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Den Zeitzwang durch Zeitfreiheit ersetzen

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Von Kontrapunkt* vom 9. Juli 2010

Zeit ist Geld. Aber nicht nur. Zeit ist Freiheit – oder könnte sie sein. Unter heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsbedingungen ist Zeit vor allem Zwang. Dies gilt nicht nur für den Arbeitsdruck, sondern auch im Familienleben. Viele heutige Familien sind aus äusseren Gründen so organisiert, dass die männliche Vormachtstellung weitgehend über Zeitzwänge verfestigt wird. Eine eigentliche Zeitpolitik sollte Zeitzwang durch Zeitfreiheit ersetzen.

Die Vorherrschaft der „Normalfamilie“ ist längst vorbei, doch unser Bild vom Familienleben ist nach wie vor stark vom traditionellen Ideal geprägt. Was uns als Normalfamilie erscheint, war nie so weitgehend realisiert wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts: ein Vater als Geldverdiener, eine Mutter als tüchtige Haushälterin und Erzieherin, die dem in der spannungsreichen Welt ausserhalb der Familie beschäftigten Pater familias intern den Rücken freihält, und die darin, wie er in seinem Bereich, ihre Erfüllung findet. Die Sozialgeschichte der Familie zeigt, dass dieses „bürgerliche“ (nicht etwa agrarische) Familienmodell sich besonders im 19. Jahrhundert in Europa verbreitet hat, zunehmend auch ins Funktionieren der grossen Institutionen integriert wurde, die damals aufgebaut wurden (Schule, industrielle Arbeitswelt, Recht – besonders Arbeitsrecht, aber auch Verfassung, Zivilrecht u.a.), und im 20. Jahrhundert zur gesamtgesellschaftlichen Idealvorstellung aufgestiegen ist. Es wurde für Männer zum Anzeichen erfolgreicher Statuserreichung, sich eine Frau leisten zu können, die sich völlig fürs Familienleben einsetzt und den ausserfamilialen, öffentlichen Raum meidet. Soweit dieses Ideal tatsächlich ins praktische Leben umgesetzt werden konnte, war es deshalb nicht nur auf der Trennung der männlichen und weiblichen Tätigkeitsbereiche aufgebaut, sondern gleichzeitig auch auf der finanziellen und sozialen Abhängigkeit der Frau. Auch in den meisten Zwischenlösungen, bei denen die Frau ihre Berufstätigkeit nicht völlig aufgibt, sondern „nur“ reduziert, bleibt dank der minderen Stellung der Teilzeitarbeit und der direkten oder indirekten Lohndiskriminierung die männliche Vormachtstellung gesichert.

Inzwischen hat sich jedoch vieles geändert. Frauen verzichten weniger leicht der eigenen Familie zuliebe auf ihre Autonomie, Familien sind teuer geworden und brauchen häufig zwei Einkommen, um finanziell durchzukommen, die Sicherheit der männlichen Erwerbstätigkeit wurde durch aufeinanderfolgende Rezessionen, globalisierungsbedingte Arbeitsplatzexporte und renditegetriebene Rationalisierungsmassnahmen immer löchriger. Hinzu kommt eine stetig zunehmende Individualisierung der Lebensbedingungen, in deren Verlauf auch Familien immer stärker auf sich selbst und ihre eigenen Ressourcen angewiesen sind, und eine Verkürzung der Lebensdauer, die fürs Kinderhaben in Frage kommt, weil vor allem jene Frauen und Männer, die aufgrund ihrer Qualifikationen auf berufliche Verbesserung hoffen können, die Elternschaft zeitlich hinausschieben und so ihrer biologischen Barriere immer näher kommen. Auch entsprechen längst nicht mehr alle Lebensgemeinschaften dem klassischen Bild der Familie.

Die längerfristig zunehmenden Scheidungsraten und abnehmenden Kinderzahlen – die zur demographischen „Überalterung“ beitragen – und ebenso die zunehmenden Anzeichen problematischer Bedingungen für das Aufwachsen Jugendlicher (zunehmende Aggressivität und Gewalt) finden im Rahmen dieser Veränderungen statt und müssen in ihrem Licht betrachtet werden.

Die Schweiz steht mit dieser Entwicklung nicht allein da, sondern teilt sie mit vielen Ländern, vor allem in Europa. Deshalb sind entsprechende Analysen in anderen europäischen Ländern auch für die Schweiz von Belang, etwa der siebte deutsche Familienbericht, ausgearbeitet von einer hochkarätigen Expertenkommission im Auftrag der Bundesregierung. Gerade in Bezug auf die ungenügende Ausstattung mit familienunterstützenden Einrichtungen ist die Schweiz ähnlich gelagert wie die Bundesrepublik, wenn auch noch knapper.

Der Bericht kommt zu zwei wesentlichen Schlüssen: Erstens zieht das Familienleben bei den Anpassungszwängen, die die gegenwärtigen Entwicklungen auf die praktische Lebensführung der Menschen ausüben, immer deutlicher den Kürzeren.  Die meisten Familien können diesem Druck nicht aus eigener Kraft und isoliert widerstehen, sondern müssen sich anpassen.

Zweitens kann die Situation für Familien dann verbessert werden, wenn unterstützende Massnahmen an spezifischen Hebelpunkten angreifen. Neben gezielter finanzieller Unterstützung, um Berufsunterbrechungen beider Elternteile und Entlastung von Familienaufgaben wirtschaftlich tragen zu können, und neben Entlastungsinstitutionen wie Krippen und Ganztagesschulen, deren ausreichende Benützung nicht von ihrer Kaufkraft, sprich vom beruflichen Familieneinkommen, abhängt, brauchen Familien – aber allgemeiner die meisten Zeitgenossen – Veränderungen der institutionellen Funktionsweisen und besonders Rhythmen, die in Ländern wie Deutschland oder Italien heute unter dem Stichwort der Zeitpolitik zusammengefasst werden. Dieses Thema wurde in der Schweiz bisher noch kaum diskutiert.

Die verfügbare Zeit ist eine unvermehrbare Ressource, die ein Individuum oder eine Familie nur selten für mehrere Zwecke verwenden kann. Daraus ergibt sich namentlich das Nullsummenspiel zwischen Berufs- und Familienzeit. Es hängt von einer komplexen Reihe sozialer Regelungen ab, wie Stundenplänen von Schulen, Öffnungszeiten von Geschäften, Ämtern und öffentlichen Diensten, Arbeitszeitregelungen (Dominanz des vollgepackten Normalarbeitstags ohne vom Arbeitnehmer wählbare Flexibilität) und anderem mehr. Die heute vorwiegende Situation ist, aus der Perspektive von Familien gesehen, stark auf dem Vorhandensein einer erwachsenen Person aufgebaut, die zeitlich dafür verfügbar ist, eine Reihe von Dienstleistungen für die Familie zu erbringen, die zwingend während der üblichen Arbeitszeit Erwerbstätiger stattfinden müssen, was Vollzeitberufstätigkeit dieser Person weitgehend ausschliesst; in den meisten Paaren ist dies, ohne Überraschung, die Frau. Diese Situation resultiert nicht aus einer darauf ausgerichteten, reflektierten Zeitpolitik – eine solche gibt es noch kaum in unserem Land – sondern aus dem Zusammenwirken verschiedener institutioneller Zeitregelungen, die auf dem eingangs skizzierten veralteten Familienbild aufbauen und es damit verstärken.

Eine nicht nur familien-, sondern allgemeiner bürgergerechte Zeitpolitik für die heutige Situation muss die angedeutete Komplexität ineinandergreifender Regelungen ernst nehmen und versuchen – vor allem auf lokaler, aber auch auf übergeordneter Ebene (z.B. familienfreundliche Flexibilitätsformen in Gesamtarbeitsverträgen, allgemeine Reduktion der Arbeitszeit und besonders „asozialer“ Arbeitszeiten wie Nachtarbeit) – Verhältnisse auszuhandeln, die es Familien erleichtern, nicht auf Kosten einzelner – und dann meist schwächerer – Mitglieder (Kinder, Mutter) zu funktionieren.

Schlechte Erfahrungen haben bisher zu einer politischen Tabuisierung der Arbeitszeitflexibilisierung geführt, obwohl die Arbeitswelt der wichtigste Taktgeber der sozialen Rhythmen ist. Die schlechten Erfahrungen kommen daher, dass bisherige Flexibilisierungen einseitig auf Betriebsinteressen ausgerichtet waren und Arbeitnehmerinteressen weitgehend vernachlässigten. Das muss nicht so bleiben. Erfolgreiche Beispiele von Zeitpolitik auf kommunaler Ebene gibt es bereits in Deutschland (Pilotprojekte in Bremen und Hanau mit der Einsetzung von Zeitbeauftragten, Koordinationsbüros usw.), in Italien (Gesetz von 8. März 2000), in nordischen Ländern wie Holland, Dänemark oder Schweden. Konkret geht es etwa darum, die Öffnungszeiten verschiedener Dienste so zu koordinieren und zu verlegen, dass beispielsweise Arztpraxen im Turnus an einem Abend oder am Samstag offen sind, Handwerksbetriebe Reparaturen auch zu solchen Zeiten durchführen, angekommene Pakete zu solchen Zeiten und an gut erreichbaren Orten abgeholt werden können, dass die verschiedenen öffentlichen Dienste auf ihre Bürger- und besonders Familienfreundlichkeit hin überprüft und allenfalls umorganisiert werden, dass Schulzeiten Eltern nicht vor oft unüberwindliche Koordinationsprobleme stellen, dass Zeitbrücken für berufstätige Eltern durch dafür eigens qualifizierte SeniorInnen geschaffen werden, für deren Vermittlung eine Kontaktstelle eingerichtet wird, dass familienfreundliche Benützungsmöglichkeiten im Einzelhandel geschaffen werden (Eltern-Kind-Kasse, Bringservice, Wickelraum, betreute Kinderecke), dass ein Netz aktiver SeniorInnen oder junger Menschen punktuell, z.B. mal an einem Wochenende, Eltern oder Pflegende entlasten (Zeitinseln) oder dass Vereine und andere Freizeitanbieter spezifische Angebote für Väter mit Kindern entwickeln.

Es kann nicht darum gehen, alle standardisierten Zeiten variabel zu machen, sondern neue, insgesamt sicher flexiblere Zeitregimes zu finden, die der Vielfalt praktischer Lebenssituationen und legitimer Interessen ausgeglichener Rechnung tragen. Es ist an der Zeit, auch in der Schweiz Zeit als beschränkte Ressource zu behandeln, deren Verwendung einer gesellschaftlichen und nicht nur individuellen Regelung bedarf, damit Zeitzwänge durch Zeitfreiheit ersetzt werden.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 26-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Dr. Klaus Armingeon, Politikwissenschafter, Universität Bern; Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Gy; Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Beat Sitter-Liver, Praktische Philosophie, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., Universität Zürich.

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