 1848 so erfolgreich wie in der Schweiz. Der frühbürgerliche Liberalismus war ein republikanischer Liberalismus, der den Geschäftssinn der Bourgeois in den politischen Bürgersinn der Citoyens einzubinden verstand und gerade daraus seine Stärke bezog. Das hat viel mit der Tradition einer sich föderalistisch und basis­demokratisch von unten nach oben legitimieren­den politischen Kultur des „öffentlichen Vernunftgebrauchs“ (Kant) der Bürger zu tun. Diese integrale Ausrichtung des Bürgertums war für die Schweiz charakteristisch, wie der amerikanische Historiker Gordon Craig in seinem fesselnden Buch Geld und Geist – Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830-1869 aufgezeigt hat. Das Bürgertum war „staatstragend“, weil es begriff, dass niemand anders als der Staat, verstanden als republikanisches Gemeinwesen, das Kostbarste gewähr­leistet, was es für freie und souveräne Bürger gibt, nämlich ihre Bürgerrechte. Es wäre den freiheitlich-demokratischen Vordenkern der Gründerzeit niemals in den Sinn gekommen, den Staat – ihren Staat! – notorisch schlecht zu reden und zum (klein zu haltenden) Inbegriff aller Übel abzustempeln, wie das rezente Libertäre heutzutage so gerne tun.

Diese verhängnisvolle Tendenz setzte erst mit der Zuspitzung der sozialen Frage ein. Dazu kam es in Folge der raschen Produktivitätssteigerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das enorm hohe Wirtschafts­wachs­tum dieser Zeit löste die sozialen Probleme keineswegs von selbst – was denjenigen zu denken geben müsste, die heute den Ruf nach Wachstum für das Patentrezept zur Lösung aller sozialen Fragen halten. Während in anderen Ländern Europas die gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts aufkommende Arbeiter­bewegung sozialpolitische Reformen gegen das Bürgertum durchsetzte, war es hierzulande dem republikanischen Gemeinsinn des Bürgertums zu verdanken, dass frühe sozialpolitische Regelungen, etwa die zürcherische Fabrikarbeitsgesetzgebung von 1859, der Schweiz das soziale Elend ersparten, das die Industrialisierung anderswo begleitete. Doch im Dilemma zwischen dem unteilbaren Anspruch seines politisch-emanzipa­to­ri­schen Projekts und den eigenen wirtschaft­lichen Partikulärinteressen entschied sich das Bürgertum – wen wundert’s –immer öfter für Letztere. Ein verkürzter Wirt­schafts­­libera­lis­mus dominierte zunehmend den Gemeinsinn und den Universalitätsanspruch des Bürgertums. So wurde dieses immer mehr von einer gesell­schaft­lich progressiven zu einer konservativen Kraft, die ihr emanzipatori­sches Projekt der allgemeinen Freiheit, d.h. einer Gesell­schaft freier, gleicher und mündiger Bürger und Bürgerinnen, fortan der „Demokratischen Bewegung“ der 1860er und 70er Jahre überliess. Zwar gelang noch einmal die Versöhnung von Liberalen und Radikaldemokraten mit der Gründung der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz im Jahr 1894. Aber die fortschreitende soziale Ungleichheit in der Bevölkerung hatte ihren Niederschlag bereits in der Gründung der Sozialdemokratischen Partei gefunden.

Die ideologische Aufgabe, die fatale interessen­partikuläre Verein­nah­mung des bürgerlich-liberalen Emanzipationsprojekts zu überdecken, fällt seither jener marktradikalen Gemeinwohlrhetorik zu, die immer dann bemüht wird, wenn bürger­liche Realpolitik mit den Leitideen einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleicher Bürger besonders augen­fällig unvereinbar ist. Seit der (mehr alt- als „neoliberalen“) Wende von Thatcherism und Reagonomics wird diese Rhetorik vor allem benutzt, um die Parteilichkeit einer Wirtschafts­­politik zu verbergen, die sich allein am deregulierten globalen „Standort­wett­be­werb“ in offenen Weltmärkten orientiert. Dieser bietet angeblich allen Ländern und allen Menschen phantastische Chancen. Eine dieser „Chancen“ besteht darin, dass im Standort­wettbewerb nun endlich auch die staatlichen Rahmenordnungen und mit ihnen die unterschiedlich entwickelten Sozialstaats­­konzepte gegeneinander ausgespielt und der Verwertungs­logik des weltweit renditesuchenden Kapitals unterworfen werden können. Der Vorrang demokratischer Politik und ihres impliziten Zielhorizonts einer Gesellschaft freier und gleicher (Welt-) Bürger kann nun indirekt bekämpft werden, indem auf die „Sach­zwänge“ der globalen Märkte verwiesen wird.

Dieses ökonomistisch verkürzte Liberalismusverständnis weist zwei grosse blinde Flecken auf: Erstens wird ein falscher Gegensatz zwischen „liberal“ und sozial“ unterstellt, und zweitens kommt es zu einer libertären Konfusion zwischen Wirtschafts- und Gesellschafts­politik, indem das Ideal der allgemeinen Bürgerfreiheit auf den „freien“ Markt verengt wird.

Liberal vs. sozial?

Aus der angedeuteten Entstehungsgeschichte des Sozialstaats ist zu verstehen, weshalb er bis heute zwar nicht ausschliesslich, aber doch zu einem wesentlichen Teil eine kompensatorische Sozialpolitik betreibt: Symptombekämpfend rennt diese den Folgen eines entfesselten Wirtschafts­liberalismus hinterher. Unter den Verhältnissen des Standort- und Rahmen­ordnungs­wettbewerbs gerät der Sozialstaat mit der „Sachlogik“ entgrenzter Märkte aber immer mehr in Konflikt und muss sich von deren Protagonisten zunehmend „ökonomische Unvernunft“ vorwerfen lassen, als ob der Sozialstaat die ex­plodierenden sozialen Kosten der ökonomischen Rationali­sierung selbst verursachen würde. Hinter deren eigensinniger Dynamik wird der Sozialstaat immer weiter zurückzubleiben, wenn es nicht gelingt, der blossen Symptombekämpfung gesellschaftlich attraktive Orientierungsideen entgegenzustellen, die an den Ursachen der Probleme ansetzen.

Einen Ansatzpunkt dafür bietet die Arbeit amFreiheitsbegriff. Wohlver­standene Freiheit ist die gleiche grösstmögliche reale Freiheit aller Bürger und Bürge­rinnen – oder sie verdient ihren Namen nicht. Diese Definition enthält zwei konstitutive Momente, die sich beide auf bestimmte soziale Voraussetzungen verallgemeinerbarer Freiheit beziehen: das der prinzipiellen Gleichheit und das der realen Qualität der Freiheit.

Zunächst zur prinzipiellen Gleichheit des Freiheitsanspruchs: In einer wahrhaft freiheitlichen Gesellschaft findet die legitime Freiheit des Einen ihre ethische Grenze stets im gleichberech­tig­ten Anspruch aller Anderen. Der echte Liberale versteht konsequenterweise die Freiheit als kostbares rechtsstaatliches Gut, das allen Bürgerinnen und Bürgern gleicher­massen als ein unveräusserliches Bürgerrecht zusteht. Er begreift m.a.W. die staatsbürgerliche oder republikanische Gleichheit aller als Kriterium einer liberalen Gesellschafts­ordnung. Und er vertritt damit einen politischen Liberalismus (John Rawls), der sich nicht auf puren Wirtschafts­liberalismus reduzieren lässt. Der ethische Kern des politischen Liberalismus, der die emanzipatorische Kraft des bürgergesellschaft­lichen Ideals ausmacht, ist die tiefe Überzeugung von der moralische Gleichheit aller Menschen in ihrer humanen Würde als Subjekten selbstbestimmten Denkens und Handelns.

Das zweite Moment des bürgergesellschaftlichen Emanzipationsprojekts ist in der realen Qualität der Bürgerfreiheit zu erblicken. Reale Freiheit heisst, im Lebensalltag über konkrete Optionen zu verfügen. Nur wer real wählen kann, kann wirklich ein selbstbestimmtes Leben führen. In einer mehr oder weniger durchökonomisierten Gesellschaft hängt die reale Freiheit wesentlich von der verfüg­baren Kaufkraft ab: Nicht mehr allein die grundlegenden Persönlichkeitsrechte (Meinungs-, Glaubens-, Handlungsfreiheit) und die politischen Staatsbürgerrechte machen das Individuum frei und unabhängig, sondern wesentlich auch genügend Geld. An diesem Punkt ist der sozialstaatliche Selbst­anspruch der Bürgergesellschaft festzumachen, wie er schon in Thomas H. Marshalls klassischer Dreiteilung der Bürgerrechte in civil, political und soial rights zum Ausdruck kam. Die republikanische Gleichheit freier Bürger und Bürgerinnen setzt unverzichtbar die Gewährleistung tragfähiger sozioökonomischer Lebens­bedingungen für alle voraus, und zwar aus politisch-liberaler Sicht so weit (und nur so weit), wie dies die Voraussetzung dafür ist, dass der Status und die Selbstachtung jedes Bürgers und jeder Bürgerin als real freie Person nicht verletzt wird.

Wie Avishai Margalit in seinem vielbeachteten Buch über die Politik der Würde gezeigt hat, kommt es dabei darauf an, dass eine „anständige“ Gesellschaft (decent society) mit ihren Regeln und Institutionen niemanden der demütigenden Erfahrung aussetzt, die Kontrolle über das eigene Leben als real freie Person zu verlieren. Wem das passiert, der nimmt sich immer weniger als autonomes Subjekt und immer mehr als Objekt fremder Entscheidungen wahr. Er  verliert deshalb über kurz oder lang seine bürgerliche Selbstachtung. Als besonders demütigend empfunden wird die prekäre Erfahrung, die Existenz nicht durch ein gemäss den gesellschaftlichen Standards normales Einkommen sicher­stellen zu können. Eine bloss kompen­satorische Sozialpolitik vermag daran umso weniger zu ändern, je mehr sie die Form und den Beigeschmack  staatlicher „Fürsorge“ annimmt, um deren einzelfallbezogene Gewährung die Betroffenen „demütig“ ersuchen und wofür sie ihre privatesten lebens­alltäglichen Wahl­mög­lich­keiten den Ermessens­entscheidun­gen von Sozialämtern unterwerfen müssen. Die Scham mancher Leute, den Schritt zum Sozialamt zu gehen, spricht dafür Bände.

Was folgt daraus als springender Punkt? Ein unverkürzt verstandener sozialer Fort­schritt sollte sich nicht einfach im zunehmenden Umfang der nachträglichen materiellen Umverteilung äussern, sondern in der Ausweitung der realen Bürgerfreiheit aller, ein selbstbestimmtes und anständiges Leben führen zu können, so dass der Bedarf nach sozialstaatlichen Transfers für „bedürftige“ Menschen zurückgeht. Wer real frei ist, kann sich selber helfen und benötigt, von Schicksalsschlägen abgesehen, keine „Sozialhilfe“. Wohlge­merkt: Damit stimmen wir keineswegs in den libertären Ruf nach mehr individueller „Eigenverantwortung“ ein, der die Voraussetzungen zumutbarer Selbstbe­haup­tung und Selbstverant­wortung der Bürger ausblendet. Plädiert wird vielmehr für die schritt­weise Umorientie­rung der Sozialpolitik von der materiellen Symptom­­bekämpfung auf die Beseitigung der ursäch­lichen strukturellen Ohnmacht der schwächeren Gesellschaftsmitglieder. Auf eine programmatische Kurzformel gebracht: mehr emanzipatorische Gesellschafts­politik weniger kompensatorische Sozial­politik! Aus der verkürzten Sozialstaats­debatte wird so wieder eine gesellschafts­politi­sche Debatte über die sozioökonomischen Voraus­setzungen verallgemeinerungsfähiger bürgerlicher Freiheit.

Freier Markt oder freie Bürger?

Warum eigentlich ist der „freie“ Markt als Koordinationsprinzip einer freiheitlichen Bürgergesellschaft nicht hinreichend? Das zentrale Problem ist die strukturelle Parteilichkeit des Marktes: Seine „Sachlogik“ bevor­zugt unter den Bedingungen des geltenden Eigentums- und Unterneh­mens­rechts die Einkommens- und Gewinninteressen der­jenigen, die reichlich über verwertbares Kapital verfügen, sei es Finanz-, Sach- oder Humankapital. Anderen Interessen (z.B. Arbeitnehmer­interessen) oder ideellen Anliegen (z.B. Wahrung der Menschenrechte, soziale Gerechtig­keit, ökologische Nachhaltigkeit) steht die Logik des „freien“ Marktes regelmässig entgegen. Denn solche Anliegen und Interessen verursachen aus der Sicht der Kapital­investoren bloss Kosten, die sie folglich minimieren möchten, während ihre Rentabili­täts­interessen als Zielvorgabe des Wirtschaftsprozesses fungieren. Je intensiver der Wettbewerb, umso mehr gilt, was Max Weber schon vor 100 Jahren klar erkannt hat: „Wer sich in seiner Lebensführung den Bedingungen des kapitalistischen Erfolgs nicht anpasst, geht unter oder kommt nicht hoch.“ Der freie Markt ist deshalb vor allem für die Schwächeren und „Unangepassten“ weniger der Hüter ihrer realen Bürgerfreiheit als vielmehr ein lebens­praktischer Zwangszusammenhang. Einseitig nach mehr Markt und intensiverem Wettbewerb zu rufen, macht unter solchen Umständen den Bock zum Gärtner.

Die bürgergesellschaftliche Pointe, die sich daraus ergibt, ist nicht schwer zu erkennen: Um der grösstmöglichen realen Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger willen kommt es darauf an, nicht nur – wie es die Liberalen aller Prägungen immer schon postuliert haben – den Staat, sondern eben auch die Markt­wirt­schaft zu zivilisieren. Und das heisstbuchstäblich die Marktkräfte konsequent in die Bürgerrechte einzubinden. Die sach­zwang­hafte Eigenlogik des Marktes ist kein guter Grund, um die reale Freiheit und Chancen­gleichheit der Bürger und die Gerechtigkeit der Spielregeln ihres Zusam­men­lebens ein­zuschränken – vielmehr gilt in einer wahren Bürger­ge­sell­schaft der freie Bürger mehr als der „freie“ Markt! Andernfalls liegt schlicht eine Verkehrung von Zweck und Mittel vor. Mit Ralf Dahren­dorf, dem vielleicht wahrhaftigsten Liberalen deutscher Zunge, formuliert: „Die Rechte der Bürger sind jene unbedingten An­rechte, die die Kräfte des Marktes zugleich überschreiten und in ihre Schranken verweisen.“

Je härter der Wettbewerb wird, um so wichtiger werden zeitgemäss entwickelte Bürgerrechte in Bezug auf unser „Wirtschaftsleben“ – in einem Wort: Wirtschafts­bürgerrechte. Deren Konkretisierung in den verschie­denen Dimensionen eines zivili­sier­ten Wirtschafts­lebens stellt ein Projekt dar, das unter mündigen Bürgern demokratisch anzugehen ist. Natürlich zielen emanzipatorische Wirtschafts­bürgerrechte auch auf die materielle Verbesserung der Lebenslage der Schwächeren; aber sie tun das vorwiegend indirekt, indem sie die Selbst­be­stim­mungs- und Selbstbe­haup­tungs­chancen und damit den Subjektstatus mündiger Bürger auch im Wirtschaftsleben nachhaltig stärken. Das gilt sowohl für das Privatleben der Individuen als auch für die öffentlichen Angelegenheiten der „Volkswirtschaft“ (Mitsprache am Arbeitsplatz, Sozialpartnerschaft usw.).

Zu den jedermann zu gewährenden Wirtschaftsbürgerrechten gehören zum einen Rechte, welche die Optionen wirtschaftlicher Betätigung erweitern, beispielsweise der Zugang zu Bildung und Know-how, zu Kapital und Kredit als Voraus­setzungen des freien Unter­nehmer­tums für jedermann. Letztere Funktion erfüllen ja Banken nicht ohne weiteres: Kredit erhält im Regelfall nur, wer schon Kapital hat. Deshalb sind so genannte Mikrokredite heute als bedeutsames entwicklungspolitisches Instrument anerkannt (2005 ist UNO-Jahr des Mikrokredits). Die Schweiz weist mit ihren Genossenschafts-, Regional- und (von den Liberalen gegründeten!) Kantonalbanken entsprechende Traditionen auf, an deren verblasstem bürgeremanzipatorischen Sinn sich durchaus wieder anknüpfen liesse. Auch Informations-, Anhörungs- und Mitspracherechte angestellter Arbeitnehmer lassen sich in dieser Perspektive als bürgerliberales Anliegen verstehen. Dasselbe gilt für ein Recht auf Erwerbsarbeit, auch wenn der Staat allein ein solches nicht einlösen kann.

Während die wirtschaftlichen Betätigungsrechte der Gewähr­leistung des Status vollwertiger BürgerInnen in der Marktwirtschaft dienen, zielt eine zweite Dimension von Wirtschafts­bürgerrechten auf faire Chancen der partiellen Emanzipation aller BürgerInnen aus dem Zwang, sich um fast jeden Preis im marktwirt­schaftlichen Wettbewerb als „Unternehmer“ ihrer eigenen Arbeitskraft behaupten zu müssen. Das ist kein Gegensatz: Das doppelte Ziel der Integration in das Erwerbsleben einerseits und der Emanzipation aus dem marktwirt­schaftlichen Zwangszusammenhang entspricht vielmehr der ganz normalen Balance zwischen Autonomie (im Sinne einer unantastbaren Privatsphäre) und Sozialintegration (im Sinne der vollwertigen gesellschaftlichen Partizipation), die ein freies und erfülltes Leben auszeichnet. Wir haben nur noch nicht ganz begriffen, dass dies auch die Voraussetzung für ein real freies Wirtschaftsleben ist.

Die wirtschaftlichen Betätigungsrechte bedürfen um dieser Balance willen der Ergänzung um soziale Schutz- und Teilhaberechte, jetzt verstanden als Rechte, welche die Menschen ein Stück weit aus der gnadenlosen Abhängigkeit von ihrem Selbstbehauptungs­erfolg am Markt befreien. Sie gewähren denjenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht voll in den Markt integrieren können, eine zumutbare, nicht demüti­gen­de Existenzform ausserhalb des (heute noch) als normal geltenden Erwerbs­lebens. „Nicht demütigend“ heisst hier, dass ihnen die Stigmatisierung als Versager und „Sozialfälle“ erspart wird. Und das geht letztlich nur, wenn sie nicht eine Spezial­behandlung als gesellschaft­liche Problemgruppe erfahren, sondern ein allgemeines, ganz normales Bürgerrecht in Anspruch nehmen können, ohne dafür eine spezielle Berechtigung oder gar Bedürftigkeit nachweisen zu müssen. Der universalisti­sche Charakter sozialer Bürgerrechte – so, wie wir ihn in der Schweiz von der guten alten AHV als einer (nicht nur Erwerbstätigen-, sondern) „Bürgerversicherung“ kennen – ist also in emanzipatorischer Absicht auf reale Bürgerfreiheit wesentlich.

Das exemplarische Konzept der AHV als einer Basisabsicherung der realen Bürgerfreiheit aller gilt es heute diesseits der Altersvorsorge weiterzudenken: Falls der Arbeitsmarkt die Aufgabe der sozialen Integration, d.h. des Einbezugs aller Bürger in den volkswirtschaftlichen Produktions- und Konsumtions­prozess, nicht mehr leistet und sich die soziale Schere immer extremer öffnet, werden wir in Zukunft das an sich reichliche Sozialprodukt teilweise nach neuen gesellschafts­politi­schen Prinzipien unter den Bürgern verteilen müssen – um ihrer realen Freiheit willen. In längerfristiger Perspektive läuft das möglicherweise auf das Konzept eines unbedingten Grundeinkommens für alle erwachsenen Bürger (plus z.B. 50% davon für alle Kinder) hinaus, wie es der belgische Sozialphilosoph Philippe Van Parijs in seinem inspi­rierenden Buch Real Freedom for All – What (if anything) can justify capitalism? als Ausdruck eines zu Ende gedachten Bürgerliberalismus dargelegt hat. Solche Zukunfts­entwürfe zeigen zumindest auf, wie viel sozio­ökono­mischer Fortschritt in unserer so sehr auf Produktivitätssteigerung und Wirtschaftswachstum versessenen, aber in Bezug auf den lebensprakti­schen Sinn des Ganzen orientierungslos gewordenen spät­indus­tri­ellen Gesellschaft noch möglich ist.

Zu begreifen gilt es dabei zuerst einmal, dass die heutigen sozialen Probleme kaum mehr mit den herkömmlichen wirtschafts­politischen Rezepten, sondern nur mehr mit neuen gesellschaftspolitischen Ansätzen zu lösen sind. Denn unser Hauptproblem ist nicht mangelnde Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, sondern ganz im Gegenteil der unzureichende Umgang mit den gesellschaftlichen Konsequenzen einer hochproduktiven Volkswirtschaft. Erst mit diesem umfassenderen Zugang erhält bürgerliche Politik die Chance, wieder zu einer fortschrittlichen Kraft in Richtung einer voll entfalteten Bürgergesellschaft zu werden. Natürlich kommt auch eine bürgeremanzipatorische Gesellschaftspolitik an den marktwirtschaftlichen Sachzwängen nicht vorbei; nur überhöht sie diese nicht gleich zu Denk­zwängen. Auch im Zeitalter der Globalisierung der Märkte sind nationale Spielräume vorhanden, wie etwa die skandinavischen Länder belegen. Die „bürgerlichen“ Parteien der Schweiz sollten die aktuellen sozioökonomischen Herausforderungen als bürgergesellschaftliche Gestaltungsaufgabe wahrnehmen und damit an ihre eigene republikanisch-liberale Tradition anknüpfen.

 

Autorenhinweis:

Peter Ulrich, Dr. rer. pol. (1948) ist seit 1987 Ordinarius für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen und Leiter des dortigen Instituts für Wirtschaftsethik. Jüngste Buchveröffentlichung: „Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung“, Freiburg i.B.: Herder Spektrum Taschenbuch 2005.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 23-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Dr. Klaus Armingeon, Politikwissenschafter, Universität Bern; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Beatrix Mesmer, Historikerin, Universität Bern; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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