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Weniger Staat? – Mehr Verantwortung! Zur Kontroverse um die marktwirtschaftliche Erfüllung öffentlicher Aufgaben

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Von Kontrapunkt* vom 28. November 2005

Die öffentliche Auseinandersetzung um die Privatisierung staatlicher Dienste beruht auf Grundlagen, die zu wenig reflektiert werden. Hinter dem Argument der besseren ökonomischen Effizienz privatwirtschaftlicher Dienstleitung steht die Erwartung, weniger Staat bedeute mehr Freiheit. Dabei wird implizit vorausgesetzt, dass das Private der Ort der Handlungsfreiheit sei, während der Staat den Ort des Zwangs darstelle. Diese Gleichung ist ein blinder Fleck in unserem individualistischen Selbstverständnis.

Wir unterscheiden meist streng zwischen einem privaten Lebensbereich der persönlichen Entfaltung und einem öffentlichen Raum der staatlichen Ordnung.

Im privaten Bereich können wir tun und lassen, was wir wollen. Dem sagen wir Freiheit, Autonomie oder Selbstverwirklichung. Den öffentlichen Bereich verstehen wir als fremde Ordnung, als System, das uns von den andern auferlegt wird. Recht, Staat und Wirtschaft setzen hier Regeln durch, vor denen wir uns nach Möglichkeit ins Private zurückziehen, um dort unser Glück zu verwirklichen.

Zu unserem Rückzug ins Private gehört, dass wir vieles, was wir tun und was uns geschieht, primär nach dem Nutzen beurteilen, den es für uns selbst oder für die Gruppe hat, mit der wir uns identifizieren. Der Rückzug ins private Glücksstreben ist oft verbunden mit dem Verlust der Dimension der sozialen Gerechtigkeit.

Warum ist das so? Die Frage nach dem eigenen Nutzen drängt sich uns unwillkürlich auf. Die Frage nach dem Schaden der andern verlangt mehr Reflexion. Wir müssen den Rollentausch machen, d.h. uns in die Lage des andern versetzen und dann die erste Frage nach dem Nutzen vom Standpunkt des andern her nochmals stellen. Das ist mühsam und führt erst noch zu einer Einbusse in der persönlichen Nutzenmaximierung. Deshalb üben wir Gerechtigkeit nur, wenn ein Bewusstsein der Solidarität oder eine staatliche Regel uns zur Verantwortung für die andern verpflichten.

Das Handeln nach dem vermeintlichen Eigennutz verfehlt aber den Sinn der Freiheit. Es nimmt ihr die Dimension der Verantwortung, die untrennbar zu ihr gehört. Freiheit ist uns nicht einfach von der Natur gegeben, sondern ist zum wesentlichen Teil sozial vereinbart und damit ein Recht und eine Aufgabe, die uns von der Gemeinschaft verliehen werden. Frei können wir nur sein, weil die andern unsere Persönlichkeit achten und weil die öffentliche Ordnung uns in unserer Freiheit schützt. Auch die private Freiheit ist damit öffentlich konstituiert.

Daher ist die Hoffnung, mit der Flucht in den privaten Bereich die Freiheit verwirklichen zu können, ein grundsätzlicher Irrtum. Die private Freiheit, die wir dabei finden könnten, wäre negative Freiheit, reine Abwehr von äusserem Zwang. Diese Negativität nähme der Freiheit ihren Sinn. Denn dieser wäre nur in einer positiven Freiheit zu finden, der Freiheit zu und für etwas, das wir für sinnvoll halten, das unser Menschsein im privaten wie im öffentlichen Raum erfüllt – und wofür wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Private und öffentliche Freiheit lassen sich nicht trennen. Wir können im Privaten nur frei sein, wenn wir im Öffentlichen das Recht haben, die Macht, die andere über uns beanspruchen, zu kontrollieren. Es braucht die öffentliche Verantwortlichkeit für die private Freiheit. Auf Dauer gibt es keine Freiheit ohne verantwortliche Partizipation an der Bestimmung der öffentlichen Ordnung. Umgekehrt ist die kollektive Freiheit darauf angewiesen, dass Private ihre Freiheit hüten wollen. Denn ohne Wachsamkeit wird Verantwortlichkeit nicht geltend gemacht.

Dabei ist entscheidend, dass das Öffentliche nicht mit dem Staat gleichgesetzt wird, sondern alles Handeln erfasst, das sich nicht auf den persönlichen Bereich beschränkt. Alles gesellschaftliche und wirtschaftliche Handeln ist öffentlich und damit rechenschaftspflichtig. Dies anzuerkennen ist zunächst ethische Aufgabe jedes Einzelnen. Weil die Haltung der Verantwortlichkeit allerdings anspruchsvoller ist als jene des Eigennutzens, genügt es nicht, an die individuelle Tugend der Solidarität zu appellieren. Verantwortung muss organisiert werden. Der Staat ist die wichtigste Organisation der öffentlichen Verantwortung. Daher brauchen Gesellschaft und Wirtschaft den Staat, damit sie ihre Verantwortung wahrnehmen.

Was bedeuten diese Überlegungen für die Privatisierungsfrage? Die Übertragung von staatlichen Aufgaben an Private bedeutet zwar mehr Freiheit, aber zugleich auch mehr Verantwortung. Privatisierung heisst nicht Ausklammerung aus dem Öffentlichen. Im Gegenteil: Es heisst Übernahme öffentlicher Verantwortung durch Private. So paradox es klingen mag: Mit der „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben werden die Privaten, welche diese Aufgaben übernehmen, „verstaatlicht“! Sie werden Träger öffentlicher Macht und deshalb rechenschaftspflichtig.

Beispiele dafür gibt es viele. Überall dort, wo eine öffentliche Aufgabe privat erbracht wird, braucht es eine Re-Regulierung zur Wahrung öffentlicher Interessen (das reicht von der Krankenversicherung über die berufliche Vorsorge bis zur sog. Selbstregulierung im Geldwäschereibereich). Selbst klassische Bereiche der Marktwirtschaft wie der Lebensmittelhandel müssen staatlich reguliert und kontrolliert werden, damit das öffentliche Gut der Gesundheit geschützt werden kann. Wo immer der Markt ein Gut herstellt, an welchem ein hohes öffentliches Interesse besteht, muss der Staat dafür sorgen, dass die Privaten, welche die Verantwortung für dieses Gut tragen, diese auch wahrnehmen.

Dass Private trotz dem Druck des Marktes aus einem Bewusstsein der Solidarität heraus Verantwortung für Dritte übernehmen, ist zwar möglich und erstrebenswert. Dazu braucht es aber eine Kultur der Solidarität und diese braucht die Stütze staatlicher Regelung, damit der Wettbewerb solidarisches Handeln nicht bestraft. Damit die privaten Träger öffentlicher Aufgaben zur Übernahme von Verantwortung verpflichtet werden können, muss der Prozess der Privatisierung somit „verfasst“ werden. Er braucht eine Ordnung, welche alle Beteiligten verpflichtet, neben der Nutzenfrage auch jene der Gerechtigkeit zu stellen und Verantwortung zu übernehmen. Eine Verfassung des Privatisierungprozesses wird von folgenden Grundsätzen auszugehen haben: 1. Der Markt darf nicht selbst entscheiden, welche Leistungen an die Öffentlichkeit ihm zu unterstellen sind. 2. Die Effizienz darf nicht den einzigen Massstab der Privatisierung bilden. 3. Markt und Effizienz sind in den Dienst der öffentlichen Verantwortung zu stellen. 4. Die Entscheidung über den Anteil von Markt und Effizienz bei der Erfüllung öffentlicher Verantwortung ist demokratisch zu treffen.

Brisant an diesen Einsichten ist nicht, dass Privatisierungsentscheide eine gesetzliche Grundlage brauchen. Das ist allgemein anerkannt. Weniger akzeptiert ist schon die Werthierarchie zwischen öffentlicher Verantwortung und Markt, wird doch oft von der Vermutung zugunsten des Marktes ausgegangen. Besonders heikel ist aber der Gedanke, die privaten Organisationen, welche Aufgaben im öffentlichen Interesse erfüllen, so zu verfassen, dass sie geeignet sind, öffentliche Verantwortung zu tragen. Denkbar wäre z.B. dass in jedem Konzern oder Verband ein internes Kontrollorgan eine öffentliche Beratung von Fragen des allgemeinen Interesses auslösen könnte.

Man kann solche Vorschläge gewiss kritisieren. Aber solange keine Lösung des Problems getroffen wird, leidet unsere öffentliche Ordnung unter einem Verfassungsmangel: Sie entlässt Aufgaben von öffentlichem Interesse in eine Freiheit, die nicht mit Verantwortung gepaart ist.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:

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